[Sechster Teil]
Sobald er in der Stadt war, trug er seine Uhr zu einem Uhrmacher, der ihm sechs oder sieben Gulden dafür gab ...
Der Verkauf der Uhr (oder ihr Herunterfallen, Stehenbleiben usw.) hat in der Literatur früherer Zeiten immer eine
Bedeutung. Die Taschenuhr war der Inbegriff der Pflichterfüllung, der Umgang mit ihr also ein Zeichen dafür,
wie ernst man seine Pflichten nahm. Hier bedeutet der Verkauf der Uhr natürlich den Verzicht auf eine weitere Lebensplanung.
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Seine Frau aber ... brachte ihm ein großes schwarzes Mailänder Halstuch mit rotem Rande ...
Die Farben rot und schwarz stehen wie bei den Mohnblumen und dem schwarzen Geiger für Liebe und Tod.
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"Ja, und er ist ein reicher Herr, er hat hunderttausend Gulden in der Lotterie gewonnen! ..."
Der Wunsch, durch einen Lotteriegewinn zu Wohlstand zu kommen, ist für Keller zwar grundsätzlich verwerflich, soll
hier aber zeigen, woran es Vrenchen eigentlich mangelt. Sie erträumt sich nicht irgendein Luxusleben, sondern gute
gesellschaftliche Beziehungen. Das Geld sollte ihr nur dazu dienen, freundlich und großzügig sein zu können.
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Bald waren sie auch im freien Felde ... es war ein schöner Sonntagmorgen im September ...
Mit der Monatsangabe endet die Handlung genau zwölf Jahre nach dem Septembermorgen, an dem sie beginnt
(siehe GESTALTUNG zum
1. Teil).
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Denn die Landleute haben so gut ihre ausgesuchten Promenaden und Lustwälder wie die Städter ...
Städter = Wie die Bemerkung über die 'reichen Leute', die Sali um sein Glück beneiden würden (siehe unter
GESTALTUNG zum
5. Teil), zeigt auch diese Stelle an, in welcher Umgebung die Novelle entstanden ist: Keller
wohnte 1855 nur einen Katzensprung von der Berliner Promenade Unter den Linden entfernt und kannte natürlich auch den Tiergarten.
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So genoss Vrenchen alle Wonnen einer Braut, die zur Hochzeit reiset: die wohlwollende Ansprache und Aufmunterung einer
sehr vernünftigen Frau, den Neid einer heiratslustigen bösen Person, welche aus Ärger den Geliebten lobte und bedauerte,
und ein leckeres Mittagsmahl an der Seite eben dieses Geliebten!
Ob es wirklich zum gewöhnlichen Glück einer Braut zählt, sich von einer heiratslustigen bösen Person beneidet zu wissen, dürfte
nicht leicht zu ergründen sein. Für das Welt- und zumal das Frauenbild Kellers ist die Annahme einer solchen Bosheit aber typisch.
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Sie lasen eifrig die Sprüche, und nie ist etwas Gereimtes und Gedrucktes schöner befunden und tiefer empfunden
worden als diese Pfefferkuchensprüche; sie hielten, was sie lasen, in besonderer Absicht auf sich gemacht ...
Die Sprüche wie auch das Pfefferkuchenhaus bezeugen in allem das Ideal der bürgerlichen Liebe und Ehe: das Heiraten
nach Neigung, das eigene Heim, die ewige Treue. Sali und Vrenchen, soll das besagen, geben sich nicht nur für ein anständiges
junges Paar aus, sie fühlen und denken auch so und würden gern ein solches Paar sein, wenn die Umstände es ihnen erlaubten.
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Das Paradiesgärtlein war ein schön gelegenes Wirtshaus ... in welchem aber an solchen Vergnügungstagen nur
das ärmere Volk, die Kinder der ganz kleinen Bauern und Tagelöhner und sogar mancherlei fahrendes Gesinde verkehrte.
Der Name Paradiesgärtlein steht in einem ironischen Kontrast zu dem abgründigen, sittenlosen Treiben dort, hat aber auch
einen Beiklang von Ungezwungenheit und Natürlichkeit.
Erst als der Walzer zu Ende, sahen sie sich um; Vrenchen hatte sein Haus zerdrückt und zerbrochen ...
Mit dem zerdrückten und zerbrochenen Pfefferkuchenhaus ist der bürgerliche Lebenstraum ausgeträumt; es
gibt für Sali und Vrenchen nur noch den Abstieg in das morallose Leben des niedersten Volkes oder den Gang in den Tod.
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Vrenchen aber erwiderte ganz treuherzig und küsste ihn: "Nein, dahin möchte ich nicht gehen, denn da geht es
auch nicht nach meinem Sinne zu ..."
Auch hier werden noch einmal die bürgerlichen Maßstäbe sichtbar gemacht, denen sich die Beiden verpflichtet fühlen, gemeint
als direkte Widerlegung der am Schluss zitierten Zeitungsmeinung, ihr Selbstmord sei 'ein Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung
und Verwilderung der Leidenschaften'.
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"Weißt du noch, wie kalt und nass unsere Hände waren, als wir sie uns zum ersten Mal gaben? Fische fingen
wir damals, jetzt werden wir selber Fische sein ..."
Mit diesem Rückbezug wird der Szene am Fluss eine symbolische Vorbedeutung zugewiesen, die sich allerdings ein bisschen sehr absichtlich
ausnimmt. Denn schon in jener Szene selbst sind die 'kalten Hände' nicht so ganz überzeugend (siehe unter GESTALTUNG
zum
4. Teil).
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... abermals ein Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften.
An dieser Stelle folgte in der Fassung von 1856 noch eine längere Passage über die 'Moral der Geschichte', die den Wortlaut hatte:
Was die Sittlichkeit betrifft, so bezweckt diese Erzählung keineswegs, die Tat zu beschönigen und zu verherrlichen; denn höher
als diese verzweifelte Hingebung wäre jedenfalls ein entsagendes Zusammenraffen und ein stilles Leben voll treuer Mühe und Arbeit
gewesen, und da diese die mächtigsten Zauberer sind in Verbindung mit der Zeit, so hätten sie vielleicht noch alles möglich
gemacht; denn sie verändern mit ihrem unmerklichen Einflusse die Dinge, vernichten die Vorurteile, stellen die Ehre her und erneuern
das Gewissen, so daß die wahre Treue nie ohne Hoffnung ist.

Was aber die Verwilderung der Leidenschaften angeht, so betrachten
wir diesen und ähnliche Vorfälle, welche alle Tage im niedern Volke vorkommen, nur als ein weiteres Zeugnis, daß dieses
allein es ist, welches die Flamme der kräftigen Empfindung und Leidenschaft nährt und wenigstens die Fähigkeit des Sterbens
für eine Herzenssache aufbewahrt, daß sie zum Troste der Romanzendichter nicht aus der Welt verschwindet. Das gleichgültige
Eingehen und Lösen von 'Verhältnissen' unter den gebildeten Ständen von heute, das selbstsüchtige frivole Spiel mit
denselben, die große Leichtigkeit, mit welcher heutzutage junge Leutchen zu trennen und auseinander zu bringen sind, sind zehnmal
widerwärtiger als jene Unglücksfälle, welche jetzt die Protokolle der Polizeibehörden füllen und ehedem die
Schreibtafeln der Balladensänger füllten. Wir sehen alle Tage etwa einen wohlgekleideten Herrn, der seine Frau oder Braut mitten
auf der Straße plötzlich stehen läßt und auf die Seite springt, weil irgend einem Schlächter eine alte Kuh entsprungen
ist und bedrohlich dahergerannt kommt. Höchstens aus der Ferne, hinter einer Haustür hervor, schwingt er sein Stöckchen
und macht: Bscht! Bscht! Solche Leute werden sich allerdings nicht aus Eigensinn und Leidenschaft ums Leben bringen, wenn man sie trennen will.
Ebensowenig diejenigen, welche in allen Zeitungen ihre 'stattgefundene' Verlobung anzeigen und vierzehn Tage darauf einen Inseratenkrieg
führen, wo jeder Part sich rühmt und behauptet, das 'Verhältnis' zuerst abgebrochen zu haben.
Keller widerspricht hier also einerseits der Annahme, dass das Paar sich zwangsläufig habe das Leben nehmen müssen, und
er greift andererseits die Leichtfertigkeit an, mit der in den 'gebildeten Ständen' Liebesverhältnisse geknüpft und wieder
gelöst würden. Für den 'Inseratenkrieg' um gescheiterte Verlobungen hatte er wahrscheinlich Beispiele aus Berliner Zeitungen
vor Augen. Schon kurz nach dem Erscheinen der Novelle erfuhr er allerdings, dass diese Moralpredigt 'allerorts Anstoß erregte'. In einem
Brief an Ludmilla Assing vom 21. April 1856 versprach er daher
dieselbe wegzulassen, wenn je wieder ein Abdruck nötig würde. Eigentlich war es mehr eine Herausforderung von
mir, damit vielleicht irgend eine Hochgebildete empört und gereizt werden möchte, mir selbst das Gegenteil zu beweisen.
Als Paul Heyse 1870 anfragte, ob er die Novelle in einen "Deutschen Novellenschatz" aufnehmen dürfte, kam Keller deshalb
sogleich auf die beabsichtigte Kürzung zu sprechen:
Die Erzählung leidet nämlich an einer schnöden schnarrenden Schlußbetrachtung. Glücklicher Weise ist dieselbe aus
mehreren Schwanzgelenken zusammengesetzt, welche man beliebig abschneiden kann. Ich bitte Sie also, ... entweder nach dem Satze "abermals ein
Zeichen der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften" den Schwanz zu kappen, was sich malitiös und
ironisch ausnehmen würde; oder den folgenden Absatz noch aufzunehmen und nach den Worten: "so daß die wahre Treue nie
ohne Hoffnung ist" abzuschneiden, was dann mehr tugendhaft und wohlmeinend klänge. Sollten Sie wider Erwarten finden, daß die
übrige Schlußnergelei doch stehen bleiben sollte (es war eine verjährte Stimmungssache), so können Sie's ganz stehen lassen; ich
glaube aber, es ist ein entschieden abfallender Mißklang.

Heyse kürzte daraufhin noch radikaler und schloss mit dem Satz von den beiden Gestalten, die fest umschlungen in den Fluten verschwinden.
Das war Keller dann allerdings doch der Sentimentalität zu viel, und so nahm er bei der Umarbeitung für die zweite Auflage den Absatz
über das Urteil der Zeitungen wieder mit auf.