Sie litt schwer darunter und wollte sich befreien. Aber wiewohl
sie starker Empfindungen fähig war, so war sie doch keine
starke Natur; ihr fehlte die Nachhaltigkeit, und alle guten Anwandlungen
gingen wieder vorüber. So trieb sie denn weiter, heute, weil
sie's nicht ändern konnte, morgen, weil sie's nicht ändern
wollte. Das Verbotene, das Geheimnisvolle hatte seine Macht über
sie.
Was mit diesen wenigen Sätzen angedeutet ist, heißt nichts anderes, als dass
Effi sich nach der Schlittenfahrt mit Crampas verabredet hat und sich nun
regelmäßig heimlich mit ihm trifft - in einem Haus in den Dünen, wie sehr viel
später (
Kap.27, Abs.15) erschließbar
wird. Das Versteckte dieser Andeutungen
ließ bei Erscheinen des Romans viele rätseln, ob überhaupt etwas und wieviel in dem
Verhältnis mit Crampas geschehen sei. Joseph Victor Widmann in seiner Rezension
im Berner BUND vom 17. November 1895 schreibt:
Dagegen kommt die Mitteilung, daß Effie wirklich den
Verführungskünsten des Majors unterlegen ist, dem Leser
doch etwas unerwartet; die Schlittenfahrt genügt nicht ganz,
ihren Fall glaubhaft zu machen. Es sind so viele gesunde
Züge in dieser von allen Lesern und Leserinnen geliebten
Effie, daß wir bei der ersten Andeutung des Dichters, der
Schritt vom Wege sei gethan worden, ganz bestürzt sind. Ich
kann mir freilich vorstellen, daß es dem auf seinem schönen,
freien Astronomenturm des Alters wohnenden Dichter nicht
mehr ums Herz war, den Blick, der nach strahlenden Sternen
ewiger Güte und Weisheit ausschaut, lange in die
Niederung der Leidenschaften zu senken, in jene Gegend, wo
Malarianebel den Sumpf andeuten. Doch scheint mir,
Effies Fall komme zu plötzlich, stehe zu unerwartet als
vollendete Thatsache da.
In einer Rezension in "Westermanns Illustrierten Deutschen Monatsheften"
(40. Jahrgang, Bd. 80, September 1896) wird sogar angenommen, dass Effi nur
"durch eine Flirtation, die vor der Ehe gar nicht gefährlich sein würde,
ein Duell veranlaßt" habe, wird also der wahre Sachverhalt überhaupt nicht
erkannt. Friedrich Spielhagen wiederum in seinem Aufsatz "Die Wahlverwandtschaften
und Effi Biest" breitet die Andeutungen detailliert vor sich aus, um sich der
Richtigkeit seiner Vermutung zu versichern:
Vielleicht, daß mancher Leser wünscht, der Dichter wäre in
der Darstellung der Liebesaffaire ausführlicher, weniger
diskret gewesen; und sich beklagt, er wisse jetzt nicht, wie
weit sich denn eigentlich die Unglückliche verschuldet. ... Und wer
sich aus ihrem nachträglichen Seelenzustand, ihrer Angst vor Entdeckung, ihrem
Ekel bei Erinnerung des Geschehen die Höhe ihrer Schuld noch immer nicht
herausrechnen kann, dem wird sie klar werden bei dem Benehmen des Gatten
nach der Entdeckung. Um einer bloßen Flirtation willen - besonders, wenn
sie sechs Jahre zurückliegt und die Betreffende seitdem auch nicht den
kleinsten Schritt vom Wege gewichen ist - fühlt auch ein so korrekter Mann,
wie Innstetten, sich nicht so beleidigt, daß er den ehemaligen Rivalen fordern
und totschießen muß.