Minuten vergingen. Als Effi sich wieder erholt hatte, setzte sie
sich auf einen am Fenster stehenden Stuhl und sah auf die stille
Straße hinaus. Wenn da doch Lärm und Streit gewesen
wäre; aber nur der Sonnenschein lag auf dem chaussierten
Wege und dazwischen die Schatten, die das Gitter und die Bäume
warfen. Das Gefühl des Alleinseins in der Welt überkam
sie mit seiner ganzen Schwere. Vor einer Stunde noch eine glückliche
Frau, Liebling aller, die sie kannten, und nun ausgestoßen.
Sie hatte nur erst den Anfang des Briefes gelesen, aber genug,
um ihre Lage klar vor Augen zu haben. Wohin? Sie hatte keine Antwort
darauf, und doch war sie voll tiefer Sehnsucht, aus dem herauszukommen,
was sie hier umgab, also fort von dieser Geheimrätin, der das
alles bloß ein »interessanter Fall« war, und deren
Teilnahme, wenn etwas davon existierte, sicher an das Maß
ihrer Neugier nicht heran reichte.
»Wohin?«
Auf dem Tische vor ihr lag der Brief; aber ihr fehlte der Mut,
weiter zu lesen. Endlich sagte sie: »Wovor bange ich mich noch?
Was kann noch gesagt werden, das ich mir nicht schon selber sagte?
Der, um den all' dies kam, ist tot, eine Rückkehr in mein
Haus giebt es nicht, in ein paar Wochen wird die Scheidung ausgesprochen
sein, und das Kind wird man dem Vater lassen. Natürlich.
Ich bin schuldig, und eine Schuldige kann ihr Kind nicht erziehen.
Und wovon auch? Mich selbst werde ich wohl durchbringen. Ich will
sehen, was die Mama darüber schreibt, wie sie sich mein Leben
denkt.«
Und unter diesen Worten nahm sie den Brief wieder, um auch den
Schluß zu lesen.
»... Und nun Deine Zukunft, meine liebe Effi. Du wirst Dich
auf Dich selbst stellen müssen und darfst dabei, so weit äußere
Mittel mitsprechen, unserer Unterstützung sicher sein. Du
wirst am besten in Berlin leben (in einer großen Stadt verthut
sich dergleichen am besten) und wirst da zu den vielen gehören,
die sich um freie Luft und lichte Sonne gebracht haben. Du wirst
einsam leben, und wenn Du das nicht willst, wahrscheinlich aus
Deiner Sphäre herabsteigen müssen. Die Welt, in der
Du gelebt hast, wird Dir verschlossen sein. Und was das Traurigste
für uns und für Dich ist (auch für Dich, wie wir
Dich zu kennen vermeinen) - auch das elterliche Haus wird Dir
verschlossen sein, wir können Dir keinen stillen Platz in
Hohen-Cremmen anbieten, keine Zuflucht in unserem Hause, denn
es hieße das, dies Haus von aller Welt abschließen,
und das zu thun, sind wir entschieden nicht geneigt. Nicht weil
wir zu sehr an der Welt hingen und ein Abschiednehmen von dem,
was sich 'Gesellschaft' nennt, uns als etwas unbedingt Unerträgliches
erschiene; nein, nicht deshalb, sondern einfach weil wir
Farbe bekennen, und vor aller Welt, ich kann Dir das Wort nicht
ersparen, unsere Verurteilung Deines Thuns, des Thuns unseres einzigen
und von uns so sehr geliebten Kindes aussprechen wollen ...«
Effi konnte nicht weiter lesen; ihre Augen füllten sich mit
Thränen, und nachdem sie vergeblich dagegen angekämpft
hatte, brach sie zuletzt in ein heftiges Schluchzen und Weinen
aus, darin sich ihr Herz erleichterte.
Nach einer halben Stunde klopfte es, und auf Effi's »Herein«
erschien die Geheimrätin.
»Darf ich eintreten?«
»Gewiß, liebe Geheimrätin,« sagte Effi, die
jetzt, leicht zugedeckt und die Hände gefaltet, auf dem Sofa
lag. »Ich bin erschöpft und habe mich hier eingerichtet,
so gut es ging. Darf ich Sie bitten, sich einen Stuhl zu nehmen.«
Die Geheimrätin setzte sich so, daß der Tisch, mit
einer Blumenschale darauf, zwischen ihr und Effi war. Effi zeigte
keine Spur von Verlegenheit und änderte nichts in ihrer Haltung,
nicht einmal die gefalteten Hände. Mit einemmale war es
ihr vollkommen gleichgültig, was die Frau dachte; nur fort
wollte sie.
»Sie haben eine traurige Nachricht empfangen, liebe, gnädigste
Frau ...«
»Mehr als traurig,« sagte Effi. »Jedenfalls traurig
genug, um unserem Beisammensein ein rasches Ende zu machen. Ich
muß noch heute fort.«
»Ich möchte nicht zudringlich erscheinen, aber ist es
etwas mit Annie?«
»Nein, nicht mit Annie. Die Nachrichten kamen überhaupt
nicht aus Berlin, es waren Zeilen meiner Mama. Sie hat Sorgen
um mich, und es liegt mir daran, sie zu zerstreuen, oder wenn
ich das nicht kann, wenigstens an Ort und Stelle zu sein.«
»Mir nur zu begreiflich, so sehr ich es beklage, diese letzten
Emser Tage nun ohne Sie verbringen zu sollen. Darf ich Ihnen meine
Dienste zur Verfügung stellen?«
Ehe Effi darauf antworten konnte, trat Afra ein und meldete, daß
man sich eben zum Lunch versammle. Die Herrschaften seien alle
sehr in Aufregung: der Kaiser käme wahrscheinlich auf drei
Wochen, und am Schluß seien große Manöver, und
die Bonner Husaren kämen auch.
Die Zwicker überschlug sofort, ob es sich verlohnen würde,
bis dahin zu bleiben, kam zu einem entschiedenen »Ja«
und ging dann, um Effi's Ausbleiben beim Lunch zu entschuldigen.
Als gleich danach auch Afra gehen wollte, sagte Effi: »Und
dann, Afra, wenn Sie frei sind, kommen Sie wohl noch eine Viertelstunde
zu mir, um mir beim Packen behülflich zu sein. Ich will heute
noch mit dem Sieben-Uhr-Zuge fort.«
»Heute noch? Ach, gnädigste Frau, das ist doch aber
schade. Nun fangen ja die schönen Tage erst an.«
Effi lächelte.
Die Zwicker, die noch allerlei zu hören hoffte, hatte sich
nur mit Mühe bestimmen lassen, der »Frau Baronin«
beim Abschiede nicht das Geleit zu geben. »Auf einem Bahnhofe,« so
hatte Effi versichert, »sei man immer so zerstreut und nur mit
seinem Platz und seinem Gepäck beschäftigt; gerade Personen,
die man lieb habe, von denen nähme man gern vorher Abschied.«
Die Zwicker bestätigte das, trotzdem sie das Vorgeschützte
darin sehr wohl herausfühlte; sie hatte hinter allen Thüren
gestanden und wußte gleich, was echt und unecht war.
Afra begleitete Effi zum Bahnhof und ließ sich fest versprechen,
daß die Frau Baronin im nächsten Sommer wiederkommen
wolle; wer 'mal in Ems gewesen, der komme immer wieder. Ems sei
das schönste, außer Bonn.
Die Zwicker hatte sich mittlerweile zum Briefschreiben niedergesetzt,
nicht an dem etwas wackligen Rokokosekretär im Salon, sondern
draußen auf der Veranda, an demselben Tisch, an dem sie
kaum zehn Stunden zuvor mit Effi das Frühstück genommen
hatte.
Sie freute sich auf den Brief, der einer befreundeten, zur Zeit
in Reichenhall weilenden Berliner Dame zu gute kommen sollte. Beider
Seelen hatten sich längst gefunden und gipfelten in einer
der ganzen Männerwelt geltenden starken Skepsis; sie fanden
die Männer durchweg weit zurückbleibend hinter dem,
was billigerweise gefordert werden könne, die sogenannten
»forschen« am meisten. »Die, die vor Verlegenheit
nicht wissen, wo sie hinsehen sollen, sind, nach einem kurzen
Vorstudium, immer noch die besten, aber die eigentlichen Don Juans
erweisen sich jedesmal als eine Enttäuschung. Wo soll es
am Ende auch herkommen.« Das waren so Weisheitssätze,
die zwischen den zwei Freundinnen ausgetauscht wurden.
Die Zwicker war schon auf dem zweiten Bogen und fuhr in ihrem
mehr als dankbaren Thema, das natürlich »Effi«
hieß, eben wie folgt fort: »Alles in allem war sie
sehr zu leiden, artig, anscheinend offen, ohne jeden Adelsdünkel
(oder doch groß in der Kunst, ihn zu verbergen) und immer
interessiert, wenn man ihr etwas Interessantes erzählte,
wovon ich, wie ich Dir nicht zu versichern brauche, den ausgiebigsten
Gebrauch machte. Nochmals also, reizende junge Frau, fünfundzwanzig
oder nicht viel mehr. Und doch hab' ich dem Frieden nie getraut
und traue ihm auch in diesem Augenblicke noch nicht, ja, jetzt
vielleicht am wenigsten. Die Geschichte heute mit dem Briefe -
da steckt eine wirkliche Geschichte dahinter. Dessen bin ich so
gut wie sicher. Es wäre das erste Mal, daß ich mich
in solcher Sache geirrt hätte. Daß sie mit Vorliebe
von den Berliner Modepredigern sprach und das Maß der Gottseligkeit
jedes einzelnen feststellte, das, und der gelegentliche Gretchenblick,
der jedesmal versicherte, kein Wässerchen trüben zu
können - alle diese Dinge haben mich in meinem Glauben ...
Aber da kommt eben unsere Afra, von der ich Dir, glaub' ich, schon
schrieb, eine hübsche Person, und packt mir ein Zeitungsblatt
auf den Tisch, das ihr, wie sie sagt, unsere Frau Wirtin für
mich gegeben habe; die blau angestrichene Stelle. Nun verzeih,
wenn ich diese Stelle erst lese ...
Nachschrift. Das Zeitungsblatt war interessant genug und kam wie
gerufen. Ich schneide die blau angestrichene Stelle heraus und
lege sie diesen Zeilen bei. Du siehst daraus, daß ich mich
nicht geirrt habe. Wer mag nur der Crampas sein?
Es ist unglaublich - erst selber Zettel und Briefe schreiben und
dann auch noch die des anderen aufbewahren! Wozu giebt es Öfen
und Kamine? So lange wenigstens wie dieser Duellunsinn noch existiert,
darf dergleichen nicht vorkommen; einem kommenden Geschlechte kann
diese Briefschreibepassion (weil dann gefahrlos geworden) vielleicht
freigegeben werden. Aber so weit sind wir noch lange nicht. Übrigens
bin ich voll Mitleid mit der jungen Baronin und finde, eitel wie
man nun 'mal ist, meinen einzigen Trost darin, mich in der Sache
selbst nicht getäuscht zu haben. Und der Fall lag nicht so
ganz gewöhnlich. Ein schwächerer Diagnostiker hätte
sich doch vielleicht hinters Licht führen lassen. Wie immer
