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Wenn man bedenkt, wie rücksichtslos unzeitgemäß Effi mit Innstetten verheiratet wird, so ist es eigentlich erstaunlich, daß die Duldsamkeit, mit der Fontane diese Ehestiftung schildert, bei den Lesern keinen Anstoß erregt hat. Noch erstaunlicher allerdings ist, daß man auch an Effi selbst hier nichts auszusetzen fand. Denn wenn man auch vielleicht die Motive ihrer Eltern noch verstehen kann - was motiviert sie selbst, d.h. wie kommt sie dazu, sich von einer Stunde zur anderen mit einem Mann verloben zu lassen, den sie weder liebt noch überhaupt kennt und von dem sie sogar mokant bemerkt, daß er praktisch ihr Vater sein könnte? Man könnte zu antworten geneigt sein, sie sei nicht anders erzogen worden - aber reicht Erziehung so weit? Und trifft es überhaupt zu, daß sie in diesem Sinne erzogen ist, also über genügend Disziplin und Selbstkontrolle verfügt, um einer solchen Konventionsehe gewachsen zu sein?
Denkt man über diesen Widerspruch nach, so wird man gewahr, daß sich in Effis familiärer Sozialisation zwei ganz verschiedene, ja geradezu gegensätzliche Erziehungsbilder sehr merkwürdig miteinander vermischen. Das eine ist das traditionelle Gehorsamkeits- und Anpassungsbild, demzufolge sich Effi ganz nach den Wünschen ihrer Eltern entwickelt und auch den ihr zugedachten Ehemann widerspruchslos akzeptiert. Verbunden wird dieses Bild jedoch mit Verhältnissen, die ausgesprochen liberal und für die damalige Zeit erfreulich modern sind. Was wir von Effis Erziehung sehen, ist nicht Drill und Unterwerfung, wie in Anbetracht ihrer Gefügigkeit wohl vorauszusetzen wäre, sondern es entspricht schon durchaus dem, was man von 1900 an mit dem Begriff der Reformerziehung verbinden wird. Das freie Spiel und die körperliche Ausarbeitung, die ihr - auch zumal als Mädchen - gestattet sind, die jugendgemäße Kleidung, die Duldsamkeit der Eltern gegenüber ihrem selbstbewußten Auftreten und überhaupt ihr ungeziertes, freimütiges Wesen - das alles bezeugt Erziehungsgrundsätze, wie sie dann die Reformpädagogik für das anbrechende ,Jahrhundert des Kindes'28) allgemein zur Norm erheben wird. Das besagt nicht, daß Fontane hier etwas vorweggenommen hat. Ihren Ursprung hat diese Idee des ,Wachsenlassens' schon in der Romantik, so daß entsprechende Vorstellungen auch während des 19. Jahrhunderts schon verbreitet sind. "So eine wilde Hummel von 12-13 Jahren", heißt es z.B. in einer Erziehungsschrift bereits von 1852, "ist ein viel natürlicheres und angenehmeres Geschöpf als ein frühreifer Backfisch, der sich schon als Dame fühlen will".29) Auf einem anderen Blatt steht allerdings die Frage, ob diese Kombination aus modernem |S.595:|Erziehungsmilieu und traditionellem Erziehungseffekt auch wahrscheinlich ist oder ob sie nicht vielmehr einen illusionären, ja nachgerade ideologischen Charakter hat. Denn im Grunde besagt sie ja nichts anderes, als daß man den Mädchen in ihrer Entwicklung jeden Spielraum, jede Freiheit gewähren kann, ohne daß sich an ihrer Bereitschaft, sich in der Frage der Ehe ganz nach den Eltern oder dem Mann zu richten, etwas ändern werde. Daß es nicht so war, kann man jedoch allein schon an der Heiratsstatistik ablesen. In dem Maße, in dem sich vom 19. zum 20. Jahrhundert in unserer Gesellschaft die Mädchenerziehung verbessert hat, geht hier nicht nur der Prozentsatz der minderjährig heiratenden Mädchen beständig zurück, sondern es verringert sich erst recht die Zahl derjenigen, die als Minderjährige wesentlich ältere Männer heiraten bzw. sich mit solchen verheiraten lassen.30) Diese Konstellation - also die Effi-Innstetten-Konstellation - geriet als Inbegriff weiblicher Rechtlosigkeit vielmehr so sehr in gesellschaftlichen Mißkredit, daß die Eltern sie allein schon um ihres eigenen Ansehens willen immer weniger wünschen konnten. Im übrigen machte es aber natürlich auch keinen Sinn, die Mädchen zu mehr Selbständigkeit zu erziehen, ihnen dann aber in der wichtigsten persönlichen Lebensentscheidung, der Ehe, die mündige freie Wahl vorzuenthalten. Am Ende ist dies ja auch nicht einmal mehr in den Fürstenhäusern gelungen. So wenig wahrscheinlich Effis Gleichgültigkeit in der Ehefrage nun aber ist - auch Else von Plotho hat sich hier übrigens charakteristisch anders verhalten31) -, es läßt doch nichts darauf schließen, daß Fontane uns diesen Zug an ihr als etwas Auffälliges oder gar Fragwürdiges darstellen will. Damit deutet sich an, was das Besondere und wohl auch Gesuchte an dieser Figur ist: eine erotische Verfügbarkeit, die nicht erzieherisch erzwungen erscheint, sondern sich ganz als Natur gibt. Nur allenfalls in den Anfangskapiteln sieht es momentweise so aus, als sollte uns Effis Verhalten in dieser Hinsicht nicht ganz einwandfrei erscheinen. Als sie hier z.B. ihre Freundinnen darüber belehrt, daß ihr als Ehemann jeder recht sei, Hauptsache er sei von Adel, habe eine gute Stellung und sehe gut aus, wird ihr nicht ohne Vorwurf erwidert, früher habe sie "ganz anders" gesprochen32), was ja wohl nur heißen kann, daß es ihr früher mehr auf die gegenseitige Zuneigung angekommen sei. Ober sie gibt ihrer Mutter auf die Frage, ob sie Innstetten vielleicht nicht liebe - "Noch ist es Zeit" -, die decouvrierende Antwort: "Warum soll ich ihn nicht lieben? Ich liebe Hulda, und ich liebe Bertha, und ich liebe Hertha. Und ich |S.596:|liebe auch den alten Niemeyer. Und daß ich euch liebe, davon spreche ich gar nicht erst. Ich liebe alle, die's gut mit mir meinen und gütig gegen mich sind und mich verwöhnen. Und Geert wird mich auch wohl verwöhnen."33) Doch solche kritischen Töne - wenn es überhaupt welche sind - verlieren sich alsbald dadurch, daß niemand Effis Anrecht auf ein Verwöhntwerden durch Innstetten in Zweifel zieht. D.h. obwohl sie ihn nicht wirklich liebt und obwohl sie, wie der alte Briest bemerkt, überhaupt nicht eigentlich auf Liebe gestellt ist, "jedenfalls nicht auf das, was den Namen ehrlich verdient"34), ist Innstetten ihr seine ,Gegen'liebe unbedingt schuldig. Bereits ihre Eltern gehen ganz selbstverständlich davon aus, daß nur Innstetten in dieser Ehe Pflichten hat, daß nur er ihren Ansprüchen genügen muß. Ob dasselbe auch für Effi gilt, steht nicht zur Debatte. Wird er ihren "Hang nach Spiel und Abenteuer" befriedigen? Wird er dieser "geistreichen kleinen Person", wie die Mutter sie nennt, die "stündliche [!] kleine Zerstreuung und Anregung" bieten, deren sie bedarf, um sich nicht zu langweilen? Wird es sie nicht "beleidigen", wenn sie bemerkt, daß er sich diese Mühe nicht macht usw.?35) Aber nicht nur Abwechslung, auch Leidenschaft ist er ihr schuldig. Obwohl sie ihn "eigentlich bloß aus Ehrgeiz" geheiratet und sich Zärtlichkeiten von seiner Seite zunächst fast verbeten hat, ist sie nach der Hochzeit schon bald enttäuscht, daß er zu ihr nur lediglich ,lieb und gut', jedoch ,kein Liebhaber' ist und es an ,Huldigungen' ihr gegenüber fehlen läßt.36) Ihre grundsätzliche Indifferenz ihrem zukünftigen Mann gegenüber schließt also weder ihren Anspruch auf ein volles Eheglück noch ihr Bedürfnis danach aus, nur: sie hat eben mit ihrer bloßen Einwilligung in die Ehe alles von ihrer Seite dafür Erforderliche getan. Nun liegt natürlich der Einwand nahe, daß Effis Liebe in der Ehe erst hätte geweckt werden müssen und dann sich ihre Einstellung zu Innstetten auch hätte ändern konnen. Das ist richtig, nur sollte hier die Frage nicht fehlen, ob sie an ihrem Dilemma dann nicht eine gewisse Mitschuld trägt, d.h. ob sich ihre Leichtfertigkeit beim Eingehen dieser Ehe - "Jeder ist der Richtige. Natürlich muß er von Adel sein" usw.37) - nicht jetzt an ihr rächt. Denn im Grunde erweist sich Innstetten ja nur als der, als den sie ihn auch geheiratet hat, wenn wir daran denken, daß sie schon seine Brautbriefe wegen ihrer Langweiligkeit ungeöffnet liegenließ. Doch Fragen dieser Art stellt Effi sich nicht, und ebensowenig stellt sie der Erzähler. Alles, was sie entbehrt, wird Innstetten angelastet, selbst daß sie sich allein nicht zu beschäftigen weiß. "Arme Effi. Wie sollte sie den Abend verbringen?" fragt teilnehmend der Erzähler, als Innstetten sie wegen eines Besuches bei Bismarck für ,fast zwölf Stunden' allein lassen muß.38) Der Schlußstein in dieser Bewertung ist dann, daß sie einen Mangel an Liebesfähigkeit schlechthin bei ihm konstatiert, indem sie jenes mild-vernichtende Urteil über ihn spricht, mit dem er immer wieder auch charakterisiert wird, daß er so edel sei, wie jemand sein könne, "der ohne rechte Liebe ist".39) Daß ihr der Erzähler nicht spätestens hier ins Wort fällt, ist allerdings doch erstaunlich. |S.597:|Denn für wen empfindet sie selbst die rechte Liebe? Für ihre Eltern - mag sein. Aber sonst? Für ihren Mann? Für Crampas? Für ihre Tochter Annie, die sie schon als Säugling Roswitha überläßt? Wenn ihr dann aber ein solches Urteil eigentlich nicht zugestanden werden kann, wieso bemerkt man diesen Widerspruch nicht, sondern feiert sie immer wieder als ein Inbild wahrer Liebenswürdigkeit und Natürlichkeit? Offenbar beruht das Bild, das man sich von ihr macht, gar nicht in erster Linie auf der Wahrnehmung dessen, was sie tatsächlich tut oder sagt, als darauf, wie Fontane uns ihr Verhalten beleuchtet. D.h. nicht daß Effi ein bestimmter Mensch ist oder ein bestimmtes Wesen hat, ist der Grund der Sympathie für sie, sondern daß Fontane uns in einer mehr oder weniger undurchschaubaren Weise für sie einnimmt. Es ist also eine hergestellte, eine konstruierte Sympathie, die wir für sie empfinden, und sie ist folglich auch nur in einer Analyse des Erzählverfahrens völlig aufzuhellen. Die Brüche oder Spannungen, die sich in ihrem Wesen zeigen, immer wieder nur psychologisch zu erklären, wie es zumeist geschieht, genügt nicht und macht am Ende noch nicht einmal Sinn. Denn auch wenn es gelingen sollte, alle Widersprüche so miteinander zu versöhnen, daß man in Effi gleichwohl noch eine lebendige Person und nicht bloß ein Sympathie-Konstrukt erkennen könnte, so wäre dies doch jedenfalls nicht die Person, der der Roman seine Wirkung verdankt. Wie nun also kommt es, daß Effis Ansprüche gegen Innstetten auch von den Lesern für gerechtfertigt gehalten werden und man überhaupt in allen Konflikten auf ihrer Seite ist? Es ist der Wechsel von Außensicht und Innensicht, der dies bewirkt, also die Tatsache, daß Fontane von seinem erzählerischen ,Allwissen' einen höchst ungleichen Gebrauch macht. Zwar hat er sich gerade im Zusammenhang mit Effi Briest noch einmal ausdrücklich dazu bekannt, daß für einen realistischen Autor nur ein Erzählverfahren in Frage komme, bei dem der Erzähler sich nicht einmischt, sondern die Dinge ganz für sich selbst sprechen läßt40), doch auch bei einer solchen ,neutralen' Erzählhaltung läßt sich das Sympathieverhältnis zu den Figuren jederzeit dadurch beeinflussen, daß der Leser unterschiedlich viel von ihnen erfährt. Zu einer Figur wie Innstetten, von deren Empfindungen und Gedanken uns Fontane fast bis zum Schluß entweder gar nichts mitteilt oder die er uns sogar betont nur von außen zeigt - ,er schien sich zu freuen', ,es paßte ihm augenscheinlich nicht' usw. -, hält man auch als Leser Distanz oder empfindet sie sogar als unsympathisch, während bei regelmäßiger Innensicht - ,sie dachte', ,sie fürchtete', ,sie wünschte sich' -, wie sie für Effi gegeben ist, ein Gefühl von Nähe entsteht, das bis hin zur vielbeschworenen Identifizierung reichen kann. Insofern ist es also nicht unerklärlich, daß man geneigt ist, sich Effis Standpunkt selbst dort zu eigen zu machen, wo er - ,objektiv' gesehen - unberechtigt ist.41) Wird man auf eine solche Vereinnahmung aufmerksam, so bleibt das fur das Ansehen des Erzählers oder Autors freilich nicht folgenlos, ganz gleich, ob man ein Versehen oder Absicht darin sieht. |S.598:| Ein weiterer wichtiger Eingriff zu Effis Gunsten ist noch, wie Fontane das Ende der Geschichte erzählt. Zu bemerken ist hier, daß er, unmittelbar nachdem Effi von dem Duell erfahren hat, drei Handlungsjahre überspringt, von denen er uns nur im Rückblick berichtet, und Effi uns mithin sofort als krank und gebrochen vor Augen steht. Das stellt eine Verbindung zwischen ihrer Verstoßung durch Innstetten und ihrem Tod her, wie sie sich sonst so sinnfällig kaum ergeben hätte. Denn natürlich hätte die Frage, warum eine so verhältnismäßig unkomplizierte Natur wie sie mit diesem Schicksalsschlag nicht anders fertiggeworden ist, bei einem sukzessiv erzählten dreijährigen Verwelkungsprozeß nur zu nahe gelegen, so daß dann sicherlich mehr Leser als nur Servaes den Eindruck gewonnen hätten, daß sie sich hier in erster Linie nur selbst ein Armutszeugnis ausstellt. Bei aller Konsequenz, die sich in der Sympathielenkung zu Effis Gunsten erkennen läßt, sollte man nun allerdings nicht davon ausgehen, daß Fontane sein erzählerisches Vorgehen auch in diesem Sinne kalkuliert hat. Er habe "das Ganze träumerisch und fast wie mit einem Psychographen geschrieben", bekennt er selbst43), und so war ihm wohl wirklich nicht bewußt, in welchem Umfang er hier schon durch die gewählte Perspektive Partei ergriff. Die Schwarz-Weiß-Bewertung, die sich bei den Lesern daraus ergab, war ihm ja auch durchaus nicht recht, stand damit doch nichts weniger als sein Selbstverständnis als Realist auf dem Spiel. Insbesondere Innstetten bemüht er sich deshalb nachtraglich |S.599:|immer wieder aufzuwerten und geht so weit, ihn ein "ganz ausgezeichnetes Menschenexemplar" zu nennen, "dem es an dem, was man lieben muß, durchaus nicht fehlt".44) Aber auch die Entstehungsgeschichte des Romans läßt auf eine eher unbewußte Begünstigung Effis schließen. Das ,erregende Moment' war hier ja nicht das Duell oder der Ehekonflikt, sondern die mädchenhafte Gestalt Effis selbst, also das "Else komm" bei der Verlobung, von dem man ihm berichtet hatte, und die "kleine Methodistin" auf dem Hotelbalkon in Thale45), die ihm das äußere Erscheinungsbild für sie lieferte. Diese Gestalt hat er sich dann wohl instinktiv gegen jede Beschädigung, die ihr aus der Handlung hätte erwachsen können, zu bewahren gesucht, bis hin zu der Unwahrscheinlichkeit, daß sie am Schluß, mit 29 Jahren, wieder ein ebensolches Kittelkleid trägt wie am Anfang mit Sechzehn. Von einer wohlberechneten Verklärung ihres Bildes etwa zu dem Zweck, hier Sympathie für eine Figur zu wecken, die gegen die Moral verstößt, um so diese Moral selbst zweifelhaft werden zu lassen, kann also schwerlich die Rede sein. Vielmehr hat er wohl selbst nicht durchschaut oder durchschauen wollen, was ihn an dieser Figur so reizte, gerade deshalb in ihr aber ein bestimmtes Wunschbild, das nicht nur sein eigenes war, um so genauer getroffen. |
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