[Fünfter Teil]

Die Gliederung der Novelle in sechs Teile, wie sie hier vorgenommen wird, sollte
nicht übersehen lassen, dass die Teile sehr verschieden lang sind. Die Teile eins bis vier umfassen zwar fast die gesamte
Handlungszeit von zwölf Jahren, machen aber nur gut ein Drittel des Textes aus, während auf die letzten sechs
Wochen bzw. die Teile fünf und sechs annähernd zwei Drittel entfallen. Oder in Prozenten ausgedrückt: die Geschichte
der Elternfeindschaft mit 99 Prozent der Handlungszeit beansprucht ein Drittel des Textes, die Geschichte des Liebespaares mit
nur einem Prozent zwei Drittel. Keller wollte also vor allem eine Liebesgeschichte erzählen, und weit weniger wichtig,
als dass sie mit dem Tod des Paares endet, ist ihm, dass es sie gibt. In der jüngeren Literaturwissenschaft mit ihrer
Bevorzugung gesellschaftlicher Fragestellungen werden diese Proportionen allerdings zumeist umgekehrt. Das Hauptgewicht der
Interpretationen und Unterrichtsvorschläge liegt hier auf den Umständen, die zur Feindschaft der Elternfamilien
geführt haben, und der Verlauf der Liebesgeschichte hängt ihnen als Folge nur an.


Je mehr für den Selbstmord des Paares allerdings eine gesellschaftlich verursachte Zwangsläufigkeit unterstellt wird, desto
problematischer wird es - sogar Keller selbst hat ja in dem ursprünglichen Schluss der Novelle diesen Selbstmord kritisch
kommentiert (siehe unter GESTALTUNG zum
6. Teil). Zu Recht wird deshalb darauf hingewiesen, dass - sollte
der Selbstmord zum Thema gemacht werden - hier unbedingt nach Alternativen gefragt werden müsste, nicht zu vergessen die
längst anderen sozialen Möglichkeiten, die es heute - in unseren westlichen Gesellschaften jedenfalls - für Liebespaare
verfeindeter Eltern gäbe.

Das berührt sich mit der Frage, ob Keller den Selbstmord überhaupt hinreichend glaubhaft machen kann.
Theodor Fontane (1819-1898) sah - in einer Niederschrift von 1875 - die Glaubhaftigkeit dadurch beeinträchtigt,
daß die erste Hälfte ganz in Realismus, die zweite Hälfte ganz in Romantizismus steckt; die erste Hälfte ist eine das
echteste Volksleben bis ins kleinste hinein wiedergebende Novelle, die zweite Hälfte ist, wenn nicht ein Märchen, so doch
durchaus märchenhaft. Und warum? Weil dieser Märchenton leichter zu treffen ist als der der Wirklichkeit. Wer nicht ganz mit
und unter dem Volke gelebt hat, hat diesen Ton auch nicht, er muß ihn sich also aus diesen und jenen Reminiszenzen aufbauen.
Dies mit zwei alten störrigen Bauern zu tun, glückt einem Talent wie dem Kellerschen, den
wirklichen Ton eines
sechzehnjährigen Dorfmädchens und eines zwanzigjährigen Bauernburschen zu treffen, ist aber fast unmöglich,
und so muß der Märchenton aushelfen. So sprechen sie denn nicht wie 'Vrenchen und Sali', sondern wie 'Brüderchen
und Schwesterchen', wogegen nichts zu sagen wäre, wenn die ganze Geschichte dem entspräche; aber das allmähliche
Hineingeraten aus mit realistischem Pinsel gemalter Wirklichkeit in romantische Sentimentalität ... ist nicht gutzuheißen.
Die Zartheit, das Wegfallen alles Harten und Störenden, wodurch die zweite Hälfte dieser Erzählung sich auszeichnet,
ist schließlich doch nur das Resultat einer nicht vollkommen ausreichenden Kraft. Keller hat hier aus der Not eine Tugend gemacht.


Etwas Ähnliches beobachtet Otto Ludwig (1813-1865), kommt aber zu einem entgegengesetzten Resultat:
Die Wirkung der Novelle ist eine sehr schöne, nicht allein ist die Katastrophe wahrscheinlich und notwendig; man wünscht
auch nicht, daß die Katastrophe ausbliebe, daß die Geschichte einen anderen Ausgang erhielte. ... Seine [Kellers] Liebenden sterben
zunächst, weil das Elend der Armut ein Hindernis ihrer Liebesvereinigung durch die Ehe [ist], die sie nicht entbehren können; aber sie
sterben eben deshalb nicht allein, weil sie unglücklich lieben, sondern auch ... weil der Bursche des Mädchens Vater um den Verstand
gebracht hat, weil die Väter dem schwarzen Geiger den Acker gestohlen, weil dieser den Kindern mit geflucht, weil sie sich einmal als
Brautleute ausgegeben, weil sie von Getränk und Tanz und sinnlicher Geschlechtsbegierde berauscht sind. Ihre Geschichte ist nur das Ende
und die Erfüllung der Geschichte ihrer Eltern, sie sterben durch deren Schuld.

Ganz anders wiederum urteilt der schon zitierte Alexander von Villers in seinen "Briefen eines Unbekannten" (1881). Er sieht
wirklich nirgends den tragischen Grund zum tragischen Ende, und ehe die Liebe ins Wasser geht, läuft sie [sich] doch erst die
Füße wund. ... Es fehlt an jedem Motiv; auch das Motiv: Furcht vor Schande nach dem Fall, fällt weg, denn der Fall [gemeint: ein
Kind] kommt ihnen gar nicht in den Sinn; konnte auch nicht wirken, denn die armen Dinger hatten ja so schon gar nichts, das wie Ehre oder
Ehrbarkeit aussah. Über solches Vorurteil zu lachen, waren sie recht dazu angetan ...

So bleibt es - wie oft - der persönlichen Abwägung überlassen, ob man den Ausgang
der Geschichte für überzeugend halten will oder nicht. Kaum zu bezweifeln ist allerdings, dass Otto Ludwig Recht hat, wenn er in diesem Ausgang
eine Art 'Happy end' sieht. Jede Weiterführung der Handlung mit allen denkbaren Infragestellungen des Liebesverhältnisses wäre
wohl weniger erfreulich, d.h. Keller ist auch und gerade mit seinem Schluss ein 'poetischer' Realist.
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Denn nichts gleicht dem Reichtum und der Unergründlichkeit eines Glückes, das an den Menschen herantritt in einer
so klaren und deutlichen Gestalt, vom Pfäfflein getauft und wohlversehen mit einem eigenen Namen, der nicht tönt wie andere Namen.
An diesen etwas dunklen Satz schloss sich in der Erstfassung von 1856 noch eine längere Textpassage an, in der die individuelle Liebe
als Keim einer glücklichen Familie und diese wiederum als Grundlage einer glücklichen Gesellschaft behandelt wird. Da dies im Falle von
Sali und Vrenchen nicht eintritt, heißt es zuletzt, dass dennoch jeder solcher Liebesanfang etwas Schönes sei. Die in der Fassung von
1874 gestrichene Passage lautet:
Dieses ist eine feine Sache und in ihr ruht das Geheimnis oder die Offenkunde von der Wohlfahrt des Lebens, von dem Aufbau der Familie und dessen,
was viele Familien zusammen sind. Es ist die Frühlingsblüte, aus welcher die Frucht der guten Familie erwächst; manche Gewächse
müssen zwei bis drei oder gar vier Mal blühen, bis eine Frucht geraten will, und alsdann hat die Weisheit der Natur oder der Götter es
so eingerichtet, daß den Blühenden die letzte Blume immer die feinste dünkt und sie meinen, es sei noch nie so schön gewesen.
Und ob nun die Natur allein oder die Götter dies also geordnet, so ist es wirklich ein gutes und zweckmäßiges Ding. Viele blühen
aber nur ein Mal und auch diese Blüte zerschlägt der Sturm, tötet der Frost oder ersäuft ein anhaltendes Regenwetter, und nie
wird eine Frucht daraus; viele blühen in einer Wildnis oder in einem wüsten Sumpfe in der Einsamkeit und es wird auch nichts daraus als
zuweilen eine herbe verkrüppelte Holzfrucht; denn alle guten Früchte wachsen in großer Gesellschaft, die Ähre steht neben der
Ähre und die Traube hängt neben der Traube tausendfältig. Aber Blumen sind es immer gewesen, ob etwas daraus geworden oder
nicht und ob sie gesehen oder ungesehen verblühten, und der Frühling ist schön, was auch aus ihm wird.
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"Und unsere Eltern?", fragte Vrenchen ... "Sind wir schuld an dem, was sie getan und geworden sind?", sagte Sali ...
An dieser Zwiesprache fällt besonders auf, was Fontane gemeint hat, wenn er sagte, Sali und Vrenchen sprächen nicht wie junge
Leute vom Dorf, sondern wie 'Brüderchen und Schwesterchen' (siehe
oben).
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... sie legten zwei und dreimal den Hin- und Herweg zurück, still, glückselig und ruhig, sodass dieses einige Paar nun auch
einem Sternenbilde glich, welches über die sonnige Rundung der Anhöhe und hinter derselben niederging ...
Mit der Rückbindung an die Eingangsszene nimmt Keller eine etwas absichtliche Motivverknüpfung vor, denn die beiden 'Sternbilder' haben
ebenso wenig miteinander zu tun wie der gleich danach auftauchende schwarze Geiger etwas mit ihnen als 'dunkler Stern'.
Plötzlich sprang der schwarze Geiger mit einem Satze auf die rot bekleidete Steinmasse hinauf ...
Die Farben rot und schwarz bedeuten - spätestens seit Stendhals berühmtem Roman "Le rouge et le noir" (1830) -
Liebe und Tod, auch wenn sie dort für die Farben des Roulettes stehen. Aber auch in der Plötzlichkeit
seines Erscheinens ist der schwarze Geiger ein Todesbote.
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... "du musst ungefähr siebzehn sein?" - "Siebzehn und ein halbes Jahr bin ich alt!", erwiderte Vrenchen,
"und wie alt bist du? Ich weiß aber schon, du bist bald zwanzig!" ...
Mit den Altersangaben wird noch einmal verdeutlicht, was schon die bis hierher vergangenen zwölf Jahre besagen: Sali und
Vrenchen sind ebenso als wie das Liebespaar in der Zeitungsmitteilung, auf die sich Keller bezieht
(siehe unter
ENTSTEHUNG).
... und der arme Sali hielt in seinem Arm, was reiche Leute teuer bezahlt hätten, wenn sie es nur gemalt an ihren Wänden
hätten sehen können.
In einer im Ganzen sehr positiven Besprechung der Novelle hat Berthold Auerbach (1812-1882) diese Bemerkung 1856 ausdrücklich
beanstandet. Sie versetze den Leser aus dem Horizont des Geschehenden plötzlich in einen ganz fremdartigen. Es handle sich da noch
um ein Anhängsel jenes 'romantischen Drüberstehens', dessen sich der realistische Dichter zu enthalten habe. Keller indessen hat sich
dem Gebot der Erzählerneutralität nie unterworfen. An dieser Stelle kann man einen Bezug zu den 'reichen Leuten' von Berlin sehen, die er
bei der Niederschrift der Novelle als eine Art Zaungast vor Augen hatte.
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Ohne sich zu besinnen, raffte er einen Stein auf und schlug mit demselben den Alten gegen den Kopf ...
An dem Stein als 'Tatwaffe' erweist sich noch einmal die zentrale Bedeutung dieses Motivs, da aller Unfrieden und alles Unglück in dieser
Novelle mit Steinen zu tun hat.
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... er machte nichts als Dummheiten, ... setzte sich in die Sonne und streckte die Zunge heraus oder hielt lange Reden in die Bohnen hinein.
... der gesunde und essbegierige Blödsinnige wurde noch gut gefüttert ...
Wie an diesen Formulierungen zu sehen ist, will Keller Mitleid mit Marti nicht aufkommen lassen. Das soll auch Vrenchen entlasten, die nach den
damaligen Vorstellungen an dem Unglück ihres Vaters weit mehr hätte Anteil nehmen müssen, als es hier der Fall ist.
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"Das weiß ich nicht", sagte Vrenchen, "ich werde dienen müssen und in die Welt hinaus! Ich werde es aber
nicht aushalten ohne dich, und doch kann ich dich nie bekommen, auch wenn alles andere nicht wäre, bloß weil du meinen Vater
geschlagen und um den Verstand gebracht hast! Dies würde immer ein schlechter Grundstein unserer Ehe sein ..."
An dieser Stelle schlägt der Märchenton besonders stark durch: 'in die Welt hinaus', wo es sich nach Lage der Dinge
nur um ein Dienstverhältnis im nahen Seldwyla handeln kann. Eine nicht ganz passende Sentimentalität ist es auch, wenn Vrenchen
vom 'Grundstein ihrer Ehe' spricht - oder soll ihr diese altkluge Banalität einen Anstrich von Gewöhnlichkeit geben? Für diesen
Fall hätte Keller auf eine entsprechende Kommentierung doch wohl nicht verzichtet.
Denn die rechte Wange Vrenchens und die linke Salis, welche im Schlafe aneinander gelehnt hatten, waren von dem Drucke ganz rot
gefärbt, während die Blässe der anderen durch die kühle Nachtluft noch erhöht war.
Die Stelle ist als Andeutung eines Wechsels vom Leben zum Tod zu verstehen, bereitet also den Gedanken an ein gemeinsames
Sterben vor, der wenig später erstmals ausgesprochen wird.
"Ich will dir nicht abraten", sagte Vrenchen errötend, "denn ich glaube, ich müsste sterben, wenn ich
nicht morgen mit dir tanzen könnte." - "Es wäre das Beste, wir beide könnten sterben!", sagte Sali ...
Es stellt eine geschickte, psychologisch gut begründete Überleitung zur Annäherung an den Todesgedanken dar, wenn
Sali die Redensart 'Ich glaube, ich müsste sterben' wörtlich nimmt und damit die Möglichkeit des gemeinsamen Sterbens wie
zur Probe erstmals anspricht. Vrenchen antwortet darauf nicht, aber sie weist den Gedanken auch nicht zurück.