[Erster Teil]
Diese Geschichte zu erzählen würde eine müßige Nachahmung sein, wenn sie nicht auf einem wirklichen Vorfall beruhte ...
Ein Zeitgenosse Kellers, der Diplomat Alexander von Villers (1812-1880), hat in seinen "Briefen eines Unbekannten" (1881) die Unlogik dieses
Satzes beanstandet, nämlich dass er gerade soviel sage wie: dieser Baum würde ein Frosch sein, wenn es sich nicht um ein Pferd
handelte, mithin 'barer Unsinn' sei. Das ist zwar übertrieben, aber nicht ganz falsch. Richtiger könnte der Satz lauten: Diese Geschichte
wäre nicht erzählenswert, wenn sie nur Shakespeares 'Romeo und Julia' nachahmte, doch ist sie wirklich vorgekommen und zeigt wieder
einmal, wie tief im Menschenleben jede der Fabeln wurzelt, auf die die großen alten Werke gebaut sind. Wäre das aber besser? Kellers
umständliche und auch ein bisschen unbeholfen wirkende Formulierung hat etwas Treuherzig-Aufrichtiges, so wie wenn der Erzähler
selbst noch nach den richtigen Worten für das suchte, was ihm zu Herzen gegangen ist.
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Es gab auch jedes Mal einen mittlern Augenblick, wo die schimmernden Mützen aufrecht in der Luft schwankten und wie zwei weiße
Flammen gen Himmel züngelten.
Inmitten der idyllischen Szenerie um die beiden pflügenden Bauern sind die 'züngelnden Flammen' ein fremdes, störendes
Element. Ohne Zweifel soll es andeuten, dass der Schein trügt und etwas Böses in dieser Idylle angelegt ist.
So war der lange Morgen zum Teil vergangen, als von dem Dorfe her ein kleines artiges Fuhrwerklein sich näherte ...
Kinderwägelchen ... ein kleines Ding von Mädchen ... Zutätchen ...
Der häufige Gebrauch von Verkleinerungsformen kann bei Keller verschiedene Bedeutungen haben: es kann sich um Verniedlichungen,
es kann sich aber auch um Abwertungen handeln. Hier liegt der positive Sinn vor, so wie auch in der gesamten ersten Kennzeichnung des
bäuerlichen Milieus die positiven Momente die maßgebenden sind.
... außerdem waren da noch verpackt allerlei seltsam gestaltete angebissene Äpfel und Birnen ... und eine völlig nackte Puppe mit
nur einem Bein und einem verschmierten Gesicht ...
Um den allzu gefälligen, vielleicht schon unechten ('kitschigen') Eindruck der Kinderszene aufzuheben, stellt Keller ihr ohne jede Vorankündigung ein
drastisch unschönes Element gegenüber und gibt so zu erkennen, dass er jederzeit 'auch anders kann'. Der Gegensatz kennzeichnet hier also
weniger die geschilderte Wirklichkeit als die kauzige Natur des Erzählers bzw. Gottfried Kellers, der auch als Mensch zu solchen abrupten Derbheiten
neigte. In Gesellschaften wurde oft geradezu befürchtet, dass er aus der Rolle fallen und irgendwelche Anwesenden durch brüske
Bemerkungen vor den Kopf stoßen könnte.
An einem sonnigen Septembermorgen pflügten zwei Bauern auf zweien dieser Äcker ...
Es war ein Junge von sieben Jahren und ein Dirnchen von fünfen ...
Die Altersangabe ist zugleich der Ausgangspunkt für die Bestimmung der Handlungsdauer: in einem September
beginnend, endet die Geschichte zwölf Jahre später wiederum an einem 'schönen Sonntagmorgen im September' (siehe
6. Teil, Absatz 3). Teils wird das Alter der Kinder, teils werden die übersprungenen Jahre zur Zeiteinteilung herangezogen. Die Datierung
der einzelnen Szenen ist auch eine didaktisch brauchbare Aufgabe, weil sie eine genaue Textdurchsicht erfordert und ein begründbares
Ergebnis liefert.
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... ein weithin scheinendes Silbergewölk ... welches lachend an ihren Bergen hinschwebte. "Die Lumpenhunde zu
Seldwyl kochen wieder gut!", sagte Manz ...
Der Kontrast zwischen dem lachend hinschwebenden Silbergewölk und den gut kochenden Lumpenhunden ist wiederum kennzeichnend
für Kellers drastische Art, schöne Eindrücke desillusionistisch aufzulösen.
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... eine einsame rote Mohnblume, die da noch blühte, wurde ihr als Haube über den Kopf gezogen ... bis der Knabe sie genugsam
besehen und mit einem Steine herunterwarf.
Mit der Mohnblume und dem Steinwurf wird ein Motiv in der Erzählung angelegt, das sich in der Szene mit Vrenchens Vater später wiederholt.
Man sollte dies allerdings nicht 'Vorausdeutung' nennen. Die wiederholte Nennung der Steine - erst auf dem Acker, dann als Steinwurf, später als
Steinhaufen und Steinschlag - stellt hauptsächlich nur einen atmosphärischen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Szenen her.
Darüber hinaus sind die Steine auch 'Stein des Anstoßes', stellen also für den Streit der Bauern das tatsächlich dar, was die
Redewendung meint.
Die Kinder hielten den Kopf an die Ohren und setzten ihn dann feierlich auf einen Stein; da er noch mit der roten Mohnblume bedeckt war, so glich
der Tönende jetzt einem weissagenden Haupte ...
Der hohle, nur noch summende Kopf der Puppe findet später seine Entsprechung in dem durch den Schlag Salis schwachsinnig gewordenen Marti,
auch wiederum ein Motiv, das zwei Handlungsteile miteinander verbindet. Die ausführliche Schilderung des Spiels der Kinder mit der
unbeschönigten Benennung seiner grausamen und hässlichen Züge hat es allerdings vor allem auf die mit der Romantik aufgekommene
Kinder-Sentimentalität abgesehen, die in der Literatur des Realismus im Großen und Ganzen fortbesteht.