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Daß Effi bei genauerem Hinsehen als Person unstimmig, vielleicht sogar lebensunwahr wirkt, schließt natürlich nicht aus, daß man in ihr einen bestimmten Typus, ein Ideal sehen kann. Worin liegt es?
Wenn wir festgestellt haben, daß ihr 'Wert', ihre Vorzüglichkeit hauptsächlich darin zum Ausdruck kommt, daß es Innstetten ist, der ihr verpflichtet erscheint, so ist zu vermuten, daß dieser Wert etwas mit dem erotischen, dem sexuellen Reiz zu tun hat, den sie besitzt, und das heißt zumal: mit ihren siebzehn Jahren. Schon allein die Tatsache, daß Innstetten sie nur vom Ansehen kennt, als er um sie wirbt, und daß er es weder auf ihr Geld noch auf ihre Familienbeziehungen abgesehen hat - beides hat sie nicht, und auch sonst nützt ihm diese Ehe für seine Karriere wenig -, läßt keinen anderen Schluß zu. An Effis Attraktivität auf diesem Gebiet gibt es auch gar keinen Zweifel46), und natürlich soll ihr jugendlicher Liebreiz zumal für den 21 Jahre älteren Innstetten das reine Geschenk sein. Daß es auf den Altersabstand hier entscheidend ankommt, kann man sich leicht daran klarmachen, daß, wäre Innstetten wie Ardenne nur fünf Jahre älter als seine Frau, man selbstverständlich auch nach ihren Bemühungen um das Eheglück fragen und es dann gemäß landläufigen Ansichten womöglich sogar als ihre Schuld verstehen würde, wenn es in dieser Ehe an der rechten Innigkeit mangelt. So aber erscheint er ihr schon rein biologisch zur Zuwendung verpflichtet und handelt einfach undankbar, wenn er schon bald nach den Flitterwochen das Interesse an ihr verliert und zu mehr als ,müden Zärtlichkeiten' nicht mehr aufgelegt ist.47) |S.600:| Aber auch in den Augen der weiblichen Leser verfügt Effi über einen Liebreiz, der zu den höchsten Ansprüchen berechtigt. Wie Fontane selbst feststellt, sind es vor allem die Damen, von denen Innstetten grundsätzlich "härter beurtheilt wird als er verdient".56) In späteren literaturwissenschaftlichen Arbeiten zeigt sich diese Bewertung daran, daß hier von weiblicher Seite immer wieder zwar Innstettens Gesellschaftsorientiertheit verurteilt wird, nicht jedoch auch die Effis, obwohl sie ihm darin ja keineswegs nachsteht. Sie hat ihr Statusdenken entweder nicht zu verantworten, weil es ihr anerzogen wurde, oder es zeigt sich darin nur eine "rührende Bereitwilligkeit, sich anzupassen".57) Ebenso entschuldigt man ihre Gleichgültigkeit bei der Wahl des Ehemannes mit der "Unschuld ihrer Jugend" und die Liaison mit Crampas mit der "herzlose[n] Mißachtung ihrer individuellen |S.601:|Bedürfnisse durch Innstetten und die Gesellschaft".58) Für Crampas, der in seiner Ehe ja ebenfalls nicht besonders glücklich ist, gibt es diese Entschuldigung dann allerdings wieder nicht, er wird weiblicherseits in der Regel als 'gewissenlos' apostrophiert.59) Ganz wie es Fontane nahelegt, werden Effis Ansprüche also auch hier als zu Recht bestehende beurteilt, bzw. sie steht sogar für eine 'Utopie des weiblichen Glücks', wie es unter besseren gesellschaftlichen Umständen einmal möglich werden soll. Nun scheint die Erkenntnis, daß Effi so etwas wie ein erotisches Ideal darstellt, zunächst einmal nicht weiter bemerkenswert zu sein. Wenn man allerdings bedenkt, wie jung sie ist und daß sie den ganzen Roman hindurch nicht nur die Rolle der Frau und Geliebten, sondern auch die der Tochter hat, so muß man sich doch fragen, warum sie nicht auch als Tochter gesehen und für ideal gehalten wird. Oder sollte die Vorstellung, sie zur Tochter zu haben, gar als unbehaglich empfunden werden? Dann wäre allerdings die Zuneigung zu ihr durchaus nicht gleichzusetzen mit einem planen Sieg der Menschlichkeit über die 'sogenannte Moral', wie in Anlehnung an Fontane immer wieder gesagt wird, sondern es hieße nur, daß hier an die Stelle einer einfachen eine doppelte Moral getreten ist, insofern das, was man an ihr schätzt, nur unter der Voraussetzung schätzenswert an ihr erscheint, daß man sich für sie nicht verantwortlich zu fühlen braucht. Dabei ist Effis Kindlichkeit zunächst einmal gar nicht zu übersehen. Erinnert sei nur all die kindliche Spielwelt, aus der heraus sie mit Innstetten verlobt wird, an das Heimweh, das sie schon auf der Hochzeitsreise überkommt, an die Angst, die sie in dem fremden Kessiner Haus hat, an ihre Unfähigkeit, sich mit sich selbst zu beschäftigen u.a.m. Auch daß sie sich für ihr eigenes Kind, das sie nach einem Jahr zur Welt bringt, nicht interessiert, gehört hierher, obwohl man an dieser Stelle schon mehr den Autor Fontane am Werk sieht, der von ihrer Mutterrolle schlicht keine Notiz nimmt. Ganz besonders allerdings zeigt sich ihre Kindlichkeit und menschliche Unfertigkeit an ihrem noch völlig fehlenden Bedürfnis nach einer individuellen Liebesbeziehung. Es ist ja nicht nur, daß sie ihre Liebe zu Innstetten mit der zu Hertha, Bertha und dem alten Niemeier vergleicht, nicht nur auch, daß sie Crampas nicht liebt, sondern sie hat überhaupt nicht das Bedürfnis zu lieben, es gibt noch nicht einmal einen Mann, von dem sie träumt. Wonach sie einzig verlangt, das ist, von möglichst vielen geliebt zu werden. Jeder soll ihr zugetan sein, ihr 'huldigen', sie 'verwöhnen', und jedem, der dies tut, will sie auch ihrerseits zugetan sein, d.h. sich das Verwöhntwerden von ihm gefallen lassen. Mit anderen Worten: es ist das Liebesbedürfnis des Kleinkindes, das man an ihr sieht, eine Bereitschaft zum Sichverschenken, wie sie bei einem halbwegs normal entwickelten Mädchen ihres Alters schwerlich zu finden sein wird. Besonders hier also erscheint sie schutzbedürftig, weil mißbrauchbar, und würde mithin kaum schon für reif genug gehalten werden, einen Ehemann zu wählen, wenn man ihr denn eine Mitsprache bei dieser Entscheidung zubilligen wollte. Warum wird dieser Appell nun aber nicht wirksam? Das Besondere an diesem Kind ist, daß es gleichzeitig eine erotische Ausstrahlungskraft und sexuelle Hingabe- oder besser |S.602:|Hergabebereitschaft besitzt, wie sie größer kaum sein könnte. Die Signale, die Fontane in dieser Hinsicht in den Text hineingeschrieben hat, lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, ja, sie hätten wahrscheinlich sogar anstößig gewirkt, hätte er sie nicht durch solche ihrer Kindlichkeit immer wieder überdeckt. Oder hat es etwa nichts Anstößiges, wenn sie, praktisch gerade erst von der Schaukel gestiegen und einem Mann anverlobt, den sie eigentlich fürchtet, sich dann als erstes für das eheliche Schlafzimmer eine rote Ampel und einen japanischen Bettschirm wünscht? Erstaunlicherweise wundert sich ihre Mutter nicht, woher ihr diese Weisheit kommt, sondern mahnt nur, als Frau müsse sie vorsichtig sein, daß man nicht von "schlechter Erziehung" spreche oder "noch Schlimmeres" über sie sage.60) Oder es sei an die Szene erinnert, die sich, wie es heißt, öfter wiederholt, in der sie abwartend in ihrem Zimmer sitzt, während Innstetten nebenan arbeitet, und dann einzig Rollo 'nach ihr sieht', dem sie zuflüstert: "Ja, Rollo, wir sind allein".61) Auch in dem Verhältnis zu Crampas ist, sieht man genauer hin, im Grunde sie die Treibende, weil sie ihn durch Hinweise auf seine verborgenen Wünsche zu immer deutlicheren Anträgen ermutigt. So ist neben ihrer Kindlichkeit mithin auch ein starkes erotisches Bedürfnis an ihr sichtbar und stellt sich als um so verführerischer dar, als es nicht an eine persönliche Neigung gebunden ist, sondern gewissermaßen jedermann, jedem Mann gilt. Angesichts dieses Befundes kann wohl kein Zweifel mehr sein, um was für ein Wesen, was für einen erotischen Typus es sich bei Effi handelt. Sie ist, was man eine Kindfrau nennt, der Typus des jungen, persönlich unreifen, noch ganz auf sich selbst gerichteten ,süßen' Geschöpfes, dessen einziger entwickelter Zug die sexuelle Bedürftigkeit oder zumindest Zugänglichkeit ist.62) Dabei ist hier nicht zu entscheiden, ob es diesen Typus tatsächlich gibt oder ob er nicht lediglich ein Phantasiegebilde ist. Jüngere Untersuchungen zu den Antrieben minderjähriger Prostituierter, die hier - es mag einem für Effi gefallen oder nicht - die nächstliegende Bezugsgruppe sind, lassen es eher fraglich erscheinen.63) Aber auch schon zu Fontanes Zeit hat ein Kritiker Effi eine mehr 'erdachte' Figur genannt und es für unglaubhaft erklärt, daß ein "wie sie erzogenes junges Weib so nebenbei zu Fall kommen" könne.64) Das hier Entscheidende ist allein, daß Effi ein Wesen dieser Art darstellt und daß sie in diesem Sinne sogar bis in unsere Zeit hinein als das Inbild weiblicher Natürlichkeit gilt. Denn wenn man sie bedauert, so bedauert man sie in aller Regel nicht deshalb, weil sie an einen Mann verheiratet wird, den sie nicht liebt, oder weil sie überhaupt individuelle Liebe nicht kennenlernt, sondern allein deshalb, |S.603:|weil das erotische Angebot, das sie darstellt, nicht genügend gewürdigt wird, sich zumal Innstetten ihr also nicht so zuwendet, wie sie es verdient. Einzig der schon einmal zitierte Franz Servaes nennt es rundheraus 'furchtbar', daß sie nicht bloß ihren Ehemann, sondern auch sogar ihren Liebhaber nicht liebt oder nach Fontanes Willen lieben darf. Im allgemeinen vermißt man hier für sie nichts oder sieht gar eine "große künstlerische Feinheit" darin, daß es nicht der übliche 'junge Geselle mit blondem Haupt' ist, an den sie sich verliert, sondern daß sie einem Mann ihre Gunst gewährt, der "sogar noch einige Jahre älter ist als der Gatte".65) Was den Typus der Kindfrau allgemein betrifft, so bringt man ihn in der Regel mit der 'femme fatale' in Verbindung, sieht in ihm also eine Variante jener dämonisch-erotischen Frauenwesen, die in der europäischen Bildenden Kunst und Literatur des späten 19. Jahrhunderts weit verbreitet sind. An genauen Abgrenzungen und Bestimmungen dieses Typus mangelt es freilich, schon das Nebeneinander von Begriffen wie 'femme fragile', 'femme enfant', 'femme ange' oder auch 'Kindweib' macht das deutlich.66) Das signifikanteste deutsche Beispiel für diesen Typus oder eine Spielart von ihm ist aber sicherlich Wedekinds Lulu. Weitere Beispiele findet man in den 'süßen Mädels' bei Schnitzler und anderen Autoren der Wiener Literaturszene oder in den zahlreichen erotischen Kind- und Elfenwesen im Werk Gerhart Hauptmanns. Aber auch an Heinrich Manns 'Blauen Engel' mag man denken, der, wenn auch kein Kind mehr, doch auch nur lieben kann 'und sonst gar nichts', und später dann erst recht natürlich an die geradezu sprichwörtlich gewordene Lolita. Dabei ist angesichts dieser Verwandtschaft kein Wort darüber zu verlieren, daß Effi in ihrer Kindfraulichkeit noch höchst dezent auftritt, denn nur dies hat ihr natürlich den guten Ruf gesichert, den sie bis heute besitzt. Fontane hat sie eben nicht bloß mit dieser Art von Erotik, sondern auch mit Bildung, Geist, Gewandtheit und einem hohen Maß an Lebensweisheit ausgestattet. Auf der anderen Seite hat freilich die Tatsache, daß Lulu und ihre Schwestern dieses bürgerliche Kostüm abgelegt haben und ihre 'Natur' in unzüchtiger Direktheit zur Schau stellen, in das Verführerische dieses Wunschbildes auch schon wieder ein Moment der Ernüchterung hineingetragen, insofern allzu begehrliche Blicke hier wie aus einem Spiegel häßlich zurückkommen. Fraglich ist allerdings, ob man den Typus der Kindfrau wirklich so dicht neben den der 'femme fatale' stellen sollte, wie es im allgemeinen geschieht. Die erotische Mystifizierung der Frau läuft hier ja in zwei entgegengesetzte Richtungen. Das Begehren der 'femme fatale' ist das einer selbstbewußten, dem Mann triebhaft verwandten bzw. ihm in dieser Beziehung sogar überlegenen Frau, sie gilt zu Recht als der imaginäre Gegentyp zur victorianisch-prüden Salondame dieser Zeit. Die Anziehungskraft der Kindfrau jedoch erscheint hilflos, fast demütig und ist nur ein nach Belieben zu gebrauchendes Angebot. Davon abgesehen verliert die 'femme fatale' um die Jahrhundertwende schon an Bedeutung, während der Liebreiz der Kindfrau um diese Zeit erst richtig entdeckt wird und dann in immer neuen Varianten wiederkehrt bis hin zum 'Sex-Appeal' von |S.604:|Filmidolen wie Marylin Monroe oder Brigitte Bardot.67) Das Wunschbild der Kindfrau unterscheidet sich also offenbar in seinem Ursprung von demjenigen der 'femme fatale', und natürlich stellt es nichts anderes dar als die imaginäre Antwort auf das Recht, aber auch die Pflicht der Frau zur selbständigen Gattenwahl, also auf den Beginn ihrer Emanzipation.68) Die sexuelle Verfügbarkeit persönlich noch unentwickelter Mädchen wird nämlich bezeichnenderweise gerade in einem Zeitpunkt zu einer erotischen Vision, wo sie in Wirklichkeit ihr Ende findet, d.h. wo die Wahl von Minderjährigen zu Ehefrauen kaum mehr in Frage kommt. Bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein war diese Konstellation nicht ungewöhnlich, sie wurde aus wirtschaftlichen Gründen ebenso wie wegen des hohen Gebärrisikos allgemein toleriert. Von besonderen erotischen Genüssen ist in diesem Zusammenhang freilich nicht die Rede, eher schon von den Erziehungspflichten, die der ältere Mann in einer solchen Ehe übernimmt. Nun aber, da die Frau dem Mann mehr und mehr als Erwachsene gegenübertritt und sich ihrerseits wählend verhalten kann, aber auch verhalten muß, entsteht in der Literatur das Bild eines Wesens, das nicht umworben und erobert, sondern nur genommen werden will und das zugleich durch sein bloßes Dasein, sein bloßes Erscheinungsbild jeden Mann von sich entzückt. Daß sich jedenfalls dem Mann längst auch Mittel und Wege bieten, sich diesen Wunschtraum nicht bloß literarisch, sondern auch tatsächlich zu erfüllen, bestätigt sein Vorhandensein nur um so deutlicher. Das Heiratsgeschäft mit jungen Asiatinnen, den 'Thaifrauen', wird in dem betreffenden Gewerbe völlig selbstverständlich damit begründet, daß der hiesige emanzipierte Frauentyp den Wünschen vieler Männer nicht mehr entspreche, und auch von einem wachsenden Bedarf an Kindfrauen im Geschäft mit der Erotik wird berichtet.69) Was jedoch hat Fontane mit diesem Typus zu tun, der doch sonst in seinen Romanen vielfach Frauen dargestellt hat, die über ihre Neigung sehr wohl selbst bestimmen? Der Punkt, an dem sich das Bild der Kindfrau mit seinem eigenen 'Interesse' berührt, ist der Altersunterschied, der in den Liebeshandel mit einem solchen Wesen eingeschlossen ist, also die naheliegende Vorstellung, daß dessen emotionale Gleichgültigkeit zumal dem älteren Mann erotisches Glück verspricht. Die Konstellation, daß ein älterer Mann eine sehr junge Frau hat oder zu gewinnen sucht, hat Fontane in Effi Briest ja nicht zum ersten Mal behandelt. Sie findet sich schon in der Ladalinski-Geschichte in Vor dem Sturm, in L'Adultera, in Cecile und auch in Unwiederbringlich. In allen diesen Fällen ist er freilich wie gleichsam sich selbst belehrend davon ausgegangen, daß auch junge Frauen einmal erwachsen werden und dann schließlich doch ihre wahren Empfindungen entdecken. Sidonie verläßt Ladalinski, Melanie verläßt van der Straaten, Cecile würde auch St. Arnaud verlassen, wenn Gordon es ihr ermöglichte, und Graf Holk wird von Ebba verlassen. Nur Effi bleibt ihrem Wesen als Kindfrau treu und wendet sich auch ihrem Liebhaber nicht aus Liebe, sondern nur aus Langeweile zu, ja sie kommt noch nicht einmal in Gefahr zu lieben, weil dieser sie seines Alters wegen sogar noch weniger angeht als ihr Mann. So bleibt sie gleichsam demjenigen zum endgültigen Besitz versprochen, der sich |S.605:|ihre Liebe wirklich wird zu erwerben wissen, oder einfach jedem, der denkt (und wer, wenn nicht zuerst der Autor, kommt dafür infrage), daß er sie mehr als die anderen liebt. Ist dies nun alles, was über Effi Briest zu sagen ist, und was gewinnt man, wenn man die Dinge so ansieht? Oder gibt es hier nicht noch immer einen schönen, gut zu lesenden Roman, voll mit den lebenswahrsten, bewegendsten Szenen? Ja, kann man nicht sogar Effi selbst einfach nur als ein Menschenkind verstehen, das mit dem wahrhaft utopischen Verlangen in die Welt tritt, um seiner selbst willen geliebt zu werden, und das dann, enttäuscht, die Welt zu Recht auch wieder verläßt? Und selbst daß sie sich als Frau so hingabewillig verhält - warum soll man nicht auch dies schön an ihr finden, nicht auch dies sich wünschen dürfen? Alles berechtigte Einwände - und ginge es nur darum, was in dieser Hinsicht jeder für sich selbst aus dem Roman herausliest, es bestünde kein Grund, hier irgendetwas besser wissen zu wollen. Wünsche und Träume, und gar erotische, unterliegen keiner Zensur, wie aufschlußreich immer es sein mag für manches laute Bekenntnis zur Emanzipation, wenn man an Effi immer noch ein solches Gefallen findet. Doch es geht in der Schule nicht um private Träume. Unterrichtsgespräche sind öffentliche Gespräche, suchen den Lektüreeindruck mit öffentlichen Normen zu vermitteln, und das läßt nun einmal Fehleinschätzungen oder Selbsttäuschungen dieser Art auf die Dauer nicht zu. Doch hat man es damit bei Schülern auch schon gar nicht mehr zu tun. Wenn die Zeichen nicht trügen, gibt es hier längst einen weit größeren Abstand zu diesem Roman, als es die in ihren Deutungstraditionen befangene Germanistik und Literaturdidaktik wahrnehmen. Sollte er dann im Unterricht aber weiterhin eine so große Rolle spielen? Ginge es nur darum, Literatur lediglich als Kunst, also in ihrer Gemachtheit zu analysieren, so wäre Effi Briest noch immer ein eindrucksvolles, lohnendes Objekt. Wem jedoch Kunst in diesem Sinne an der Kunst nicht das Wichtigste ist, dem wird das nicht genügen. Irrungen Wirrungen ist ein nicht weniger reicher, nicht weniger schöner Roman, und er ist doch um ein ganzes Stück wahrer. Es wäre nicht nur schade, es wäre auch ungerecht, wenn für Fontane der Eindruck zurückbliebe, es sei ihm nicht immer zuallererst um die Wahrheit gegangen. |
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