Teil 2   
"Effi Briest" -
ein gesellschaftskritischer Roman?

S. 587 bis 594   


Sehen wir es recht, so sind es im wesentlichen drei Punkte, an denen der gesellschaftskritische Gehalt des Romans festgemacht wird, und zwar

   1. an Innstettens Ehrbegriff und der Duellproblematik,
   2. an Effis Scheidung und den Folgen, die diese für sie hat,
   3. an der Art und Weise von Effis Verheiratung
       bzw. an der ihr zugemuteten Ehe.
 

Die beste Möglichkeit, Fontanes Intentionen in diesen Punkten genauer zu bestimmen, bietet sich zweifellos in dem bekannten Sachverhalt an, daß er sich bei seinem Roman auf einen wirklichen Vorfall, die Ardenne-Geschichte, gestützt hat, ihm also bestimmte Konstellationen historisch vorgegeben waren. Erstaunlicherweise hat man diese Möglichkeit bisher kaum genutzt, sondern sich bei Vergleichen mit dieser Geschichte im wesentlichen mit dem Nachweis von Motivparallelen zufrieden gegeben.7) |S.588:|Prüfen wir deshalb einmal anhand dieses Bezugspunktes, der ja auch didaktisch interessant ist, was sich an gesellschaftskritischen Tendenzen für Fontanes Roman ergibt. 

1. Was zunächst das Duell angeht, so steht in Effi Briest bekanntlich die Frage im Vordergrund, ob es nicht auch bei dieser Sanktion den Verjährungsfall geben sollte, d.h. ob nicht auch die schwerste Beleidigung oder Kränkung irgendwann für erledigt gehalten werden müsse. Nicht also um die Legitimität des Duells schlechthin geht es, sondern lediglich um die Frage seiner Opportunität, wenn der Anlaß wie hier sechs oder sieben Jahre zurückliegt. Das ist natürlich eine Einschränkung, und sie wiegt um so schwerer, als der Ardenne-Fall sie nicht enthielt. Hier hatte der Rittmeister von Ardenne das Verhältnis seiner Frau zu dem in seinem Hause verkehrenden Amtsrichter Hartwich vielmehr entdeckt, als es noch andauerte, d.h. es hätte sich an diesem Beispiel die Duellfrage bei weitem grundsätzlicher behandeln lassen. Nun könnte eingewendet werden, daß Fontane gerade dadurch, daß er den Anlaß um Jahre zurückverlegt, Innstetten sich also persönlich nicht mehr gekränkt fühlt, das gesellschaftlich Zwanghafte dieses Rituals nur um so deutlicher zum Vorschein bringt. Aber ist dies wirklich der Fall, d.h. belastet er dadurch nicht doch eigentlich nur Innstetten? Wenn man immer wieder dessen Wort vom ,uns tyrannisierenden Gesellschafts-Etwas' zitiert, um seine Verpflichtung zu diesem Duell unter Beweis zu stellen, so übersieht man, daß sogar er selbst später zu der Einsicht kommt, daß er sich das Ganze auch hätte ersparen können.8) Mit anderen Worten: Der ganze subtile Begründungsweg, auf dem Wüllersdorf und er sich darin einig werden, daß es keine Alternative gibt, kann am Ende nicht verbergen, daß Innstetten hier nur mit seiner eigenen Unsouveränität nicht fertig wird.9) Daß schon Fontanes Zeitgenossen ihn ein ,altes Ekel' nennen, zeigt die Wirkungslosigkeit seiner Rechtfertigungen zur Genüge. Ein Mann wie Ardenne hingegen, der nicht nur direkter provoziert, sondern auch seinem Ruf als Offizier verpflichtet war, konnte bei seinem Duellentschluß auf ein gewisses Verständnis immer rechnen, so daß sich an seinem Fall wirklich gesellschaftliche Zwänge hätten demonstrieren lassen.

Eine geringe gesellschaftskritische Reichweite der Duell-Konstellation ergibt sich aber auch daraus, daß Crampas, als das Opfer dieses Duells, kaum Mitleid erregt. Einerseits ist er der, der Effi ,verführt', sie also ins Unglück gestürzt hat und der schon deshalb Strafe verdient, und andererseits ist er auch noch der, der sie bekommen, sie besessen hat und den wohl erst recht der Tod darum zu hart nicht trifft. Wie stark schon Fontane selbst auf einen solchen Sühne- und Vergeltungsgedanken ausgerichtet war, sieht man beiläufig daran, daß der vorgebliche Zweikampf, der hier stattfindet, für Innstetten völlig risikolos erscheint, also fast schon den Charakter einer Hinrichtung hat. Denn obwohl es |S.589:|Innstetten bei Crampas mit einem Berufsoffizier zu tun hat, braucht er sich keinen Moment danach zu fragen, ob er gegen diesen ein Pistolenduell überhaupt wagen könne. Er wie auch Wüllersdorf gehen ganz selbstverständlich davon aus, daß nur jener das Opfer sein könne.10) Wenn auf diese Weise Crampas' Tod aber letztlich nur recht und billig erscheint, so bedeutet das auch, daß auf das Duell hier kein so besonders kritisches Licht fällt.  

Im übrigen werden die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse in diesem Punkt aber auch falsch eingeschätzt. Zum einen war man sich in einer breiten Öffentlichkeit in der Verurteilung des Duells längst einig, so daß eine Kritik an ihm keineswegs mehr prinzipiell ,Gesellschaftskritik' war, zum anderen wurde es als Sonderbrauch einer bestimmten kleinen Schicht für so wichtig dann auch wieder nicht gehalten. Das gilt jedenfalls für Fälle wie den Ardenne-Fall, der durchaus nicht, wie man des öfteren zu lesen bekommt, für großes Aufsehen gesorgt hat. In der zufällig zwei Wochen nach diesem Duell stattfindenden Reichstagsdebatte über das Duellunwesen11) wird dieser jüngste Duellfall mit Todesfolge noch nicht einmal erwähnt, und auch Fontane selbst hat ja, obwohl zu dieser Zeit in Berlin, also am Ort des Geschehens, von dem Vorfall erst zwei Jahre später Kenntnis erhalten.12) Größeren Anteil nahm die Presse höchstens an Duellen aus beruflichen oder politischen Rivalitäten, so z.B. wenn ein Landrat jemanden allein schon deshalb vor die Pistole forderte, weil er gewagt hatte, seine Amtsführung zu kritisieren.13) Duelle um Liebesangelegenheiten erschienen im Vergleich dazu beinahe normal - auch wohl in der Sicht Fontanes. Mit der Duellfrage werde man so bald nicht fertig werden, schrieb er an Harden, denn eine Orientierung am Beispiel Englands mit seinen ,alles mit Moneten begleichenden Zuständen' erscheine ihm auch nicht ideal.14) 

2. Schlägt man von hier die Brücke zu dem zweiten Problemfeld, das den Roman als einen kritischen erscheinen läßt, zum Thema Scheidung, so gewinnt man darüber hinaus sogar den Eindruck, daß die Duellproblematik Fontane überhaupt eigentlich nicht interessiert hat, sondern daß sich auch der Verjährungsaspekt nur nebenbei aus den Umständen |S.590:|ergibt, auf die es ihm bei Effis Scheidungsgeschichte ankommt. Woran ihm offenbar in erster Linie gelegen war, ist, daß Effi ihre Verfehlung einerseits sehr jung und gewissermaßen noch unmündig begeht, wozu auch gehört, daß Ehemann wie Liebhaber wesentlich älter sind als sie, und daß andererseits deren Folgen sie erst erreichen, als sie sie längst bereut und nach ihren Möglichkeiten wieder gutgemacht hat. Mit anderen Worten: es liegt ihm an einer gewissen Nichtverantwortlichkeit seiner Protagonistin, sie soll nichts von dem, was geschieht, im vollen Sinne verschuldet haben. 

Das jedenfalls ergibt sich, wenn man sich auch hier zum Vergleich wieder an die Ardenne-Geschichte hält. Else von Plotho war mit ihren 19 Jahren zwar auch noch jung, als sie heiratete, aber sie war zuvor immerhin zwei Jahre verlobt gewesen und ihr Mann nur lediglich fünf Jahre älter als sie und nicht wie Innstetten 21 Jahre älter als Effi. Ergibt sich schon daraus ein gewisser Unterschied in der Eigenverantwortlichkeit der beiden Frauengestalten, so zeigt er sich erst recht in dem Ehekonflikt selbst. Als Frau von Ardenne zu dem in ihrem Hause verkehrenden, zehn Jahre älteren Emil Hartwich in eine engere Beziehung trat, war sie bereits 31 Jahre alt und mithin keineswegs mehr so unselbständig, wie es die 18jährige Effi gegenüber dem 44jährigen Crampas ist. Tatsächlich war dieses Verhältnis auch ein ganz anderes. Als die Ardennes von Düsseldorf, wo es begonnen hatte, nach Berlin übersiedelten, wurde die Verbindung aufrecht erhalten und entwickelte sich so, daß beide sich scheiden lassen und eine neue Ehe eingehen wollten. In diesem Stadium schöpfte Ardenne Verdacht, verschaffte sich den Beweis, indem er die Briefschatulle seiner Frau aufbrach, und erschoß Hartwich im Duell.15) 

Daß dieser Ehebruchsfall wesentlich mehr sozialen Konfliktstoff enthält als der von Fontane konstruierte, bedarf wohl keiner Erklärung. Während Innstetten auf eine Vergeltung verzichten und Effi stillschweigend hätte verzeihen können, gibt es im Fall Ardenne einen schwer zu beseitigenden Gegensatz zwischen dem Recht des Mannes auf Respektierung seiner Ehe auf der einen und dem Recht der Frau, sich scheiden zu lassen und wieder zu heiraten, auf der anderen Seite. Eine in dieser Weise provozierte Scheidung ließ einem Offizier aber kaum eine andere Wahl, als sich mit dem Ehebrecher zu duellieren. Zugleich greift Ardenne mit der Tötung des Liebhabers aber auch wiederum härter in das Lebensglück seiner Frau ein als Innstetten mit seiner bloß nachträglichen Rache an Crampas, so daß die Frage nach Recht und Unrecht hier also weit schwerer zu beantworten war. Unter gar keinen Umständen jedenfalls hätte Fontane hier bloß das Los der Frau als tragisch hinstellen können. Eine ,L'Adultera', die ihren Ehemann halb mit dessen Duldung verließ, war schon nicht unbedenklich gewesen. Eine, die durch ihr Verhalten ein Duell heraufbeschwor und die man deswegen auch noch hätte bedauern sollen, wäre also erst recht ein Ärgernis gewesen. 

Allerdings war Fontanes Einstellung zur Ehe auch keineswegs von der Art, daß er einer solchen Konstellation besonders viel Sympathie entgegengebracht hätte. Er hielt nichts von dem dazumal aufkommenden "Ibsenschen Eheblödsinn"16), wonach Ehegatten sich trennen durften oder gar sollten, wenn sich die Zuneigung fureinander verbraucht habe oder eine andere Verbindung mehr Glück zu versprechen schien. Die |S.591:|jederzeitige freie Selbstbestimmung über "das Stabile der Pflicht, über das Dauernde des Vertrages" zu stellen, war ihm gegenüber der alten Idee der Unauflöslichkeit der Ehe eine "Verschlimmbesserung ohnegleichen".17) Es war also keineswegs ein Zurückweichen vor öffentlicher Mißbilligung, wenn er den Ardenne-Konflikt nicht so behandelte, wie er ihn vorfand, bzw. Effi stellt nicht zufällig ihre Ehe gerade nicht ernsthaft in Frage. Daß aus einem der Briefe, die Innstetten findet, im Nachhinein ihr Wunsch hervorgeht, mit Crampas zu fliehen, hat nicht viel zu bedeuten. Es ist im Zeitpunkt des Geschehens so wenig motiviert, daß man nicht mehr als eine romantische Anwandlung darin sehen kann. 

Bedeuten nicht aber gerade darum die Folgen, die der Ehebruch für sie hat, eine um so härtere gesellschaftliche Anklage? Man könnte es meinen, hätte man nicht auch in diesem Falle wieder das ganz andere Schicksal Else von Ardennes vor Augen. Wie auch Fontane wußte, war diese bald nach der Trennung von ihrem Mann eine "ausgezeichnete Pflegerin in einer großen Heilanstalt" geworden, hatte also Trost und Bewährung in einem tätigen Leben gesucht.18) Effi nun gelingt das nicht, und nach Fontanes Willen sogar ausdrücklich deshalb nicht, weil die Gesellschaft ihr diesen Weg versperrt. Als sie sich wünscht, in einen Verein einzutreten, "wo man sich nützlich machen kann", kommt sie zu dem resignativen Schluß, daß man ihr dies als schuldig geschiedener Frau nicht gestatten würde.19) Das Merkwürdige ist nur, daß selbst diese Zuspitzung, die die Realität sogar noch um einiges schlimmer machte, als sie war, niemand gestört hat, sondern daß man mit Effis Zukunftslosigkeit als geschiedener Frau offenbar ganz einverstanden war. Hat Fontane nicht also auch hier den gesellschaftlichen Erwartungen eher entsprochen als sie in Frage gestellt? 

In einer der ganz wenigen kritischen Rezensionen, die dazumal zu Effi Briest erschienen sind, hat Franz Servaes, ein Vertreter des aufkommenden Impressionismus, den Schluß des Romans genau in diesem Sinne beanstandet. Nach ihrer Scheidung, so Servaes, haspele Effi nur graue Tage ab, und es sei leider auch nicht zu bestreiten, daß dergleichen vorkomme. Nur hätte Fontane dies nicht darstellen sollen, als sei es "allem Anschein nach in der Ordnung". Richtiger wäre gewesen, "daß er sie zu einem thätigen Leben hätte aufwachen, daß er sie über die Conventionen sich hätte erheben lassen. [...] Mag sein, daß diese Effi nur dieses empfinden konnte. Dann hätte ich entweder eine andere Effi gezeichnet, oder diese Effi zum Gegenstand einer mitleidsvollen Satire gemacht."20) 

Man wird lange suchen müssen, um in der späteren Literatur über den Roman noch einmal eine Äußerung zu finden, die das gesellschaftlich Bequeme an Effis duldendem Lebensverzicht so genau durchschaut. Denn natürlich wäre ein in Tätigkeit einmündendes Leben nach dem Beispiel der Frau von Ardenne ein irritierenderer Ausgang gewesen als das Dahinkümmern, mit dem Effi auf die Scheidung reagiert. Es wäre ein Ausgang |S.592:|eher nach Art von Irrungen Wirrungen gewesen, damit aber auch einer, dem man vielleicht ebenfalls den Vorwurf gemacht hätte, er ziehe den Leser allzusehr ins Prosaische hinunter. Indessen hat sich wohl auch Fontane selbst über die Konventionalität seines Schlusses nicht ganz hinwegtäuschen können. Grundsätzlich lebensbejahend und unsentimental eingestellt, hat ihn der gegen Effi zeugende Lebensweg und Lebensmut Else von Ardennes immer irritiert und ihn einmal sogar zu der verräterischen Bemerkung veranlaßt, daß jene, wenn sie wählen könnte, gewiß auch "lieber auf dem Rondel in Hohen-Kremmen" läge.21) 

3. Wenn nun weder die Duell- noch die Scheidungskonstellation für sonderlich gesellschaftskritisch zu halten ist -, wie steht es dann mit der dritten Erscheinung, an die in dieser Beziehung gedacht werden kann, mit der Effi aufgenötigten Konventionsehe? Zweifellos ist diese Ehe die eigentliche Ursache ihres Lebensdramas, und natürlich läßt der Roman diese Ursache auch nicht außer acht. Die Eltern Briest selbst schon äußern ja, nachdem sie die Verlobung arrangiert haben, Bedenken wegen Effis Jugendlichkeit, wegen des Alters- und Temperamentsunterschiedes zu Innstetten und auch hinsichtlich ihrer Liebe zu ihm. Nur reichen diese Bedenken dann doch nicht sehr weit. Daß sie ihrer Tochter das Verlöbnis zumuten, obwohl diese mit Innstetten anscheinend erst "vorgestern" ein erstes Mal gesprochen hat und noch nicht einmal siebzehn Jahre alt ist, und erst recht, daß sie sie ohne irgendeine weitere Begegnung mit ihrem Bräutigam drei Monate später schon in die Ehe entlassen, kommt ihnen als problematisch nicht in den Sinn.22) Indessen gewinnt man doch nicht den Eindruck, daß Fontane ihnen das als einen Mangel an Fürsorge anlasten bzw. überhaupt gegen diese Art der Ehestiftung etwas einwenden will. Als Frau von Briest sich am Ende, nach Effis Tod, fragt, ob diese für eine Ehe nicht doch noch zu jung gewesen sei, antwortet ihr Briest nicht nur ,ruhig' mit seiner Standardwendung vom ,zu weiten Feld', was der Frage wie stets das Ansehen weitgehender Unbeantwortbarkeit gibt, sondern Rollo, die ,überlegene' Kreatur, schüttelt dazu auch noch verneinend den Kopf.23) Von einer ernsthaften Kritik an ihrem Verhalten kann also keine Rede sein, und es war ja auch Fontanes Einstellung hier eher nüchtern. "Die Liebe findet sich", wandte er gegen die sich ausbreitende Meinung ein, nur Neigungsehen seien gesunde Ehen, "und wenn sie sich nicht findet, so schadet es nicht".24) 

Davon abgesehen muß aber auch eingewendet werden, daß der von ihm konstruierte Fall die damaligen Verhältnisse überhaupt nicht mehr traf. Das beginnt schon mit Effis Heiratsalter. Der Anteil der vor dem 20. Lebensjahr heiratenden Frauen lag in Preußen um 1880 - Effi heiratet der Chronologie des Romans nach 187825) - bei nur mehr zehn |S.593:|Prozent, so daß die Zahl der Siebzehnjährigen sicherlich nur nach Promille zählte. Auch wenn man davon ausgeht, daß in der Schicht, zu der Effi gehört, die Proportionen noch etwas andere waren, ist sie also bei der Hochzeit außergewöhnlich jung. Erst recht außergewöhnlich ist aber, daß sie bei dieser Jugend Hals über Kopf, d.h. ohne eine auch nur halbwegs anständige Verlobungszeit, an einen Mann verheiratet wird, der 21 Jahre älter ist. Das ist eine Konstellation, die eher in das 18. als in das 19. Jahrhundert gehört und sich - ein Zufall? - z.B. exakt in der Ehe von Goethes Eltern findet. Um 1880 wurden in Preußen nur noch knapp zwei Prozent der Ehen zwischen Frauen unter 20 und Männern zwischen 30 und 40 Jahren geschlossen, wobei auch hier zu bedenken ist, daß Effi in ihrer Altersgruppe an der unteren, Innstetten in seiner aber an der oberen Grenze steht.26) Und nachgerade das Degoutante streift ja der Zug, daß ihr ein Mann anempfohlen wird, der zwanzig Jahre zuvor schon um ihre Mutter geworben hat. Selbst wenn es also Fontanes Absicht gewesen wäre, der Gesellschaft seiner Zeit hier einen Spiegel vorzuhalten - nennenswert getroffen hätte er sie damit nicht, und es überzeugt auch nicht, wenn man, wie z.B. Müller-Seidel, den Altersunterschied zwischen Effi und Innstetten mit symbolischen Bedeutungen befrachtet und ihn in diesem Sinne für gesellschaftskritisch erklärt.27) 

Insgesamt ist mithin festzustellen, daß, wenn man denn Effi als ein Opfer ihrer Lebensumstände anzusehen geneigt war oder ist, es jedenfalls nicht gesellschaftlich typische Umstände sind, die hier vorliegen. Insofern brauchte sich aber auch niemand - im Unterschied zu früheren Romanen Fontanes mit ähnlich tragischen Vorkommnissen - durch ihr Unglück angeklagt oder auch nur in Frage gestellt zu fühlen. Im Gegenteil, hält man sich den historischen Fall vor Augen, der Fontane zu diesem Roman veranlaßt hat, so ist sogar festzustellen, daß er den gesellschaftlich brisanten Momenten seines Stoffes ausgewichen ist. Das gilt vor allem für das Bild und die Rolle Effis selbst. Die ganz passive, gleichsam beliebige Glückserwartung, mit der sie in die Welt tritt, und die Fügsamkeit, mit der sie alle Enttäuschungen erträgt, läßt ihr Schicksal weit weniger beunruhigend erscheinen, als es die selbstbewußten Lebensansprüche der Frau von Ardenne gewesen wären. Allenfalls könnte man es dem Leben allgemein vorwerfen, daß es einem Wesen wie Effi seine Hingabebereitschaft nicht besser lohnt. Auf der anderen |S.594:|Seite freilich erklärt diese melancholisch-versöhnliche Tendenz doch nicht, warum man auch über das hinwegzusehen geneigt war, was nach den Begriffen der Zeit ihre Schuld ausmachte, bzw. es erklärt die Tatsache, daß der Roman gesellschaftlich nicht anstieß, noch nicht, warum Effi als Figur so gefiel. 

 
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©Bernd W. Seiler, Januar 1999