Einleitung
Die Geschichte eines Erfolges
S. 586 bis 587


Wenn Effi Briest in den letzten zwei Jahrzehnten in unseren Schulen fast zur Pflichtlektüre geworden ist, so hängt das aufs engste damit zusammen, daß dieser Roman heute allgemein als gesellschaftskritisch verstanden wird, Effis Schicksal also als ein Beispiel dafür gilt, wie ein natürlich veranlagter, rein seinen Empfindungen folgender Mensch an bestimmten gesellschaftlichen Konventionen scheitert und ihnen schließlich zum Opfer fällt. Effi sei es um nichts als um ein ,schlichtes und schönes Leben' gegangen, lautet etwa ein in diesem Sinne paradigmatisch gewordenes Urteil von Lukacs, die Gesellschaft jedoch habe diesen ihren Anspruch einfach ,zerstampft'.1) Oder man denke an die immer wieder als besonders werkgetreu gelobte Verfilmung des Romans durch Faßbinder, in der Effi, regelmäßig ganz in Weiß, von lauter deformierten Gesellschaftswesen umgeben ist, die nicht ruhen, bis sie dieses einzige unverdorbene Geschöpf zugrunde gerichtet haben.2) Daß hinter solchen Deutungen stets auch die Absicht steht, heutige gesellschaftliche Verhältnisse zu kennzeichnen und zu kritisieren, versteht sich von selbst, soll hier aber nicht weiter beachtet werden, zumal natürlich auch zweifelhaft ist, daß ausgerechnet der Fall Effi Briest zur Bestimmung heutiger gesellschaftlicher Mißstände viel beitragen kann. Zunächst stellt sich die Frage nach der Plausibilitat jener Deutungen selbst, denn erst einmal sind sie es, die sich bei der Behandlung des Romans bewähren müssen. 

Was zu ihnen nun in einem immer wieder merkwürdigen, wenn auch wenig beachteten Gegensatz steht, das ist die hinlänglich bekannte Tatsache, daß die von Fontane vermeintlich in Grund und Boden gedonnerte Gesellschaft dieses Werk von Anfang an hoch geschätzt hat. Effi Briest war Fontanes erster wirklicher Erfolg, in der Presse wie im Publikum, bereits im ersten Jahr brachte es die Buchausgabe zu fünf Auflagen.3) Das ist um so bemerkenswerter, als sich dieser Erfolg der Zuneigung zu Effi selbst verdankte, einer Figur immerhin, die einen Ehebruch begeht und die seinetwegen noch nicht einmal für schuldig erklärt wird. Schon Fontane selbst war von dieser Wirkung überrascht und stellte fest:

Ja, Effi! Alle Leute sympathisieren mit ihr, und einige gehen so weit, im Gegensatze dazu, den Mann als einen ,alten Ekel' zu bezeichnen. Das amüsiert mich natürlich, gibt mir aber auch zu denken, weil es wieder beweist, wie wenig den Menschen an der sogenannten ,Moral' liegt und wie die liebenswürdigen Naturen dem Menschenherzen sympathischer sind. 4)
 
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Trifft diese Erklärung jedoch zu, bzw. hatte Fontane nicht zuvor ganz andere Erfahrungen gemacht? Auch in L'Adultera, seinem ersten Berliner Gesellschaftsroman, ist die Hauptfigur sicherlich eine liebenswürdige Natur, und doch war man nicht bereit, über ihre Verfehlung ohne weiteres hinwegzusehen. Es sei und bleibe ein Ehebruch, urteilte die Kritik, und es sei nicht die Aufgabe des Dichters, dergleichen "auch nur zu beschönigen, geschweige denn zu rechtfertigen".5) Ähnliche moralische Verdikte gab es gegenüber Irrungen Wirrungen, dieser ,Schneppengeschichte', wie es in Kreisen der "Vossischen Zeitung" hieß, und auch für Stine meinte Fontane sich des ,sittlichen Hallo' seiner Zeitgenossen gewiß sein zu können, falls es zu einem Abdruck dieser Novelle in einer Tageszeitung oder einer Familienzeitschrift käme.6) Von einer grundsätzlichen Bereitschaft der Zeit, es bei Frauen von einiger Liebenswürdigkeit mit deren Moral so genau nicht zu nehmen oder in ihnen gar Opfer gesellschaftlicher Zwänge zu sehen, kann also keine Rede sein, sondern es ist durchaus eine Besonderheit von Effi Briest, wenn es hier zu entsprechenden Einwänden nicht kam. 

Will man sich nicht mit der probaten Ausflucht zufriedengeben, daß die Gesellschaft die gegen sie gerichtete Anklage nur nicht erkannt, den Roman ,mißverstanden' habe, eine Ausflucht, weil eine derart zu verkennende Anklage ja letztlich keine wäre -, so erscheint es also wohl zweifelhaft, ob von einer maßgeblichen gesellschaftskritischen Tendenz hier die Rede sein kann. Schon gar nicht natürlich aber dürfte sie die Ursache für die öffentliche Zustimmung sein. Indessen muß auf diese Deutungsrichtung hier doch zunächst eingegangen werden. Nicht nur lenkt das in dieser Hinsicht bestehende Vorurteil den Blick von anderen Wirkungszusammenhängen ab, sondern es gibt in diesem Umfeld auch einige historische Fehleinschätzungen zu korrigieren, die sich in der Literatur zu Effi Briest beharrlich forterben. 

 
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©Bernd W. Seiler, Januar 1999