[Sechster Teil: Die gottverlassene Hochzeit]

Sobald er in der Stadt war, trug er seine Uhr zu einem Uhrmacher, der ihm sechs
oder sieben Gulden dafür gab; für die silberne Kette bekam er auch
einige Gulden, und er dünkte sich nun reich genug, denn er hatte, seit er
groß war, nie so viel Geld besessen auf einmal. Wenn nur erst der Tag
vorüber und der Sonntag angebrochen wäre, um das Glück damit
zu erkaufen, das er sich von dem Tage versprach, dachte er; denn wenn das
Übermorgen auch um so dunkler und unbekannter hereinragte, so gewann
die ersehnte Lustbarkeit von morgen nur einen seltsamem erhöhten
Glanz und Schein. Indessen brachte er die Zeit noch leidlich hin, indem
er ein Paar Schuhe für Vrenchen suchte, und dies war ihm das
vergnügteste Geschäft, das er je betrieben. Er ging von einem
Schuhmacher zum andern, ließ sich alle Weiberschuhe zeigen, die vorhanden
waren, und endlich handelte er ein leichtes und feines Paar ein, so hübsch,
wie sie Vrenchen noch nie getragen. Er verbarg die Schuhe unter seiner Weste
und tat sie die übrige Zeit des Tages nicht mehr von sich; er nahm sie
sogar mit ins Bett und legte sie unter das Kopfkissen. Da er das Mädchen
heute früh noch gesehen und morgen wieder sehen sollte, so schlief er fest
und ruhig, war aber in aller Frühe munter und begann seinen dürftigen
Sonntagsstaat zurechtzumachen und auszuputzen, so gut es gelingen wollte. Es fiel
seiner Mutter auf und sie fragte verwundert, was er vorhabe, da er sich schon lange
nicht mehr so sorglich angezogen. Er wolle einmal über Land gehen und sich
ein wenig umtun, erwiderte er, er werde sonst krank in diesem Hause. »Das
ist mir die Zeit her ein merkwürdiges Leben«, murrte der Vater,
»und ein Herumschleichen!« - »Lass ihn nur gehen«,
sagte aber die Mutter, »es tut ihm vielleicht gut, es ist ja ein Elend,
wie er aussieht!« - »Hast du Geld zum Spazierengehen? Woher hast du
es?«, sagte der Alte. »Ich brauche keines!«, sagte Sali. »Da
hast du einen Gulden!«, versetzte der Alte und warf ihm denselben hin,
»du kannst im Dorf ins Wirtshaus gehen und ihn dort verzehren, damit sie
nicht glauben, wir seien hier so übel dran.« - »Ich will nicht
ins Dorf und brauche den Gulden nicht, behaltet ihn nur!« - »So hast
du ihn gehabt, es wäre schad, wenn du ihn haben müsstest, du
Starrkopf!«, rief Manz und schob seinen Gulden wieder in die Tasche.
Seine Frau aber, welche nicht wusste, warum sie heute ihres Sohnes wegen
so wehmütig und gerührt war, brachte ihm ein großes schwarzes
Mailänder Halstuch mit rotem Rande, das sie nur selten getragen und er
schon früher gern gehabt hätte. Er schlang es um den Hals und
ließ die langen Zipfel fliegen; auch stellte er zum ersten Mal den
Hemdkragen, den er sonst immer umgeschlagen, ehrbar und männlich in
die Höhe bis über die Ohren hinauf, in einer Anwandlung
ländlichen Stolzes, und machte sich dann, seine Schuhe in der Brusttasche
des Rockes, schon nach sieben Uhr auf den Weg. Als er die Stube verließ,
drängte ihn ein seltsames Gefühl, Vater und Mutter die Hand zu geben,
und auf der Straße sah er sich noch einmal nach dem Hause um. »Ich
glaube am Ende«, sagte Manz, »der Bursche streicht irgendeinem Weibsbild
nach; das hätten wir gerade noch nötig!« Die Frau sagte:
»O wollte Gott, dass er vielleicht ein Glück machte! Das täte
dem armen Buben gut!« - »Richtig!«, sagte der Mann, »das fehlt
nicht! Das wird ein himmlisches Glück geben, wenn er nur erst an eine solche
Maultasche zu geraten das Unglück hat! Das täte dem armen Bübchen
gut! Natürlich!«

Sali richtete seinen Schritt erst nach dem Flusse zu, wo er Vrenchen erwarten wollte;
aber unterweges ward er andern Sinnes und ging gradezu ins Dorf, um Vrenchen im Hause
selbst abzuholen, weil es ihm zu lang währte bis halb elf. Was kümmern uns
die Leute!, dachte er. Niemand hilft uns und ich bin ehrlich und fürchte niemand!
So trat er unerwartet in Vrenchens Stube, und ebenso unerwartet fand er es schon
vollkommen angekleidet und geschmückt dasitzen und der Zeit harren, wo es
gehen könne, nur die Schuhe fehlten ihm noch. Aber Sali stand mit offenem
Munde still in der Mitte der Stube, als er das Mädchen erblickte, so schön
sah es aus. Es hatte nur ein einfaches Kleid an von blaugefärbter Leinwand, aber
dasselbe war frisch und sauber und saß ihm sehr gut um den schlanken Leib.
Darüber trug es ein schneeweißes Musselinhalstuch, und dies war der ganze
Anzug. Das braune gekräuselte Haar war sehr wohlgeordnet, und die sonst so
wilden Löckchen lagen nun fein und lieblich um den Kopf, da Vrenchen seit
vielen Wochen fast nicht aus dem Hause gekommen, so war seine Farbe zarter und
durchsichtiger geworden, so wie auch vom Kummer; aber in diese Durchsichtigkeit
goss jetzt die Liebe und die Freude ein Rot um das andere, und an der Brust
trug es einen schönen Blumenstrauß von Rosmarin, Rosen und prächtigen
Astern. Es saß am offenen Fenster und atmete still und hold die frisch durchsonnte
Morgenluft; wie es aber Sali erscheinen sah, streckte es ihm beide hübsche Arme
entgegen, welche vom Ellbogen an bloß waren, und rief. »Wie recht hast du,
dass du schon jetzt und hierher kommst! Aber hast du mir Schuhe gebracht?
Gewiss? Nun steh ich nicht auf, bis ich sie anhabe!« Er zog die ersehnten
aus der Tasche und gab sie dem begierigen schönen Mädchen; es schleuderte
die alten von sich, schlüpfte in die neuen und sie passten sehr gut. Erst
jetzt erhob es sich vom Stuhl, wiegte sich in den neuen Schuhen und ging eifrig
einige Mal auf und nieder. Es zog das lange blaue Kleid etwas zurück und
beschaute wohlgefällig die roten wollenen Schleifen, welche die Schuhe zierten,
während Sali unaufhörlich die feine reizende Gestalt betrachtete, welche
da in lieblicher Aufregung vor ihm sich regte und freute. »Du beschaust
meinen Strauß?«, sagte Vrenchen, »hab ich nicht einen schönen
zusammengebracht? Du musst wissen, dies sind die letzten Blumen, die ich noch
aufgefunden in dieser Wüstenei. Hier war noch ein Röschen, dort eine Aster,
und wie sie nun gebunden sind, würde man es ihnen nicht ansehen, dass sie
aus einem Untergange zusammengesucht sind! Nun ist es aber Zeit, dass ich fortkomme,
nicht ein Blümchen mehr im Garten und das Haus auch leer!« Sali sah sich um
und bemerkte erst jetzt, dass alle Fahrhabe, die noch dagewesen, weggebracht war.
»Du armes Vreeli!«, sagte er, »haben sie dir schon alles genommen?« -
»Gestern«, erwiderte es, »haben sie's weggeholt, was sich von der Stelle
bewegen ließ, und mir kaum mehr mein Bett gelassen. Ich hab's aber auch gleich
verkauft und hab jetzt auch Geld, sieh!« Es holte einige neu glänzende
Talerstücke aus der Tasche seines Kleides und zeigte sie ihm. »Damit«,
fuhr es fort, »sagte der Waisenvogt, der auch hier war, solle ich mir einen Dienst
suchen in einer Stadt, und ich solle mich heute gleich auf den Weg machen!« -
»Da ist aber auch gar nichts mehr vorhanden«, sagte Sali, nachdem er in die
Küche geguckt hatte, »ich sehe kein Hölzchen, kein Pfännchen, kein
Messer! Hast du denn auch nicht zu Morgen gegessen?« »Nichts!«, sagte
Vrenchen, »ich hätte mir etwas holen können, aber ich dachte, ich
wolle lieber hungrig bleiben, damit ich recht viel essen könne mit dir zusammen,
denn ich freue mich so sehr darauf, du glaubst nicht, wie ich mich freue!« -
»Wenn ich dich nur anrühren dürfte«, sagte Sali, »so wollte
ich dir zeigen, wie es mir ist, du schönes, schönes Ding!« -
»Du hast recht, du würdest meinen ganzen Staat verderben, und wenn wir
die Blumen ein bisschen schonen, so kommt es zugleich meinem armen Kopf zugut,
den du mir übel zuzurichten pflegst!« - »So komm, jetzt wollen wir
ausrücken!« - »Noch müssen wir warten, bis das Bett abgeholt
wird; denn nachher schließe ich das leere Haus zu und gehe nicht mehr hierher
zurück! Mein Bündelchen gebe ich der Frau aufzuheben, die das Bett gekauft
hat.« Sie setzten sich daher einander gegenüber und warteten; die Bäuerin
kam bald, eine vierschrötige Frau mit lautem Mundwerk, und hatte einen Burschen
bei sich, welcher die Bettstelle tragen sollte. Als diese Frau Vrenchens Liebhaber
erblickte und das geputzte Mädchen selbst, sperrte sie Maul und Augen auf,
stemmte die Arme unter und schrie: »Ei sieh da, Vreeli! Du treibst es ja schon
gut! Hast einen Besucher und bist gerüstet wie eine Prinzess?«
»Gelt aber!«, sagte Vrenchen freundlich lachend, »wisst Ihr
auch, wer das ist?« - »Ei, ich denke, das ist wohl der Sali Manz? Berg
und Tal kommen nicht zusammen, sagt man, aber die Leute! Aber nimm dich doch in
acht, Kind, und denk, wie es euren Eltern ergangen ist!« - »Ei, das hat
sich jetzt gewendet und alles ist gut geworden«, erwiderte Vrenchen lächelnd
und freundlich mitteilsam, ja beinahe herablassend, »seht, Sali ist mein
Hochzeiter!« - »Dein Hochzeiter! was du sagst!« -
»Ja, und er ist ein reicher Herr, er hat hunderttausend Gulden in der Lotterie gewonnen!
Denket einmal, Frau!« Diese tat einen Sprung, schlug ganz erschrocken die Hände
zusammen und schrie: »Hund - hunderttausend Gulden!« - »Hunderttausend
Gulden!«, versicherte Vrenchen ernsthaft. - »Herr du meines Lebens! Es ist
aber nicht wahr, du lügst mich an, Kind!« - »Nun, glaubt was Ihr
wollt!« - »Aber wenn es wahr ist und du heiratest ihn, was wollt ihr
denn machen mit dem Gelde? Willst du wirklich eine vornehme Frau werden?« -
»Versteht sich, in drei Wochen halten wir die Hochzeit!« - »Geh mir
weg, du bist eine hässliche Lügnerin!« - »Das schönste
Haus hat er schon gekauft in Seldwyl mit einem großen Garten und Weinberg;
Ihr müsst mich auch besuchen, wenn wir eingerichtet sind, ich zähle
darauf!« »Allweg, du Teufelshexlein, was du bist!« - »Ihr werdet
sehen, wie schön es da ist! Einen herrlichen Kaffee werde ich machen und Euch
mit feinem Eierbrot aufwarten, mit Butter und Honig!« - »O du Schelmenkind!
zähl drauf, dass ich komme!«, rief die Frau mit lüsternem Gesicht
und der Mund wässerte ihr. »Kommt Ihr aber um die Mittagszeit und seid
ermüdet vom Markt, so soll Euch eine kräftige Fleischbrühe und ein
Glas Wein immer parat stehen!« - »Das wird mir bass tun!« -
»Und an etwas Zuckerwerk oder weißen Wecken für die lieben Kinder
zu Hause soll es Euch auch nicht fehlen!« »Es wird mir ganz schmachtend!« -
»Ein artiges Halstüchelchen oder ein Restchen Seidenzeug oder ein hübsches
altes Band für Eure Röcke oder ein Stück Zeug zu einer neuen Schürze
wird gewiss auch zu finden sein, wenn wir meine Kisten und Kasten durchmustern in
einer vertrauten Stunde!« Die Frau drehte sich auf den Hacken herum und schüttelte
jauchzend ihre Röcke. »Und wenn Euer Mann ein vorteilhaftes Geschäft machen
könnte mit einem Land- oder Viehhandel und er mangelt des Geldes, so wisst Ihr,
wo Ihr anklopfen sollt. Mein lieber Sali wird froh sein, jederzeit ein Stück Bares
sicher und erfreulich anzulegen! Ich selbst werde auch etwa einen Sparpfennig haben,
einer vertrauten Freundin beizustehen!« Jetzt war der Frau nicht mehr zu helfen,
sie sagte gerührt: »Ich habe immer gesagt, du seist ein braves und gutes
und schönes Kind! Der Herr wolle es dir wohlergehen lassen immer und ewiglich
und es dir gesegnen, was du an mir tust!« - »Dagegen verlange ich aber
auch, dass Ihr es gut mit mir meint!« - »Allweg kannst du das
verlangen!« - »Und dass Ihr jederzeit Eure Waren, sei es Obst,
seien es Kartoffeln, sei es Gemüse, erst zu mir bringet und mir anbietet,
ehe Ihr auf den Markt gehet, damit ich sicher sei, eine rechte Bäuerin an
der Hand zu haben, auf die ich mich verlassen kann! Was irgendeiner gibt für
die Ware, werde ich gewiss auch geben mit tausend Freuden, Ihr kennt mich ja!
Ach, es ist nichts Schöneres, als wenn eine wohlhabende Stadtfrau, die so ratlos
in ihren Mauern sitzt und doch so vieler Dinge benötigt ist, und eine rechtschaffene
ehrliche Landfrau, erfahren in allem Wichtigen und Nützlichen, eine gute und dauerhafte
Freundschaft zusammen haben! Es kommt einem zugut in hundert Fällen, in Freud und
Leid, bei Gevatterschaften und Hochzeiten, wenn die Kinder unterrichtet werden und
konfirmiert, wenn sie in die Lehre kommen und wenn sie in die Fremde sollen! Bei
Misswachs und Überschwemmungen, bei Feuersbrünsten und Hagelschlag,
wofür uns Gott behüte!« - »Wofür uns Gott behüte!«,
sagte die gute Frau schuchzend und trocknete mit ihrer Schürze die Augen;
»welch ein verständiges und tiefsinniges Bräutlein bist du, ja,
dir wird es gut gehen, da müsste keine Gerechtigkeit in der Welt sein!
Schön, sauber, klug und weise bist du, arbeitsam und geschickt zu allen Dingen!
Keine ist feiner und besser als du, in und außer dem Dorfe, und wer dich hat,
der muss meinen, er sei im Himmelreich, oder er ist ein Schelm und hat es mit
mir zu tun. Hör, Sali! dass du nur recht artlich bist mit meinem
Vreeli, oder ich will dir den Meister zeigen, du Glückskind, das du bist,
ein solches Röslein zu brechen!« - »So nehmt jetzt auch hier noch
mein Bündel mit, wie Ihr mir versprochen habt, bis ich es abholen lassen werde!
Vielleicht komme ich aber selbst in der Kutsche und hole es ab, wenn Ihr nichts
dagegen habt! Ein Töpfchen Milch werdet Ihr mir nicht abschlagen alsdann,
und etwa eine schöne Mandeltorte dazu werde ich schon selbst mitbringen!« -
»Tausendskind! Gib her den Bündel!« Vrenchen lud ihr auf das
zusammengebundene Bett, das sie schon auf dem Kopfe trug, einen langen Sack,
in welchen es sein Plunder und Habseliges gestopft, sodass die arme Frau
mit einem schwankenden Turme auf dem Haupte dastand. »Es wird mir doch fast
zu schwer auf einmal«, sagte sie, »könnte ich nicht zweimal dran machen?«
»Nein nein! wir müssen jetzt augenblicklich gehen, denn wir haben einen weiten
Weg, um vornehme Verwandte zu besuchen, die sich jetzt gezeigt haben, seit wir reich sind!
Ihr wisst ja, wie es geht!« - »Weiß wohl! so behüt dich Gott und
denk an mich in deiner Herrlichkeit!«

Die Bäuerin zog ab mit ihrem Bündelturme, mit Mühe das Gleichgewicht
behauptend, und hinter ihr drein ging ihr Knechtchen, das sich in Vrenchens einst
bunt bemalte Bettstatt hineinstellte, den Kopf gegen den mit verblichenen Sternen
bedeckten Himmel derselben stemmte und, ein zweiter Simson, die zwei vorderen
zierlich geschnitzten Säulen fasste, welche diesen Himmel trugen. Als
Vrenchen, an Sali gelehnt, dem Zuge nachschaute und den wandelnden Tempel zwischen
den Gärten sah, sagte es: »Das gäbe noch ein artiges Gartenhäuschen
oder eine Laube, wenn man's in einen Garten pflanzte, ein Tischchen und ein Bänklein
drein stellte und Winden drum herumsäete! Wolltest du mit darin sitzen,
Sali?« - »Ja, Vreeli! besonders wenn die Winden aufgewachsen wären!«
»Was stehen wir noch?«, sagte Vrenchen, »nichts hält uns mehr
zurück!« »So komm und schließ das Haus zu! Wem willst du denn
den Schlüssel übergeben?« Vrenchen sah sich um. »Hier an die
Helbart wollen wir ihn hängen; sie ist über hundert Jahr in diesem Hause
gewesen, habe ich den Vater oft sagen hören, nun steht sie da als der letzte
Wächter!« Sie hingen den rostigen Hausschlüssel an einen rostigen
Schnörkel der alten Waffe, an welcher die Bohnen rankten, und gingen davon.
Vrenchen wurde aber bleicher und verhüllte ein Weilchen die Augen, dass
Sali es führen musste, bis sie ein Dutzend Schritte entfernt waren. Es
sah aber nicht zurück. »Wo gehen wir nun zuerst hin?«, fragte es.
»Wir wollen ordentlich über Land gehen«, erwiderte Sali, »wo
es uns freut den ganzen Tag, uns nicht übereilen, und gegen Abend werden wir
dann schon einen Tanzplatz finden!« - »Gut!«, sagte Vrenchen,
»den ganzen Tag werden wir beisammen sein und gehen, wo wir Lust haben.
Jetzt ist mir aber elend, wir wollen gleich im andern Dorf einen Kaffee trinken!« -
»Versteht sich!«, sagte Sali, »mach nur, dass wir aus diesem Dorf
wegkommen!«

Bald waren sie auch im freien Felde und gingen still nebeneinander durch die
Fluren; es war ein schöner Sonntagmorgen im September, keine Wolke stand am
Himmel, die Höhen und die Wälder waren mit einem zarten Duftgewebe
bekleidet, welches die Gegend geheimnisvoller und feierlicher machte, und von
allen Seiten tönten die Kirchenglocken herüber, hier das harmonische
tiefe Geläute einer reichen Ortschaft, dort die geschwätzigen zwei
Bimmelglöcklein eines kleinen armen Dörfchens. Das liebende Paar
vergaß, was am Ende dieses Tages werden sollte, und es gab sich einzig
der hoch aufatmenden wortlosen Freude hin, sauber gekleidet und frei, wie
zwei Glückliche, die sich von Rechts wegen angehörten, in den Sonntag
hineinzuwandeln. Jeder in der Sonntagsstille verhallende Ton oder ferne Ruf
klang ihnen erschütternd durch die Seele; denn die Liebe ist eine Glocke,
welche das Entlegenste und Gleichgültigste widertönen lässt
und in eine besondere Musik verwandelt. Obgleich sie hungrig waren, dünkte
sie die halbe Stunde Weges bis zum nächsten Dorf nur ein Katzensprung lang
zu sein, und sie betraten zögernd das Wirtshaus am Eingang des Ortes. Sali
bestellte ein gutes Frühstück, und während es bereitet wurde,
sahen sie mäuschenstill der sicheren und freundlichen Wirtschaft in der
großen reinlichen Gaststube zu. Der Wirt war zugleich ein Bäcker,
das eben Gebackene durchduftete angenehm das ganze Haus, und Brot aller Art
wurde in gehäuften Körben herbeigetragen, da nach der Kirche die
Leute hier ihr Weißbrot holten oder ihren Frühschoppen tranken.
Die Wirtin, eine artige und saubere Frau, putzte gelassen und freundlich ihre
Kinder heraus, und sowie eines entlassen war, kam es zutraulich zu Vrenchen
gelaufen, zeigte ihm seine Herrlichkeiten und erzählte von allem, dessen
es sich erfreute und rühmte. Wie nun der wohlduftende starke Kaffee kam,
setzten sich die zwei Leutchen schüchtern an den Tisch, als ob sie da zu
Gast gebeten wären. Sie ermunterten sich jedoch bald und flüsterten
bescheiden, aber glückselig miteinander; ach, wie schmeckte dem
aufblühenden Vrenchen der gute Kaffee, der fette Rahm, die frischen,
noch warmen Brötchen, die schöne Butter und der Honig, der Eierkuchen
und was alles noch für Leckerbissen da waren! Sie schmeckten ihm, weil es
den Sali dazu ansah, und es aß so vergnügt, als ob es ein Jahr lang
gefastet hätte. Dazu freute es sich über das feine Geschirr,
über die silbernen Kaffeelöffelchen; denn die Wirtin schien sie
für rechtliche junge Leutchen zu halten, die man anständig bedienen
müsse, und setzte sich auch ab und zu plaudernd zu ihnen, und die beiden
gaben ihr verständigen Bescheid, welches ihr gefiel. Es ward dem guten
Vrenchen so wählig zumut, dass es nicht wusste, mochte es lieber
wieder ins Freie, um allein mit seinem Schatz herumzuschweifen, durch Auen
und Wälder, oder mochte es lieber in der gastlichen Stube bleiben, um
wenigstens auf Stunden sich an einem stattlichen Orte zu Hause zu träumen.
Doch Sali erleichterte die Wahl, indem er ehrbar und geschäftig zum Aufbruch
mahnte, als ob sie einen bestimmten und wichtigen Weg zu machen hätten. Die
Wirtin und der Wirt begleiteten sie bis vor das Haus und entließen sie auf
das Wohlwollendste wegen ihres guten Benehmens, trotz der durchscheinenden
Dürftigkeit, und das arme junge Blut verabschiedete sich mit den besten
Manieren von der Welt und wandelte sittig und ehrbar von hinnen. Aber auch
als sie schon wieder im Freien waren und einen stundenlangen Eichwald betraten,
gingen sie noch in dieser Weise nebeneinander her, in angenehme Träume
vertieft, als ob sie nicht aus zank- und elenderfüllten Häusern
herkämen, sondern guter Leute Kind wären, welche in lieblicher
Hoffnung wandelten. Vrenchen senkte das Köpfchen tiefsinnig gegen seine
blumengeschmückte Brust und ging, die Hände sorglich an das Gewand
gelegt, einher auf dem glatten feuchten Waldboden; Sali dagegen schritt
schlank aufgerichtet, rasch und nachdenklich, die Augen auf die festen
Eichenstämme geheftet, wie ein Bauer, der überlegt, welche
Bäume er am vorteilhaftesten fällen soll. Endlich erwachten sie
aus diesen vergeblichen Träumen, sahen sich an und entdeckten, dass
sie immer noch in der Haltung gingen, in welcher sie das Gasthaus verlassen,
erröteten und ließen traurig die Köpfe hängen.
Aber Jugend
hat keine Tugend; der Wald war grün, der Himmel blau und sie allein in der
weiten Welt, und sie überließen sich alsbald wieder diesem Gefühle.
Doch blieben sie nicht lange mehr allein, da die schöne Waldstraße sich
belebte mit lustwandelnden Gruppen von jungen Leuten sowie mit einzelnen Paaren,
welche schäkernd und singend die Zeit nach der Kirche verbrachten. Denn die
Landleute haben so gut ihre ausgesuchten Promenaden und Lustwälder wie die
Städter, nur mit dem Unterschied, dass dieselben keine Unterhaltung
kosten und noch schöner sind; sie spazieren nicht nur mit einem besondern
Sinn des Sonntags durch ihre blühenden und reifenden Felder, sondern sie
machen sehr gewählte Gänge durch Gehölze und an grünen Halden
entlang, setzen sich hier auf eine anmutige fernsichtige Höhe, dort an einen
Waldrand, lassen ihre Lieder ertönen und die schöne Wildnis ganz behaglich
auf sich einwirken; und da sie dies offenbar nicht zu ihrer Pönitenz tun,
sondern zu ihrem Vergnügen, so ist wohl anzunehmen, dass sie Sinn für
die Natur haben, auch abgesehen von ihrer Nützlichkeit. Immer brechen sie was
Grünes ab, junge Bursche wie alte Mütterchen, welche die alten Wege ihrer
Jugend aufsuchen, und selbst steife Landmänner in den besten Geschäftsjahren,
wenn sie über Land gehen, schneiden sich gern eine schlanke Gerte, sobald sie
durch einen Wald gehen, und schälen die Blätter ab, von denen sie nur oben
ein grünes Büschel stehen lassen. Solche Rute tragen sie wie ein Zepter vor
sich hin; wenn sie in eine Amtsstube oder Kanzlei treten, so stellen sie die Gerte
ehrerbietig in einen Winkel, vergessen aber auch nach den ernstesten Verhandlungen
nie, dieselbe säuberlich wieder mitzunehmen und unversehrt nach Hause zu tragen,
wo es erst dem kleinsten Söhnchen gestattet ist, sie zugrunde zu richten. -
Als Sali und Vrenchen die vielen Spaziergänger sahen, lachten sie ins
Fäustchen und freuten sich, auch gepaart zu sein, schlüpften aber
seitwärts auf engere Waldpfade, wo sie sich in tiefen Einsamkeiten verloren.
Sie hielten sich auf, wo es sie freute, eilten vorwärts und ruhten wieder,
und wie keine Wolke am reinen Himmel stand, trübte auch keine Sorge in diesen
Stunden ihr Gemüt; sie vergaßen, woher sie kamen und wohin sie gingen,
und benahmen sich so fein und ordentlich dabei, dass trotz aller frohen Erregung
und Bewegung Vrenchens niedlicher einfacher Aufputz so frisch und unversehrt blieb,
wie er am Morgen gewesen war. Sali betrug sich auf diesem Wege nicht wie ein beinahe
zwanzigjähriger Landbursche oder der Sohn eines verkommenen Schenkwirtes,
sondern wie wenn er einige Jahre jünger und sehr wohlerzogen wäre,
und es war beinahe komisch, wie er nur immer sein feines lustiges Vrenchen ansah,
voll Zärtlichkeit, Sorgfalt und Achtung. Denn die armen Leutchen mussten
an diesem einen Tage, der ihnen vergönnt war, alle Manieren und Stimmungen
der Liebe durchleben und sowohl die verlorenen Tage der zarteren Zeit nachholen
als das leidenschaftliche Ende vorausnehmen mit der Hingabe ihres Lebens.

So liefen sie sich wieder hungrig und waren erfreut, von der Höhe eines
schattenreichen Berges ein glänzendes Dorf vor sich zu sehen, wo sie
Mittag halten wollten. Sie stiegen rasch hinunter, betraten dann aber ebenso
sittsam diesen Ort, wie sie den vorigen verlassen. Es war niemand um den Weg,
der sie erkannt hätte; denn besonders Vrenchen war die letzten Jahre
hindurch gar nicht unter die Leute und noch weniger in andere Dörfer
gekommen. Deshalb stellten sie ein wohlgefälliges ehrsames Pärchen
vor, das irgendeinen angelegentlichen Gang tut. Sie gingen ins erste Wirtshaus
des Dorfes, wo Sali ein erkleckliches Mahl bestellte; ein eigener Tisch wurde
ihnen sonntäglich gedeckt, und sie saßen wieder still und bescheiden
daran und beguckten die schön getäfelten Wände von gebohntem
Nussbaumholz, das ländliche, aber glänzende und wohlbestellte
Büffet von gleichem Holze und die klaren weißen Fenstervorhänge.
Die Wirtin trat zutulich herzu und setzte ein Geschirr voll frischer Blumen auf
den Tisch. »Bis die Suppe kommt«, sagte sie, »könnt ihr,
wenn es euch gefällig ist, einstweilen die Augen sättigen an dem
Strauße. Allem Anschein nach, wenn es erlaubt ist zu fragen, seid ihr ein
junges Brautpaar, das gewiss nach der Stadt geht, um sich morgen kopulieren
zu lassen?« Vrenchen wurde rot und wagte nicht aufzusehen, Sali sagte auch
nichts, und die Wirtin fuhr fort: »Nun, ihr seid freilich beide noch wohl
jung, aber jung geheiratet lebt lang, sagt man zuweilen, und ihr seht wenigstens
hübsch und brav aus und braucht euch nicht zu verbergen. Ordentliche Leute
können etwas zuwege bringen, wenn sie so jung zusammenkommen und fleißig
und treu sind. Aber das muss man freilich sein, denn die Zeit ist kurz und
doch lang und es kommen viele Tage, viele Tage! Je nun, schön genug sind
sie und amüsant dazu, wenn man gut haushält damit! Nichts für
ungut, aber es freut mich, euch anzusehen, so ein schmuckes Pärchen seid
ihr!« Die Kellnerin brachte die Suppe, und da sie einen Teil dieser Worte
noch gehört und lieber selbst geheiratet hätte, so sah sie Vrenchen
mit scheelen Augen an, welches nach ihrer Meinung so gedeihliche Wege ging.
In der Nebenstube ließ die unliebliche Person ihren Unmut frei und sagte
zur Wirtin, welche dort zu schaffen hatte, so laut, dass man es hören
konnte: »Das ist wieder ein rechtes Hudelvölkchen, das, wie es geht
und steht, nach der Stadt läuft und sich kopulieren lässt, ohne
einen Pfennig, ohne Freunde, ohne Aussteuer und ohne Aussicht als auf Armut
und Bettelei! Wo soll das noch hinaus, wenn solche Dinger heiraten, die die
Jüppe noch nicht allein anziehen und keine Suppe kochen können?
Ach der hübsche junge Mensch kann mich nur dauern, der ist schön
petschiert mit seiner jungen Gungeline!« - »Bscht! willst du wohl
schweigen, du hässiges Ding!«, sagte die Wirtin, »denen lasse
ich nichts geschehen! Das sind gewiss zwei recht ordentliche Leutlein aus
den Bergen, wo die Fabriken sind; dürftig sind sie gekleidet, aber sauber,
und wenn sie sich nur gern haben und arbeitsam sind, so werden sie weiter kommen
als du mit deinem bösen Maul! Du kannst freilich noch lang warten, bis dich
einer abholt, wenn du nicht freundlicher bist, du Essighafen!«

So genoss Vrenchen alle Wonnen einer Braut, die zur Hochzeit reiset: die
wohlwollende Ansprache und Aufmunterung einer sehr vernünftigen Frau,
den Neid einer heiratslustigen bösen Person, welche aus Ärger den
Geliebten lobte und bedauerte, und ein leckeres Mittagsmahl an der Seite eben
dieses Geliebten! Es glühte im Gesicht wie eine rote Nelke, das Herz klopfte
ihm, aber es aß und trank nichtsdestominder mit gutem Appetit und war mit der
aufwartenden Kellnerin nur um so artiger, konnte aber nicht unterlassen, dabei den
Sali zärtlich anzusehen und mit ihm zu lispeln, sodass es diesem auch
ganz kraus im Gemüt wurde. Sie saßen indessen lang und gemächlich
am Tische, wie wenn sie zögerten und sich scheuten, aus der holden Täuschung
herauszugehen. Die Wirtin brachte zum Nachtisch süßes Backwerk, und Sali
bestellte feinern und stärkern Wein dazu, welcher Vrenchen feurig durch die
Adern rollte, als es ein wenig davon trank; aber es nahm sich in acht, nippte
bloß zuweilen und saß so züchtig und verschämt da wie eine
wirkliche Braut. Halb spielte es aus Schalkheit diese Rolle und aus Lust, zu
versuchen, wie es tue, halb war es ihm in der Tat so zumut und vor Bangigkeit
und heißer Liebe wollte ihm das Herz brechen, sodass es ihm zu eng
ward innerhalb der vier Wände und es zu gehen begehrte. Es war, als ob
sie sich scheuten, auf dem Wege wieder so abseits und allein zu sein; denn sie
gingen unverabredet auf der Hauptstraße weiter, mitten durch die Leute,
und sahen weder rechts noch links. Als sie aber aus dem Dorfe waren und auf
das nächst gelegene zugingen, wo Kirchweih war, hing sich Vrenchen an Salis
Arm und flüsterte mit zitternden Worten: »Sali! warum sollen wir uns
nicht haben und glücklich sein?« - »Ich weiß auch nicht
warum!«, erwiderte er und heftete seine Augen an den milden Herbstsonnenschein,
der auf den Auen webte, und er musste sich bezwingen und das Gesicht ganz
sonderbar verziehen. Sie standen still, um sich zu küssen; aber es zeigten
sich Leute, und sie unterließen es und zogen weiter. Das große Kirchdorf,
in dem Kirchweih war, belebte sich schon von der Lust des Volkes; aus dem
stattlichen Gasthofe tönte eine pomphafte Tanzmusik, da die jungen Dörfler
bereits um Mittag den Tanz angehoben, und auf dem Platz vor dem Wirtshause war ein
kleiner Markt aufgeschlagen, bestehend aus einigen Tischen mit Süßigkeiten
und Backwerk und ein paar Buden mit Flitterstaat, um welche sich die Kinder und
dasjenige Volk drängten, welches sich einstweilen mehr mit Zusehen begnügte.
Sali und Vrenchen traten auch zu den Herrlichkeiten und ließen ihre Augen
darüber fliegen; denn beide hatten zugleich die Hand in der Tasche und
jedes wünschte dem andern etwas zu schenken, da sie zum ersten und einzigen
Male miteinander zu Markt waren; Sali kaufte ein großes Haus von Lebkuchen,
das mit Zuckerguss freundlich geweißt war, mit einem grünen Dach,
auf welchem weiße Tauben saßen und aus dessen Schornstein ein Amörchen
guckte als Kaminfeger; an den offenen Fenstern umarmten sich pausbäckige
Leutchen mit winzig kleinen roten Mündchen, die sich recht eigentlich
küssten, da der flüchtige praktische Maler mit einem Kleckschen
gleich zwei Mündchen gemacht, die so ineinander verflossen. Schwarze
Pünktchen stellten muntere Äuglein vor. Auf der rosenroten Haustür
aber waren diese Verse zu lesen:
Tritt in mein Haus, o Liebste!
Doch sei dir unverhehlt:
Drin wird allein nach Küssen
Gerechnet und gezählt.
Die Liebste sprach: »O Liebster,
Mich schrecket nichts zurück!
Hab alles wohl erwogen:
In dir nur lebt mein Glück!
Und wenn ich's recht bedenke,
Kam ich deswegen auch!«
Nun denn, spazier mit Segen
Herein und üb den Brauch!
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Ein Herr in einem blauen Frack und eine Dame mit einem sehr hohen Busen komplimentierten
sich diesen Versen gemäß in das Haus hinein, links und rechts an
die Mauer gemalt. Vrenchen schenkte Sali dagegen ein Herz, auf dessen einer
Seite ein Zettelchen klebte mit den Worten:
Ein süßer Mandelkern steckt in dem Herze hier,
Doch süßer als der Mandelkern ist meine Lieb zu dir!
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Und auf der anderen Seite:
Wenn du dies Herz gegessen, vergiss dies Sprüchlein nicht:
Viel eh'r als meine Liebe mein braunes Auge bricht!
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Sie lasen eifrig die Sprüche, und nie ist etwas Gereimtes und Gedrucktes
schöner befunden und tiefer empfunden worden als diese
Pfefferkuchensprüche; sie hielten, was sie lasen, in besonderer
Absicht auf sich gemacht, so gut schien es ihnen zu passen. »Ach«,
seufzte Vrenchen, »du schenkst mir ein Haus! Ich habe dir auch eines
und erst das wahre geschenkt; denn unser Herz ist jetzt unser Haus, darin
wir wohnen, und wir tragen so unsere Wohnung mit uns, wie die Schnecken!
Andere haben wir nicht!« »Dann sind wir aber zwei Schnecken,
von denen jede das Häuschen der andern trägt!«, sagte Sali,
und Vrenchen erwiderte: »Desto weniger dürfen wir voneinander
gehen, damit jedes seiner Wohnung nah bleibt!« Doch wussten sie
nicht, dass sie in ihren Reden eben solche Witze machten als auf den
vielfach geformten Lebkuchen zu lesen waren, und fuhren fort diese
süße einfache Liebesliteratur zu studieren, die da ausgebreitet
lag und besonders auf vielfach verzierte kleine und große Herzen
geklebt war. Alles dünkte sie schön und einzig zutreffend; als
Vrenchen auf einem vergoldeten Herzen, das wie eine Lyra mit Saiten bespannt
war, las: »Mein Herz ist wie ein Zitherspiel, rührt man es viel,
so tönt es viel!«, ward ihm so musikalisch zumut, dass es
glaubte, sein eigenes Herz klingen zu hören. Ein Napoleonsbild war
da, welches aber auch der Träger eines verliebten Spruches sein
musste, denn es stand darunter geschrieben: »Groß war
der Held Napoleon, sein Schwert von Stahl, sein Herz von Ton; meine
Liebe trägt ein Röslein frei, doch ist ihr Herz wie Stahl
so treu« - Während sie aber beiderseitig in das Lesen
vertieft schienen, nahm jedes die Gelegenheit wahr, einen heimlichen
Einkauf zu machen. Sali kaufte für Vrenchen ein vergoldetes
Ringelchen mit einem grünen Glassteinchen und Vrenchen einen Ring
von schwarzem Gämshorn, auf welchem ein goldenes Vergissmeinnicht
eingelegt war. Wahrscheinlich hatten sie den gleichen Gedanken, sich diese
armen Zeichen bei der Trennung zu geben.

Während sie in diese Dinge sich versenkten, waren sie so vergessen,
dass sie nicht bemerkten, wie nach und nach ein weiter Ring sich um sie
gebildet hatte von Leuten, die sie aufmerksam und neugierig betrachteten.
Denn da viele junge Bursche und Mädchen aus ihrem Dorfe hier waren,
so waren sie erkannt worden, und alles stand jetzt in einiger Entfernung
um sie herum und sah mit Verwunderung auf das wohlgeputzte Paar, welches
in andächtiger Innigkeit die Welt um sich her zu vergessen schien.
»Ei seht!«, hieß es, »das ist ja wahrhaftig das Vrenchen
Marti und der Sali aus der Stadt! Die haben sich ja säuberlich gefunden
und verbunden! Und welche Zärtlichkeit und Freundschaft, seht doch,
seht! Wo die wohl hinaus wollen?« Die Verwunderung dieser Zuschauer
war ganz seltsam gemischt aus Mitleid mit dem Unglück, aus Verachtung
der Verkommenheit und Schlechtigkeit der Eltern und aus Neid gegen das
Glück und die Einigkeit des Paares, welches auf eine ganz
ungewöhnliche und fast vornehme Weise verliebt und aufgeregt war
und in dieser rückhaltlosen Hingebung und Selbstvergessenheit dem
rohen Völkchen ebenso fremd erschien wie in seiner Verlassenheit
und Armut. Als sie daher endlich aufwachten und um sich sahen, erschauten
sie nichts als gaffende Gesichter von allen Seiten; niemand grüßte
sie und sie wussten nicht, sollten sie jemand grüßen, und
diese Verfremdung und Unfreundlichkeit war von beiden Seiten mehr
Verlegenheit als Absicht. Es wurde Vrenchen bang und heiß, es
wurde bleich und rot, Sali nahm es aber bei der Hand und führte
das arme Wesen hinweg, das ihm mit seinem Haus in der Hand willig
folgte, obgleich die Trompeten im Wirtshause lustig schmetterten und
Vrenchen so gern tanzen wollte. »Hier können wir nicht
tanzen!«, sagte Sali, als sie sich etwas entfernt hatten, »wir
würden hier wenig Freude haben, wie es scheint!« »Jedenfalls«,
sagte Vrenchen traurig, »es wird auch am besten sein, wir lassen es
ganz bleiben und ich sehe, wo ich ein Unterkommen finde!«
»Nein«, rief Sali, »du sollst einmal tanzen, ich habe
dir darum Schuhe gebracht! Wir wollen gehen, wo das arme Volk sich
lustig macht, zu dem wir jetzt auch gehören, da werden sie uns
nicht verachten; im Paradiesgärtchen wird jedes Mal auch getanzt,
wenn hier Kirchweih ist, da es in die Kirchgemeinde gehört, und
dorthin wollen wir gehen, dort kannst du zur Not auch übernachten.«
Vrenchen schauerte zusammen bei dem Gedanken, nun zum ersten Mal an einem
unbekannten Ort zu schlafen; doch folgte es willenlos seinem Führer,
der jetzt alles war, was es in der Welt hatte. Das Paradiesgärtlein
war ein schön gelegenes Wirtshaus an einer einsamen Berghalde, das
weit über das Land weg sah, in welchem aber an solchen
Vergnügungstagen nur das ärmere Volk, die Kinder der ganz
kleinen Bauern und Tagelöhner und sogar mancherlei fahrendes Gesinde
verkehrte. Vor hundert Jahren war es als ein kleines Landhaus von einem
reichen Sonderling gebaut worden, nach welchem niemand mehr da wohnen mochte,
und da der Platz sonst zu nichts zu gebrauchen war, so geriet der wunderliche
Landsitz in Verfall und zuletzt in die Hände eines Wirtes, der da sein
Wesen trieb. Der Name und die demselben entsprechende Bauart waren aber dem
Hause geblieben. Es bestand nur aus einem Erdgeschoss, über welchem
ein offener Estrich gebaut war,
dessen Dach an den vier Ecken von Bildern aus
Sandstein getragen wurde, so die vier Erzengel vorstellten und gänzlich
verwittert waren. Auf dem Gesimse des Daches saßen ringsherum kleine
musizierende Engel mit dicken Köpfen und Bäuchen, den Triangel,
die Geige, die Flöte, Zimbel und Tamburin spielend, ebenfalls aus
Sandstein, und die Instrumente waren ursprünglich vergoldet gewesen.
Die Decke inwendig sowie die Brustwehr des Estrichs und das übrige
Gemäuer des Hauses waren mit verwaschenen Freskomalereien bedeckt,
welche lustige Engelscharen sowie singende und tanzende Heilige darstellten.
Aber alles war verwischt und undeutlich wie ein Traum und überdies
reichlich mit Weinreben übersponnen, und blaue reifende Trauben hingen
überall in dem Laube. Um das Haus herum standen verwilderte Kastanienbäume,
und knorrige starke Rosenbüsche, auf eigene Hand fortlebend, wuchsen da
und dort so wild herum wie anderswo die Holunderbäume. Der Estrich diente
zum Tanzsaal; als Sali mit Vrenchen daherkam, sahen sie schon von Weitem die
Paare unter dem offenen Dache sich drehen, und rund um das Haus zechten und
lärmten eine Menge lustiger Gäste. Vrenchen, welches andächtig
und wehmütig sein Liebeshaus trug,
glich einer heiligen Kirchenpatronin auf alten Bildern, welche das Modell
eines Domes oder Klosters auf der Hand hält, so sie gestiftet; aber aus
der frommen Stiftung, die ihm im Sinne lag, konnte nichts werden. Als es aber
die wilde Musik hörte, welche vom Estrich ertönte, vergaß es
sein Leid und verlangte endlich nichts, als mit Sali zu tanzen. Sie drängten
sich durch die Gäste, die vor dem Hause saßen und in der Stube,
verlumpte Leute aus Seldwyla, die eine billige Landpartie machten, armes
Volk von allen Enden, und stiegen die Treppe hinauf, und sogleich drehten
sie sich im Walzer herum, keinen Blick voneinander abwendend. Erst als der
Walzer zu Ende, sahen sie sich um; Vrenchen hatte sein Haus zerdrückt
und zerbrochen und wollte eben betrübt darüber werden, als es
noch mehr erschrak über den schwarzen Geiger, in dessen Nähe sie
standen. Er saß auf einer Bank, die auf einem Tische stand, und sah so
schwarz aus wie gewöhnlich; nur hatte er heute einen grünen
Tannenbusch auf sein Hütchen gesteckt, zu seinen Füßen hatte
er eine Flasche Rotwein und ein Glas stehen, welche er nie umstieß,
obgleich er fortwährend mit den Beinen strampelte, wenn er geigte, und
so eine Art von Eiertanz damit vollbrachte. Neben ihm saß noch ein
schöner, aber trauriger junger Mensch mit einem Waldhorn, und ein
Buckliger stand an einer Bassgeige. Sali erschrak auch, als er den Geiger
erblickte; dieser grüßte sie aber auf das Freundlichste und rief:
»Ich habe doch gewusst, dass ich euch noch einmal aufspielen
werde! So macht euch nur recht lustig, ihr Schätzchen, und tut mir
Bescheid!« Er bot Sali das volle Glas, und Sali trank und tat ihm
Bescheid. Als der Geiger sah, wie erschrocken Vrenchen war, suchte er ihm
freundlich zuzureden und machte einige fast anmutige Scherze, die es zum
Lachen brachten. Es ermunterte sich wieder, und nun waren sie froh, hier
einen Bekannten zu haben und gewissermaßen unter dem besondern Schutze
des Geigers zu stehen. Sie tanzten nun ohne Unterlass, sich und die Welt
vergessend in dem Drehen, Singen und Lärmen, welches in und außer
dem Hause rumorte und vom Berge weit in die Gegend hinausschallte, welche
sich allmählich in den silbernen Duft des Herbstabends hüllte.
Sie tanzten, bis es dunkelte und der größere Teil der lustigen
Gäste sich schwankend und johlend nach allen Seiten entfernte. Was
noch zurückblieb, war das eigentliche Hudelvölkchen, welches
nirgends zu Hause war und sich zum guten Tag auch noch eine gute Nacht
machen wollte. Unter diesen waren einige, welche mit dem Geiger gut bekannt
schienen und fremdartig aussahen in ihrer zusammengewürfelten Tracht.
Besonders ein junger Bursche fiel auf, der eine grüne Manchesterjacke
trug und einen zerknitterten Strohhut, um den er einen Kranz von Ebereschen
oder Vogelbeerbüscheln gebunden hatte. Dieser führte eine wilde
Person mit sich, die einen Rock von kirschrotem weißgetüpfeltem
Kattun trug und sich einen Reifen von Rebenschoßen um den Kopf gebunden,
sodass an jeder Schläfe eine blaue Traube hing. Dies Paar war
das ausgelassenste von allen, tanzte und sang unermüdlich und war
in allen Ecken zugleich. Dann war noch ein schlankes hübsches
Mädchen da, welches ein schwarzseidenes abgeschossenes Kleid trug
und ein weißes Tuch um den Kopf, dass der Zipfel über den
Rücken fiel. Das Tuch zeigte rote, eingewobene Streifen und war eine
gute leinene Handzwehle oder Serviette. Darunter leuchteten aber ein paar
veilchenblaue Augen hervor. Um den Hals und auf der Brust hing eine
sechsfache Kette von Vogelbeeren auf einen Faden gezogen und ersetzte die
schönste Korallenschnur. Diese Gestalt tanzte fortwährend allein
mit sich selbst und verweigerte hartnäckig mit einem der Gesellen zu
tanzen. Nichtsdestominder bewegte sie sich anmutig und leicht herum und
lächelte jedes Mal, wenn sie sich an dem traurigen Waldhornbläser
vorüberdrehte, wozu dieser immer den Kopf abwandte. Noch einige andere
vergnügte Frauensleute waren da mit ihren Beschützern, alle von
dürftigem Aussehen, aber sie waren um so lustiger und in bester Eintracht
untereinander. Als es gänzlich dunkel war, wollte der Wirt keine Lichter
anzünden, da er behauptete, der Wind lösche sie aus, auch ginge der
Vollmond sogleich auf, und für das, was ihm diese Herrschaften einbrächten,
sei das Mondlicht gut genug. Diese Eröffnung wurde mit großem
Wohlgefallen aufgenommen; die ganze Gesellschaft stellte sich an die Brüstung
des luftigen Saales und sah dem Aufgange des Gestirnes entgegen, dessen Röte
schon am Horizonte stand; und sobald der Mond aufging und sein Licht quer durch
den Estrich des Paradiesgärtels warf, tanzten sie im Mondschein weiter, und
zwar so still, artig und seelenvergnügt, als ob sie im Glanze von hundert
Wachskerzen tanzten. Das seltsame Licht machte alle vertrauter, und so konnten
Sali und Vrenchen nicht umhin, sich unter die gemeinsame Lustbarkeit zu mischen
und auch mit andern zu tanzen. Aber jedes Mal, wenn sie ein Weilchen getrennt
gewesen, flogen sie zusammen und feierten ein Wiedersehen, als ob sie sich
jahrelang gesucht und endlich gefunden. Sali machte ein trauriges und unmutiges
Gesicht, wenn er mit einer anderen tanzte, und drehte fortwährend das Gesicht
nach Vrenchen hin, welches ihn nicht ansah, wenn es vorüberschwebte, glühte
wie eine Purpurrose und überglücklich schien, mit wem es auch tanzte.
»Bist du eifersüchtig, Sali?«, fragte es ihn, als die Musikanten
müde waren und aufhörten. »Gott bewahre!«, sagte er, »ich
wüsste nicht, wie ich es anfangen sollte!« - »Warum bist du
denn so bös, wenn ich mit andern tanze?« - »Ich bin nicht
darüber bös, sondern weil ich mit andern tanzen muss! Ich kann
kein anderes Mädchen ausstehen, es ist mir, als wenn ich ein Stück
Holz im Arm habe, wenn du es nicht bist! Und du? wie geht es dir?« -
»Oh, ich bin immer wie im Himmel, wenn ich nur tanze und weiß,
dass du zugegen bist! Aber ich glaube, ich würde sogleich tot umfallen,
wenn du weggingest und mich daließest!« Sie waren hinabgegangen und
standen vor dem Hause; Vrenchen umschloss ihn mit beiden Armen, schmiegte
seinen schlanken zitternden Leib an ihn, drückte seine glühende Wange,
die von heißen Tränen feucht war, an sein Gesicht und sagte schluchzend:
»Wir können nicht zusammen sein, und doch kann ich nicht von dir lassen,
nicht einen Augenblick mehr, nicht eine Minute!« Sali umarmte und drückte
das Mädchen heftig an sich und bedeckte es mit Küssen. Seine verwirrten
Gedanken rangen nach einem Ausweg, aber er sah keinen. Wenn auch das Elend und die
Hoffnungslosigkeit seiner Herkunft zu überwinden gewesen wären, so war
seine Jugend und unerfahrene Leidenschaft nicht beschaffen, sich eine lange Zeit
der Prüfung und
Entsagung vorzunehmen und zu überstehen, und dann wäre
erst noch Vrenchens Vater dagewesen, welchen er zeitlebens elend gemacht. Das Gefühl,
in der bürgerlichen Welt nur in einer ganz ehrlichen und gewissenfreien Ehe
glücklich sein zu können, war in ihm ebenso lebendig wie in Vrenchen,
und in beiden verlassenen Wesen war es die letzte Flamme der Ehre, die in früheren
Zeiten in ihren Häusern geglüht hatte und welche die sich sicher fühlenden
Väter durch einen unscheinbaren Missgriff ausgeblasen und zerstört
hatten, als sie, eben diese Ehre zu äufnen wähnend durch Vermehrung ihres
Eigentums, so gedankenlos sich das Gut eines Verschollenen aneigneten, ganz gefahrlos,
wie sie meinten. Das geschieht nun freilich alle Tage; aber zuweilen stellt das
Schicksal ein Exempel auf und lässt zwei solche Äufner ihrer Hausehre
und ihres Gutes zusammentreffen, die sich dann unfehlbar aufreiben und auffressen wie
zwei wilde Tiere. Denn die Mehrer des Reiches verrechnen sich nicht nur auf den Thronen,
sondern zuweilen auch in den niedersten Hütten und langen ganz am entgegengesetzten
Ende an, als wohin sie zu kommen trachteten, und der Schild der Ehre ist im Umsehen eine
Tafel der Schande. Sali und Vrenchen hatten aber noch die Ehre ihres Hauses gesehen in
zarten Kinderjahren und erinnerten sich, wie wohlgepflegte Kinderchen sie gewesen und
dass ihre Väter ausgesehen wie andere Männer, geachtet und sicher. Dann
waren sie auf lange getrennt worden, und als sie sich wiederfanden, sahen sie in sich
zugleich das verschwundene Glück des Hauses, und beider Neigung klammerte sich
nur um so heftiger ineinander. Sie mochten so gern fröhlich und glücklich
sein, aber nur auf einem guten Grund und Boden, und dieser schien ihnen unerreichbar,
während ihr wallendes Blut am liebsten gleich zusammengeströmt wäre.
»Nun ist es Nacht«, rief Vrenchen, »und wir sollen uns trennen!« -
»Ich soll nach Hause gehen und dich allein lassen?«, rief Sali, »nein,
das kann ich nicht!« - »Dann wird es Tag werden und nicht besser um uns
stehen!«

»Ich will euch einen guten Rat geben, ihr närrischen Dinger!«, tönte
eine schrille Stimme hinter ihnen, und der Geiger trat vor sie hin. »Da steht ihr«,
sagte er, »wisst nicht wo hinaus und hättet euch gern. Ich rate euch,
nehmt euch, wie ihr seid, und säumet nicht. Kommt mit mir und meinen guten Freunden
in die Berge, da brauchet ihr keinen Pfarrer, kein Geld, keine Schriften, keine Ehre,
kein Bett, nichts als euern guten Willen! Es ist gar nicht so übel bei uns, gesunde
Luft und genug zu essen, wenn man tätig ist; die grünen Wälder sind unser
Haus, wo wir uns liebhaben, wie es uns gefällt, und im Winter machen wir uns die
wärmsten Schlupfwinkel oder kriechen den Bauern ins warme Heu. Also kurz entschlossen,
haltet gleich hier Hochzeit und kommt mit uns, dann seid ihr aller Sorgen los und habt
euch für immer und ewiglich, solange es euch gefällt wenigstens; denn alt werdet
ihr bei unserm freien Leben, das könnt ihr glauben! Denkt nicht etwa, dass ich
euch nachtragen will, was eure Alten an mir getan! Nein! es macht mir zwar Vergnügen,
euch da angekommen zu sehen, wo ihr seid; allein damit bin ich zufrieden und werde euch
behilflich und dienstfertig sein, wenn ihr mir folgt.« Er sagte das wirklich in einem
aufrichtigen und gemütlichen Tone. »Nun, besinnt euch ein bisschen, aber
folget mir, wenn ich euch gut zum Rat bin! Lasst fahren die Welt und nehmet euch und
fraget niemandem was nach! Denkt an das lustige Hochzeitbett im tiefen Wald oder auf
einem Heustock, wenn es euch zu kalt ist!« Damit ging er ins Haus. Vrenchen zitterte
in Salis Armen und dieser sagte: »Was meinst du dazu? Mich dünkt, es wäre
nicht übel, die ganze Welt in den Wind zu schlagen und uns dafür zu lieben ohne
Hindernis und Schranken!« Er sagte es aber mehr als einen verzweifelten Scherz denn
im Ernst. Vrenchen aber erwiderte ganz treuherzig und küsste ihn: »Nein,
dahin möchte ich nicht gehen, denn da geht es auch nicht nach meinem Sinne zu. Der
junge Mensch mit dem Waldhorn und das Mädchen in dem seidenen Rock gehören
auch so zueinander und sollen sehr verliebt gewesen sein. Nun sei letzte Woche die Person
ihm zum ersten Mal untreu geworden, was ihm nicht in den Kopf wolle, und deshalb sei er so
traurig und schmolle mit ihr und mit den andern, die ihn auslachen. Sie aber tut eine
mutwillige Buße, indem sie allein tanzt und mit niemandem spricht, und lacht ihn
auch nur aus damit. Dem armen Musikanten sieht man es jedoch an, dass er sich noch
heute mit ihr versöhnen wird. Wo es aber so hergeht, möchte ich nicht sein,
denn nie möcht ich dir untreu werden, wenn ich auch sonst noch alles ertragen würde,
um dich zu besitzen!« Indessen aber fieberte das arme Vrenchen immer heftiger an Salis
Brust; denn schon seit dem Mittag, wo jene Wirtin es für eine Braut gehalten und es
eine solche ohne Widerrede vorgestellt, tobte ihm das Brautwesen im Blute, und je
hoffnungsloser es war, um so wilder und unbezwinglicher. Dem Sali erging es ebenso
schlimm, da die Reden des Geigers, so wenig er ihnen folgen mochte, dennoch seinen
Kopf verwirrten, und er sagte mit ratlos stockender Stimme: »Komm herein, wir
müssen wenigstens noch was essen und trinken.« Sie gingen in die Gaststube,
wo niemand mehr war als die kleine Gesellschaft der Heimatlosen, welche bereits um
einen Tisch saß und eine spärliche Mahlzeit hielt. »Da kommt unser
Hochzeitpaar!«, rief der Geiger, »jetzt seid lustig und fröhlich und
lasst euch zusammengeben!« Sie wurden an den Tisch genötigt und
flüchteten sich vor sich selbst an denselben hin; sie waren froh, nur für
den Augenblick unter Leuten zu sein. Sali bestellte Wein und reichlichere Speisen,
und es begann eine große Fröhlichkeit. Der Schmollende hatte sich mit der
Untreuen versöhnt, und das Paar liebkoste sich in begieriger Seligkeit; das andere
wilde Paar sang und trank und ließ es ebenfalls nicht an Liebesbezeugungen fehlen,
und der Geiger nebst dem buckligen Bassgeiger lärmten ins Blaue hinein. Sali
und Vrenchen waren still und hielten sich umschlungen; auf einmal gebot der Geiger
Stille und führte eine spaßhafte Zeremonie auf, welche eine Trauung vorstellen
sollte. Sie mussten sich die Hände geben, und die Gesellschaft stand auf und
trat der Reihe nach zu ihnen, um sie zu beglückwünschen und in ihrer
Verbrüderung willkommen zu heißen. Sie ließen es geschehen, ohne ein
Wort zu sagen, und betrachteten es als einen Spaß, während es sie doch kalt
und heiß durchschauerte.

Die kleine Versammlung wurde jetzt immer lauter und aufgeregter, angefeuert durch
den stärkern Wein, bis plötzlich der Geiger zum Aufbruch mahnte.
»Wir haben weit«, rief er, »und Mitternacht ist vorüber! Auf!
Wir wollen dem Brautpaar das Geleit geben, und ich will vorausgeigen, dass es
eine Art hat!« Da die ratlosen Verlassenen nichts Besseres wussten und
überhaupt ganz verwirrt waren, ließen sie abermals geschehen, dass
man sie voranstellte und die übrigen zwei Paare einen Zug hinter ihnen
formierten, welchen der Bucklige abschloss mit seiner Bassgeige über
der Schulter. Der Schwarze zog voraus und spielte auf seiner Geige wie besessen den
Berg hinunter, und die andern lachten, sangen und sprangen hintendrein. So strich
der tolle nächtliche Zug durch die stillen Felder und durch das Heimatdorf
Salis und Vrenchens, dessen Bewohner längst schliefen.

Als sie durch die stillen Gassen kamen und an ihren verlorenen Vaterhäusern
vorüber, ergriff sie eine schmerzhaft wilde Laune und sie tanzten mit den andern
um die Wette hinter dem Geiger her, küssten sich, lachten und weinten. Sie
tanzten auch den Hügel hinauf, über welchen der Geiger sie führte,
wo die drei Äcker lagen, und oben strich der schwärzliche Kerl die Geige
noch einmal so wild, sprang und hüpfte wie ein Gespenst, und seine Gefährten
blieben nicht zurück in der Ausgelassenheit, sodass es ein wahrer Blocksberg
war in der stillen Höhe; selbst der Bucklige sprang keuchend mit seiner Last herum,
und keines schien mehr das andere zu sehen. Sali fasste Vrenchen fester in den Arm
und zwang es stillzustehen; denn er war zuerst zu sich gekommen. Er küsste es,
damit es schweige, heftig auf den Mund, da es sich ganz vergessen hatte und laut sang.
Es verstand ihn endlich, und sie standen still und lauschend, bis ihr tobendes
Hochzeitgeleite das Feld entlanggerast war und, ohne sie zu vermissen, am Ufer des
Stromes hinauf sich verzog. Die Geige, das Gelächter der Mädchen und die
Jauchzer der Bursche tönten aber noch eine gute Zeit durch die Nacht, bis
zuletzt alles verklang und still wurde.

»Diesen sind wir entflohen«, sagte Sali, »aber wie entfliehen wir
uns selbst? Wie meiden wir uns?«

Vrenchen war nicht imstande zu antworten und lag hoch aufatmend an seinem Halse.
»Soll ich dich nicht lieber ins Dorf zurückbringen und Leute wecken,
dass sie dich aufnehmen? Morgen kannst du ja dann deines Weges ziehen, und
gewiss wird es dir wohlgehen, du kommst überall fort!«

»Fortkommen, ohne dich!«

»Du musst mich vergessen!«

»Das werde ich nie! Könntest denn du es tun?«

»Darauf kommt's nicht an, mein Herz!«, sagte Sali und streichelte ihm die
heißen Wangen, je nachdem es sie leidenschaftlich an seiner Brust herumwarf,
»es handelt sich jetzt nur um dich; du bist noch so ganz jung und es kann dir
noch auf allen Wegen gut gehen!«

»Und dir nicht auch, du alter Mann?«

»Komm!«, sagte Sali und zog es fort. Aber sie gingen nur einige Schritte
und standen wieder still, um sich bequemer zu umschlingen und zu herzen. Die Stille
der Welt sang und musizierte ihnen durch die Seelen, man hörte nur den Fluss
unten sacht und lieblich rauschen im langsamen Ziehen.

»Wie schön ist es da ringsherum! Hörst du nicht etwas tönen,
wie ein schöner Gesang oder ein Geläute?«

»Es ist das Wasser, das rauscht! Sonst ist alles still.«

»Nein, es ist noch etwas anderes, hier, dort hinaus, überall tönt's!«

»Ich glaube, wir hören unser eigenes Blut in unsern Ohren rauschen!«

Sie horchten ein Weilchen auf diese eingebildeten oder wirklichen Töne, welche
von der großen Stille herrührten oder welche sie mit den magischen Wirkungen
des Mondlichtes verwechselten, welches nah und fern über die weißen Herbstnebel
wallte, welche tief auf den Gründen lagen. Plötzlich fiel Vrenchen etwas ein;
es suchte in seinem Brustgewand und sagte: »Ich habe dir noch ein Andenken gekauft,
das ich dir geben wollte!« Und es gab ihm den einfachen Ring und steckte ihm
denselben selbst an den Finger. Sali nahm sein Ringlein auch hervor und steckte ihn
an Vrenchens Hand, indem er sagte: »So haben wir die gleichen Gedanken gehabt!«
Vrenchen hielt seine Hand in das bleiche Silberlicht und betrachtete den Ring.
»Ei, wie ein feiner Ring!«, sagte es lachend; »nun sind wir aber
doch verlobt und versprochen, du bist mein Mann und ich deine Frau, wir wollen
es einmal einen Augenblick lang denken, nur bis jener Nebelstreif am Mond vorüber
ist oder bis wir zwölf gezählt haben! Küsse mich zwölf Mal!«

Sali liebte gewiss ebenso stark als Vrenchen, aber die Heiratsfrage war in
ihm doch nicht so leidenschaftlich lebendig als ein bestimmtes Entweder-Oder, als
ein unmittelbares Sein oder Nichtsein, wie in Vrenchen, welches nur das eine zu fühlen
fähig war und mit leidenschaftlicher Entschiedenheit unmittelbar Tod oder Leben
darin sah. Aber jetzt ging ihm endlich ein Licht auf, und das weibliche Gefühl
des jungen Mädchens ward in ihm auf der Stelle zu einem wilden und heißen
Verlangen, und eine glühende Klarheit erhellte ihm die Sinne. So heftig er
Vrenchen schon umarmt und liebkost hatte, tat er es jetzt doch ganz anders und
stürmischer und übersäete es mit Küssen. Vrenchen fühlte
trotz aller eigenen Leidenschaft auf der Stelle diesen Wechsel, und ein heftiges
Zittern durchfuhr sein ganzes Wesen, aber ehe jener Nebelstreif am Monde vorüber
war, war es auch davon ergriffen. Im heftigen Schmeicheln und Ringen begegneten sich
ihre ringgeschmückten Hände und fassten sich fest, wie von selbst eine
Trauung vollziehend, ohne den Befehl eines Willens. Salis Herz klopfte bald wie mit
Hämmern, bald stand es still, er atmete schwer und sagte leise: »Es gibt
eines für uns, Vrenchen, wir halten Hochzeit zu dieser Stunde und gehen dann
aus der Welt - dort ist das tiefe Wasser - dort scheidet uns niemand mehr und wir
sind zusammen gewesen - ob kurz oder lang, das kann uns dann gleich sein.«

Vrenchen sagte sogleich: »Sali - was du da sagst, habe ich schon lang bei mir
gedacht und ausgemacht, nämlich dass wir sterben könnten und dann alles vorbei
wäre - so schwör mir es, dass du es mit mir tun willst!«

»Es ist schon so gut wie getan, es nimmt dich niemand mehr aus meiner Hand als
der Tod!«, rief Sali außer sich. Vrenchen aber atmete hoch auf, Tränen
der Freude entströmten seinen Augen; es raffte sich auf und sprang leicht wie
ein Vogel über das Feld gegen den Fluss hinunter. Sali eilte ihm nach;
denn er glaubte, es wolle ihm entfliehen, und Vrenchen glaubte, er wolle es
zurückhalten. So sprangen sie einander nach und Vrenchen lachte wie ein
Kind, welches sich nicht will fangen lassen. »Bereust du es schon?«,
rief eines zum andern, als sie am Flusse angekommen waren und sich ergriffen.
»Nein! es freut mich immer mehr!«, erwiderte ein jedes. Aller Sorgen
ledig gingen sie am Ufer hinunter und überholten die eilenden Wasser, so
hastig suchten sie eine Stätte, um sich niederzulassen; denn ihre Leidenschaft
sah jetzt nur den Rausch der Seligkeit, der in ihrer Vereinigung lag, und der ganze
Wert und Inhalt des übrigen Lebens drängte sich in diesem zusammen; was
danach kam, Tod und Untergang, war ihnen ein Hauch, ein Nichts, und sie dachten
weniger daran als ein Leichtsinniger denkt, wie er den andern Tag leben will, wenn
er seine letzte Habe verzehrt.

»Meine Blumen gehen mir voraus«, rief Vrenchen, »sieh,
sie sind ganz dahin und verwelkt!« Es nahm sie von der Brust, warf
sie ins Wasser und sang laut dazu: »Doch süßer als ein
Mandelkern ist meine Lieb zu dir!«

»Halt!«, rief Sali, »hier ist dein Brautbett!«

Sie waren an einen Fahrweg gekommen, der vom Dorfe her an den Fluss führte,
und hier war eine Landungsstelle, wo ein großes Schiff, hoch mit Heu beladen,
angebunden lag. In wilder Laune begann er unverweilt die starken Seile loszubinden.
Vrenchen fiel ihm lachend in den Arm und rief. »Was willst du tun? Wollen wir
den Bauern ihr Heuschiff stehlen zu guter Letzt?« »Das soll die Aussteuer
sein, die sie uns geben, eine schwimmende Bettstelle und ein Bett, wie noch keine
Braut gehabt! Sie werden überdies ihr Eigentum unten wiederfinden, wo es ja
doch hin soll, und werden nicht wissen, was damit geschehen ist. Sieh, schon
schwankt es und will hinaus!«

Das Schiff lag einige Schritte vom Ufer entfernt im tiefern Wasser. Sali hob
Vrenchen mit seinen Armen hoch empor und schritt durch das Wasser gegen das
Schiff; aber es liebkoste ihn so heftig ungebärdig und zappelte wie ein
Fisch, dass er im ziehenden Wasser keinen Stand halten konnte. Es strebte
Gesicht und Hände ins Wasser zu tauchen und rief »Ich will auch
das kühle Wasser versuchen! Weißt du noch, wie kalt und nass
unsere Hände waren, als wir sie uns zum ersten Mal gaben? Fische fingen
wir damals, jetzt werden wir selber Fische sein und zwei schöne große!« -
»Sei ruhig, du lieber Teufel!«, sagte Sali, der Mühe hatte,
zwischen dem tobenden Liebchen und den Wellen sich aufrecht zu halten,
»es zieht mich sonst fort!« Er hob seine Last in das Schiff und
schwang sich nach; er hob sie auf die hoch gebettete weiche und duftende
Ladung und schwang sich auch hinauf, und als sie oben saßen, trieb
das Schiff allmählich in die Mitte des Stromes hinaus und schwamm
dann, sich langsam drehend, zu Tal.

Der Fluss zog bald durch hohe dunkle Wälder, die ihn überschatteten,
bald durch offenes Land; bald an stillen Dörfern vorbei, bald an einzelnen
Hütten; hier geriet er in eine Stille, dass er einem ruhigen See glich
und das Schiff beinah stillhielt, dort strömte er um Felsen und ließ
die schlafenden Ufer schnell hinter sich; und als die Morgenröte aufstieg,
tauchte zugleich eine Stadt mit ihren Türmen aus dem silbergrauen Strome.
Der untergehende Mond, rot wie Gold, legte eine glänzende Bahn den Strom
hinauf, und auf dieser kam das Schiff langsam überquer gefahren. Als es
sich der Stadt näherte, glitten im Froste des Herbstmorgens zwei bleiche
Gestalten, die sich fest umwanden, von der dunklen Masse herunter in die kalten
Fluten.

Das Schiff legte sich eine Weile nachher unbeschädigt an eine Brücke
und blieb da stehen. Als man später unterhalb der Stadt die Leichen fand
und ihre Herkunft ausgemittelt hatte, war in den Zeitungen zu lesen, zwei junge
Leute, die Kinder zweier blutarmen zugrunde gegangenen Familien, welche in
unversöhnlicher Feindschaft lebten, hätten im Wasser den Tod gesucht,
nachdem sie einen ganzen Nachmittag herzlich miteinander getanzt und sich
belustigt auf einer Kirchweih. Es sei dies Ereignis vermutlich in Verbindung
zu bringen mit einem Heuschiff aus jener Gegend, welches ohne Schiffleute in
der Stadt gelandet sei, und man nehme an, die jungen Leute haben das Schiff
entwendet, um darauf ihre verzweifelte und gottverlassene Hochzeit zu halten,
abermals ein Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung
der Leidenschaften.