Theodor Fontane: "Effi Briest"alte /neue Rechtschreibung Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
Vierundzwanzigstes Kapitel
Sprung zu Absatz01 Drei Tage danach, ziemlich spät, um die neunte Stunde, traf Innstetten in Berlin ein. Alles war am Bahnhof: Effi, die Mama, der Vetter; der Empfang war herzlich, am herzlichsten von seiten Effi's, und man hatte bereits eine Welt von Dingen durchgesprochen, als der Wagen, den man genommen, vor der neuen Wohnung in der Keithstraße hielt. »Ach, da hast Du gut gewählt, Effi,« sagte Innstetten, als er in das Vestibül eintrat, »kein Haifisch, kein Krokodil und hoffentlich auch kein Spuk.«
Sprung zu Absatz02 »Nein, Geert, damit ist es nun vorbei. Nun bricht eine andere Zeit an, und ich fürchte mich nicht mehr und will auch besser sein als früher und Dir mehr zu Willen leben.« Alles das flüsterte sie ihm zu, während sie die teppichbedeckte Treppe bis in den zweiten Stock hinanstiegen. Der Vetter führte die Mama.
Sprung zu Absatz03 Oben fehlte noch manches, aber für einen wohnlichen Eindruck war doch gesorgt, und Innstetten sprach seine Freude darüber aus. »Effi, Du bist doch ein kleines Genie«; aber diese lehnte das Lob ab und zeigte auf die Mama, die habe das eigentliche Verdienst. »Hier muß es stehen,« so hab' es unerbittlich geheißen, und immer habe sie's getroffen, wodurch natürlich viel Zeit gespart und die gute Laune nie gestört worden sei. Zuletzt kam auch Roswitha, um den Herrn zu begrüßen, bei welcher Gelegenheit sie sagte: »Fräulein Annie ließe sich für heute entschuldigen« - ein kleiner Witz, auf den sie stolz war und mit dem sie auch ihren Zweck vollkommen erreichte.
Sprung zu Absatz04 Und nun nahmen sie Platz um den schon gedeckten Tisch, und als Innstetten sich ein Glas Wein eingeschenkt und »auf glückliche Tage« mit allen angestoßen hatte, nahm er Effi's Hand und sagte: »Aber Effi, nun erzähle mir, was war das mit Deiner Krankheit?«
Sprung zu Absatz05 »Ach, lassen wir doch das, nicht der Rede wert; ein bißchen schmerzhaft und eine rechte Störung, weil es einen Strich durch unsere Pläne machte. Aber mehr war es nicht, und nun ist es vorbei. Rummschüttel hat sich bewährt, ein feiner, liebenswürdiger, alter Herr, wie ich Dir, glaub' ich, schon schrieb. In seiner Wissenschaft soll er nicht gerade glänzen, aber Mama sagt, das sei ein Vorzug. Und sie wird wohl recht haben wie in allen Stücken. Unser guter Dr. Hannemann war auch kein Licht und traf es doch immer. Und nun sage, was macht Gieshübler und die anderen alle?«
Sprung zu Absatz06 »Ja, wer sind die anderen alle? Crampas läßt sich der gnäd'gen Frau empfehlen ...«
Sprung zu Absatz07 »Ah, sehr artig.«
Sprung zu Absatz08 »Und der Pastor will Dir desgleichen empfohlen sein; nur die Herrschaften auf dem Lande waren ziemlich nüchtern und schienen auch mich für Deinen Abschied ohne Abschied verantwortlich machen zu wollen. Unsere Freundin Sidonie war sogar spitz, und nur die gute Frau von Padden, zu der ich eigens vorgestern noch hinüberfuhr, freute sich aufrichtig über Deinen Gruß und Deine Liebeserklärung an sie. 'Du seist eine reizende Frau,' sagte sie, 'aber ich sollte Dich gut hüten.' Und als ich ihr erwiderte: 'Du fändest schon, daß ich mehr ein »Erzieher« als ein Ehemann sei,' sagte sie halblaut und beinahe wie abwesend: 'Ein junges Lämmchen weiß wie Schnee.' Und dann brach sie ab.«
Sprung zu Absatz09 Vetter Briest lachte. »'Ein junges Lämmchen weiß wie Schnee ...' Da hörst Du's, Cousine.« Und er wollte sie zu necken fortfahren, gab es aber auf, als er sah, daß sie sich verfärbte.
Sprung zu Absatz10 Das Gespräch, das meist zurückliegende Verhältnisse berührte, spann sich noch eine Weile weiter, und Effi erfuhr zuletzt aus diesem und jenem, was Innstetten mitteilte, daß sich von dem ganzen Kessiner Hausstande nur Johanna bereit erklärt habe, die Übersiedlung nach Berlin mitzumachen. Sie sei natürlich noch zurückgeblieben, werde aber in zwei, drei Tagen mit dem Rest der Sachen eintreffen; er sei froh über ihren Entschluß, denn sie sei immer die brauchbarste gewesen und von einem ausgesprochenen großstädtischen Chic. Vielleicht ein bißchen zu sehr. Kristel und Friedrich hätten sich beide für zu alt erklärt, und mit Kruse zu verhandeln, habe sich von vorn herein verboten. »Was soll uns ein Kutscher hier?« schloß Innstetten. »Pferd und Wagen, das sind tempi passati, mit diesem Luxus ist es in Berlin vorbei. Nicht einmal das schwarze Huhn hätten wir unterbringen können. Oder unterschätz' ich die Wohnung?«
Sprung zu Absatz11 Effi schüttelte den Kopf, und als eine kleine Pause eintrat, erhob sich die Mama; es sei bald elf, und sie habe noch einen weiten Weg, übrigens solle sie niemand begleiten, der Droschkenstand sei ja nah - ein Ansinnen, das Vetter Briest natürlich ablehnte. Bald darauf trennte man sich, nachdem noch Rendez-vous für den anderen Vormittag verabredet war.
Sprung zu Absatz12 Effi war ziemlich früh auf und hatte - die Luft war beinahe sommerlich warm - den Kaffeetisch bis nahe an die geöffnete Balkonthür rücken lassen, und als Innstetten nun auch erschien, trat sie mit ihm auf den Balkon hinaus und sagte: »Nun, was sagst Du? Du wolltest den Finkenschlag aus dem Tiergarten hören und die Papageien aus dem Zoologischen. Ich weiß nicht, ob beide Dir den Gefallen thun werden, aber möglich ist es. Hörst Du wohl? Das kam von drüben, drüben aus dem kleinen Park. Es ist nicht der eigentliche Tiergarten, aber doch beinah'.«
Sprung zu Absatz13 Innstetten war entzückt und von einer Dankbarkeit, als ob Effi ihm das alles persönlich herangezaubert habe. Dann setzten sie sich, und nun kam auch Annie. Roswitha verlangte, daß Innstetten eine große Veränderung an dem Kinde finden solle, was er denn auch schließlich that. Und dann plauderten sie weiter, abwechselnd über die Kessiner und die in Berlin zu machenden Visiten und ganz zuletzt auch über eine Sommerreise. Mitten im Gespräch aber mußten sie abbrechen, um rechtzeitig beim Rendez-vous erscheinen zu können.
____________
Sprung zu Absatz
Sprung zu Absatz14 Man traf sich, wie verabredet, bei Helms, gegenüber dem roten Schloß, besuchte verschiedene Läden, aß bei Hiller und war bei guter Zeit wieder zu Haus. Es war ein gelungenes Beisammensein gewesen. Innstetten herzlich froh, das großstädtische Leben wieder mitmachen und auf sich wirken lassen zu können. Tags darauf, am 1. April, begab er sich in das Kanzlerpalais, um sich einzuschreiben (eine persönliche Gratulation unterließ er aus Rücksicht), und ging dann aufs Ministerium, um sich da zu melden. Er wurde auch angenommen, trotzdem es ein geschäftlich und gesellschaftlich sehr unruhiger Tag war, ja, sah sich seitens seines Chefs durch besonders entgegenkommende Liebenswürdigkeit ausgezeichnet. »Er wisse, was er an ihm habe und sei sicher, ihr Einvernehmen nie gestört zu sehen.«
Sprung zu Absatz15 Auch im Hause gestaltete sich alles zum guten. Ein aufrichtiges Bedauern war es für Effi, die Mama, nachdem diese, wie gleich anfänglich vermutet, fast sechs Wochen lang in Kur gewesen, nach Hohen-Cremmen zurückkehren zu sehen, ein Bedauern, das nur dadurch einigermaßen gemildert wurde, daß sich Johanna denselben Tag noch in Berlin einstellte. Das war immerhin 'was, und wenn die hübsche Blondine dem Herzen Effi's auch nicht ganz so nahe stand wie die ganz selbstsuchtslose und unendlich gutmütige Roswitha, so war sie doch gleichmäßig angesehen, ebenso bei Innstetten wie bei ihrer jungen Herrin, weil sie sehr geschickt und brauchbar und der Männerwelt gegenüber von einer ausgesprochenen und selbstbewußten Reserviertheit war. Einem Kessiner on dit zufolge ließen sich die Wurzeln ihrer Existenz auf eine längst pensionierte Größe der Garnison Pasewalk zurückführen, woraus man sich auch ihre vornehme Gesinnung, ihr schönes blondes Haar und die besondere Plastik ihrer Gesamterscheinung erklären wollte. Johanna selbst teilte die Freude, die man allerseits über ihr Eintreffen empfand, und war durchaus einverstanden damit, als Hausmädchen und Jungfer, ganz wie früher, den Dienst bei Effi zu übernehmen, während Roswitha, die der Kristel in beinahe Jahresfrist ihre Kochkünste so ziemlich abgelernt hatte, dem Küchendepartement vorstehen sollte. Annie's Abwartung und Pflege fiel Effi selber zu, worüber Roswitha freilich lachte. Denn sie kannte die jungen Frauen.
Sprung zu Absatz16 Innstetten lebte ganz seinem Dienst und seinem Haus. Er war glücklicher als vordem in Kessin, weil ihm nicht entging, daß Effi sich unbefangener und heiterer gab. Und das konnte sie, weil sie sich freier fühlte. Wohl blickte das Vergangene noch in ihr Leben hinein, aber es ängstigte sie nicht mehr oder doch um vieles seltener und vorübergehender, und alles, was davon noch in ihr nachzitterte, gab ihrer Haltung einen eigenen Reiz. In jeglichem, was sie that, lag etwas Wehmütiges, wie eine Abbitte, und es hätte sie glücklich gemacht, dies alles noch deutlicher zeigen zu können. Aber das verbot sich freilich.
Sprung zu Absatz17 Das gesellschaftliche Leben der großen Stadt war, als sie während der ersten Aprilwochen ihre Besuche machten, noch nicht vorüber, wohl aber im Erlöschen, und so kam es für sie zu keiner rechten Teilnahme mehr daran. In der zweiten Hälfte des Mai starb es dann ganz hin, und mehr noch als vorher war man glücklich, sich in der Mittagsstunde, wenn Innstetten von seinem Ministerium kam, im Tiergarten treffen oder nachmittags einen Spaziergang nach dem Charlottenburger Schloßgarten machen zu können. Effi sah sich, wenn sie die lange Front zwischen dem Schloß und den Orangeriebäumen auf und ab schritt, immer wieder die massenhaft dort stehenden römischen Kaiser an, fand eine merkwürdige Ähnlichkeit zwischen Nero und Titus, sammelte Tannenäpfel, die von den Trauertannen gefallen waren, und ging dann, Arm in Arm mit ihrem Manne, bis auf das nach der Spree hin einsam gelegene »Belvedere« zu.
Sprung zu Absatz18 »Da drin soll es auch einmal gespukt haben,« sagte sie.
Sprung zu Absatz19 »Nein, bloß Geistererscheinungen.«
Sprung zu Absatz20 »Das ist dasselbe.«
Sprung zu Absatz21 »Ja, zuweilen,« sagte Innstetten. »Aber eigentlich ist doch ein Unterschied. Geistererscheinungen werden immer gemacht - wenigstens soll es hier in dem 'Belvedere' so gewesen sein, wie Vetter Briest erst gestern noch erzählte - Spuk aber wird nie gemacht, Spuk ist natürlich.«
Sprung zu Absatz22 »Also glaubst Du doch dran?«
Sprung zu Absatz23 »Gewiß glaub' ich dran. Es giebt so 'was. Nur an das, was wir in Kessin davon hatten, glaub' ich nicht recht. Hat Dir denn Johanna schon ihren Chinesen gezeigt?«
Sprung zu Absatz24 »Welchen?«
Sprung zu Absatz25 »Nun, unsern. Sie hat ihn, eh' sie unser altes Haus verließ, oben von der Stuhllehne abgelöst und ihn ins Portemonnaie gelegt. Als ich mir neulich ein Markstück bei ihr wechselte, hab' ich ihn gesehen. Und sie hat es mir auch verlegen bestätigt.«
Sprung zu Absatz26 »Ach, Geert, das hättest Du mir nicht sagen sollen. Nun ist doch wieder so 'was in unserm Hause.«
Sprung zu Absatz27 »Sag' ihr, daß sie ihn verbrennt.«
Sprung zu Absatz28 »Nein, das mag ich auch nicht, und das hilft auch nichts. Aber ich will Roswitha bitten ...«
Sprung zu Absatz29 »Um was? Ah, ich verstehe schon, ich ahne, was Du vorhast. Die soll ein Heiligenbild kaufen und es dann auch ins Portemonnaie thun. Ist es so 'was?«
Sprung zu Absatz30 Effi nickte.
Sprung zu Absatz31 »Nun, thu' was Du willst. Aber sag' es niemandem.«
Sprung zu Absatz32 Effi meinte dann schließlich, es lieber doch lassen zu wollen, und unter allerhand kleinem Geplauder, in welchem die Reisepläne für den Sommer mehr und mehr Platz gewannen, fuhren sie bis an den großen Stern zurück und gingen dann durch die Korso-Allee und die breite Friedrich-Wilhelmsstraße auf ihre Wohnung zu.
____________
Sprung zu Absatz
Sprung zu Absatz33 Sie hatten vor, schon Ende Juli Urlaub zu nehmen und ins bayerische Gebirge zu gehen, wo gerade in diesem Jahre wieder die Oberammergauer Spiele stattfanden. Es ließ sich aber nicht thun; Geheimrat von Wüllersdorf, den Innstetten schon von früher her kannte und der jetzt sein Spezialkollege war, erkrankte plötzlich, und Innstetten mußte bleiben und ihn vertreten. Erst Mitte August war alles wieder beglichen und damit die Reisemöglichkeit gegeben; es war aber nun zu spät geworden, um noch nach Oberammergau zu gehen, und so entschied man sich für einen Aufenthalt auf Rügen. »Zunächst natürlich Stralsund, mit Schill, den Du kennst, und mit Scheele, den Du nicht kennst und der den Sauerstoff entdeckte, was man aber nicht zu wissen braucht. Und dann von Stralsund nach Bergen und dem Rugard, von wo man, wie mir Wüllersdorf sagte, die ganze Insel übersehen kann, und dann zwischen dem Großen und Kleinen Jasmunder Bodden hin, bis nach Saßnitz. Denn nach Rügen reisen heißt nach Saßnitz reisen. Binz ginge vielleicht auch noch, aber da sind - ich muß Wüllersdorf noch einmal zitieren - so viele kleine Steinchen und Muschelschalen am Strande, und wir wollen doch baden.«
Sprung zu Absatz34 Effi war einverstanden mit allem, was von seiten Innstetten's geplant wurde, vor allem auch damit, daß der ganze Hausstand auf vier Wochen aufgelöst werden und Roswitha mit Annie nach Hohen-Cremmen, Johanna aber zu ihrem etwas jüngeren Halbbruder reisen sollte, der bei Pasewalk eine Schneidemühle hatte. So war alles gut untergebracht. Mit Beginn der nächsten Woche brach man denn auch wirklich auf, und am selben Abende noch war man in Saßnitz. Über dem Gasthause stand »Hotel Fahrenheit«. »Die Preise hoffentlich nach Réaumur,« setzte Innstetten, als er den Namen las, hinzu, und in bester Laune machten beide noch einen Abendspaziergang an dem Klippenstrande hin und sahen von einem Felsenvorsprung aus auf die stille, vom Mondschein überzitterte Bucht. Effi war entzückt. »Ach, Geert, das ist ja Capri, das ist ja Sorrent. Ja, hier bleiben wir. Aber natürlich nicht im Hotel; die Kellner sind mir zu vornehm, und man geniert sich, um eine Flasche Sodawasser zu bitten ...«
Sprung zu Absatz35 »Ja, lauter Attachés. Es wird sich aber wohl eine Privatwohnung finden lassen.«
Sprung zu Absatz36 »Denk' ich auch. Und wir wollen gleich morgen danach aussehen.«
Sprung zu Absatz37 Schön wie der Abend war der Morgen, und man nahm das Frühstück im Freien. Innstetten empfing etliche Briefe, die schnell erledigt werden mußten, und so beschloß Effi, die für sie frei gewordene Stunde sofort zur Wohnungssuche zu benutzen. Sie ging erst an einer eingepferchten Wiese, dann an Häusergruppen und Haferfeldern vorüber und bog zuletzt in einen Weg ein, der schluchtartig auf das Meer zulief. Da, wo dieser Schluchtenweg den Strand traf, stand ein von hohen Buchen überschattetes Gasthaus, nicht so vornehm wie das Fahrenheit'sche, mehr ein bloßes Restaurant, in dem, der frühen Stunde halber, noch alles leer war. Effi nahm an einem Aussichtspunkte Platz, und kaum daß sie von dem Sherry, den sie bestellt, genippt hatte, so trat auch schon der Wirt an sie heran, um halb aus Neugier und halb aus Artigkeit ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen.
Sprung zu Absatz38 »Es gefällt uns sehr gut hier,« sagte sie, »meinem Manne und mir; welch' prächtiger Blick über die Bucht, und wir sind nur in Sorge wegen einer Wohnung.«
Sprung zu Absatz39 »Ja, gnädigste Frau, das wird schwer halten ...«
Sprung zu Absatz40 »Es ist aber schon spät im Jahr ...«
Sprung zu Absatz41 »Trotzdem. Hier in Saßnitz ist sicherlich nichts zu finden, dafür möcht' ich mich verbürgen; aber weiterhin am Strand, wo das nächste Dorf anfängt, Sie können die Dächer von hier aus blinken sehen, da möcht' es vielleicht sein.«
Sprung zu Absatz42 »Und wie heißt das Dorf?«
Sprung zu Absatz43 »Crampas.«
Sprung zu Absatz44 Effi glaubte, nicht recht gehört zu haben. »Crampas,« wiederholte sie mit Anstrengung. »Ich habe den Namen als Ortsnamen nie gehört ... Und sonst nichts in der Nähe?«
Sprung zu Absatz45 »Nein, gnädigste Frau. Hier herum nichts. Aber höher hinauf, nach Norden zu, da kommen noch wieder Dörfer, und in dem Gasthause, das dicht neben Stubbenkammer liegt, wird man Ihnen gewiß Auskunft geben können. Es werden dort von solchen, die gerne noch vermieten wollen, immer Adressen abgegeben.«
Sprung zu Absatz46 Effi war froh, das Gespräch allein geführt zu haben, und als sie bald danach ihrem Manne Bericht erstattet und nur den Namen des an Saßnitz angrenzenden Dorfes verschwiegen hatte, sagte dieser: »Nun, wenn es hier herum nichts giebt, so wird es das beste sein, wir nehmen einen Wagen (wodurch man sich beiläufig einem Hotel immer empfiehlt) und übersiedeln ohne weiteres da höher hinauf, nach Stubbenkammer hin. Irgend 'was Idyllisches mit einer Geisblattlaube wird sich da wohl finden lassen, und finden wir nichts, so bleibt uns immer noch das Hotel selbst. Eins ist schließlich wie das andere.«
Sprung zu Absatz47 Effi war einverstanden, und gegen Mittag schon erreichten sie das neben Stubbenkammer gelegene Gasthaus, von dem Innstetten eben gesprochen, und bestellten daselbst einen Imbiß. »Aber erst nach einer halben Stunde; wir haben vor, zunächst noch einen Spaziergang zu machen und uns den Herthasee anzusehen. Ein Führer ist doch wohl da?«
Sprung zu Absatz48 Dies wurde bejaht, und ein Mann von mittleren Jahren trat alsbald an unsere Reisenden heran. Er sah so wichtig und feierlich aus, als ob er mindestens ein Adjunkt bei dem alten Herthadienst gewesen wäre.
Sprung zu Absatz49 Der von hohen Bäumen umstandene See lag ganz in der Nähe, Binsen säumten ihn ein, und auf der stillen, schwarzen Wasserfläche schwammen zahlreiche Mummeln.
Sprung zu Absatz50 »Es sieht wirklich nach so 'was aus,« sagte Effi, »nach Herthadienst.«
Sprung zu Absatz51 »Ja, gnäd'ge Frau ... Dessen sind auch noch die Steine Zeugen.«
Sprung zu Absatz52 »Welche Steine?«
Sprung zu Absatz53 »Die Opfersteine.«
Sprung zu Absatz54 Und während sich das Gespräch in dieser Weise fortsetzte, traten alle drei vom See her an eine senkrecht abgestochene Kies- und Lehmwand heran, an die sich etliche glatt polierte Steine lehnten, alle mit einer flachen Höhlung und etlichen nach unten laufenden Rinnen.
Sprung zu Absatz55 »Und was bezwecken die?«
Sprung zu Absatz56 »Daß es besser abliefe, gnäd'ge Frau.«
Sprung zu Absatz57 »Laß uns gehen,« sagte Effi, und den Arm ihres Mannes nehmend, ging sie mit ihm wieder auf das Gasthaus zurück, wo nun, an einer Stelle mit weitem Ausblick auf das Meer, das vorher bestellte Frühstück aufgetragen wurde. Die Bucht lag im Sonnenlichte vor ihnen, einzelne Segelboote glitten darüber hin, und um die benachbarten Klippen haschten sich die Möwen. Es war sehr schön, auch Effi fand es, aber wenn sie dann über die glitzernde Fläche hinwegsah, bemerkte sie, nach Süden zu, wieder die hell aufleuchtenden Dächer des langgestreckten Dorfes, dessen Name sie heute früh so sehr erschreckt hatte.
Sprung zu Absatz58 Innstetten, wenn auch ohne Wissen und Ahnung dessen, was in ihr vorging, sah doch deutlich, daß es ihr an aller Lust und Freude gebrach. »Es thut mir leid, Effi, daß Du der Sache hier nicht recht froh wirst. Du kannst den Herthasee nicht vergessen und noch weniger die Steine.«
Sprung zu Absatz59 Sie nickte. »Es ist so wie Du sagst. Und ich muß Dir bekennen, ich habe nichts in meinem Leben gesehen, was mich so traurig gestimmt hätte. Wir wollen das Wohnungssuchen ganz aufgeben; ich kann hier nicht bleiben.«
Sprung zu Absatz60 »Und gestern war es Dir noch der Golf von Neapel und alles mögliche Schöne.«
Sprung zu Absatz61 »Ja, gestern.«
Sprung zu Absatz62 »Und heute? Heute keine Spur mehr von Sorrent?«
Sprung zu Absatz63 »Eine Spur noch, aber auch nur eine Spur; es ist Sorrent, als ob es sterben wollte.«
Sprung zu Absatz64 »Gut dann, Effi,« sagte Innstetten und reichte ihr die Hand. »Ich will Dich mit Rügen nicht quälen, und so geben wir's denn auf. Abgemacht. Es ist nicht nötig, daß wir uns an Stubbenkammer anklammern oder an Saßnitz oder da weiter hinunter. Aber wohin?«
Sprung zu Absatz65 »Ich denke, wir bleiben noch einen Tag und warten das Dampfschiff ab, das, wenn ich nicht irre, morgen von Stettin kommt und nach Kopenhagen hinüberfährt. Da soll es ja so vergnüglich sein, und ich kann Dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich nach etwas Vergnüglichem sehne. Hier ist mir, als ob ich in meinem ganzen Leben nicht mehr lachen könnte und überhaupt nie gelacht hätte, und Du weißt doch, wie gern ich lache.«
Sprung zu Absatz66 Innstetten zeigte sich voll Teilnahme mit ihrem Zustand, und das um so lieber, als er ihr in vielem recht gab. Es war wirklich alles schwermütig, so schön es war.
Sprung zu Absatz67 Und so warteten sie denn das Stettiner Schiff ab und trafen am dritten Tage in aller Frühe in Kopenhagen ein, wo sie auf Kongens Nytorv Wohnung nahmen. Zwei Stunden später waren sie schon im Thorwaldsen-Museum, und Effi sagte: »Ja, Geert, das ist schön, und ich bin glücklich, daß wir uns hierher auf den Weg gemacht haben.« Bald danach gingen sie zu Tisch und machten an der Table d'hote die Bekanntschaft einer ihnen gegenüber sitzenden jütländischen Familie, deren bildschöne Tochter, Thora von Penz, ebenso Innstetten's wie Effi's beinah bewundernde Aufmerksamkeit sofort in Anspruch nahm. Effi konnte sich nicht satt sehen an den großen, blauen Augen und dem flachsblonden Haar, und als man sich nach anderthalb Stunden von Tisch erhob, wurde seitens der Penz'schen Familie - die leider, denselben Tag noch, Kopenhagen wieder verlassen mußte - die Hoffnung ausgesprochen, das junge preußische Paar mit nächstem in Schloß Aggerhuus (eine halbe Meile vom Limfjord) begrüßen zu dürfen, eine Einladung, die von den Innstetten's auch ohne langes Zögern angenommen wurde. So vergingen die Stunden im Hotel. Aber damit war es nicht genug des Guten an diesem denkwürdigen Tage, von dem Effi denn auch versicherte, daß er im Kalender rot angestrichen werden müsse. Der Abend brachte, das Maß des Glücks voll zu machen, eine Vorstellung im Tivoli-Theater: eine italienische Pantomime, Arlequin und Colombine. Effi war wie berauscht von den kleinen Schelmereien, und als sie spät am Abend nach ihrem Hotel zurückkehrten, sagte sie: »Weißt Du, Geert, nun fühl' ich doch, daß ich allmählich wieder zu mir komme. Von der schönen Thora will ich gar nicht erst sprechen; aber wenn ich bedenke, heute Vormittag Thorwaldsen und heute Abend diese Colombine ... «
Sprung zu Absatz68 »... Die Dir im Grunde doch noch lieber war als Thorwaldsen...«
Sprung zu Absatz69 »Offen gestanden, ja. Ich habe nun 'mal den Sinn für dergleichen. Unser gutes Kessin war ein Unglück für mich. Alles fiel mir da auf die Nerven. Rügen beinah' auch. Ich denke, wir bleiben noch ein paar Tage hier in Kopenhagen, natürlich mit Ausflug nach Frederiksborg und Helsingör, und dann nach Jütland hinüber; ich freue mich aufrichtig, die schöne Thora wiederzusehen, und wenn ich ein Mann wäre, so verliebte ich mich in sie.«
Sprung zu Absatz70 Innstetten lachte. »Du weißt noch nicht, was ich thue.«
Sprung zu Absatz71 »Wär' mir schon recht. Dann giebt es einen Wettstreit, und Du sollst sehen, dann hab' ich auch noch meine Kräfte.«
Sprung zu Absatz72 »Das brauchst Du mir nicht erst zu versichern.«
____________
Sprung zu Absatz
Sprung zu Absatz72 So verlief denn auch die Reise. Drüben in Jütland fuhren sie den Limfjord hinauf, bis Schloß Aggerhuus, wo sie drei Tage bei der Penz'schen Familie verblieben, und kehrten dann mit vielen Stationen und kürzeren und längeren Aufenthalten in Viborg, Flensburg, Kiel über Hamburg (das ihnen ungemein gefiel) in die Heimat zurück - nicht direkt nach Berlin in die Keithstraße, wohl aber vorher nach Hohen-Cremmen, wo man sich nun einer wohlverdienten Ruhe hingeben wollte, für Innstetten bedeutete das nur wenige Tage, da sein Urlaub abgelaufen war, Effi blieb aber noch eine Woche länger und sprach es aus, erst zum dritten Oktober, ihrem Hochzeitstage, wieder zu Hause eintreffen zu wollen.
Sprung zu Absatz73 Annie war in der Landluft prächtig gediehen, und was Roswitha geplant hatte, daß sie der Mama in Stiefelchen entgegen laufen sollte, das gelang auch vollkommen. Briest gab sich als zärtlicher Großvater, warnte vor zu viel Liebe, noch mehr vor zu viel Strenge, und war in allem der alte. Eigentlich aber galt all' seine Zärtlichkeit doch nur Effi, mit der er sich in seinem Gemüt immer beschäftigte, zumeist auch, wenn er mit seiner Frau allein war.
Sprung zu Absatz74 »Wie findest Du Effi?«
Sprung zu Absatz75 »Lieb und gut wie immer. Wir können Gott nicht genug danken, eine so liebenswürdige Tochter zu haben. Und wie dankbar sie für alles ist und immer so glücklich, wieder unter unserm Dach zu sein.«
Sprung zu Absatz76 »Ja,« sagte Briest, »sie hat von dieser Tugend mehr als mir lieb ist. Eigentlich ist es, als wäre dies hier immer noch ihre Heimstätte. Sie hat doch den Mann und das Kind, und der Mann ist ein Juwel und das Kind ist ein Engel, aber dabei thut sie als wäre Hohen-Cremmen immer noch die Hauptsache für sie, und Mann und Kind kämen gegen uns beide nicht an. Sie ist eine prächtige Tochter, aber sie ist es mir zu sehr. Es ängstigt mich ein bißchen. Und ist auch ungerecht gegen Innstetten. Wie steht es denn eigentlich damit?«
Sprung zu Absatz77 »Ja, Briest, was meinst Du?«
Sprung zu Absatz78 »Nun, ich meine, was ich meine, und Du weißt auch was. Ist sie glücklich? Oder ist da doch irgend 'was im Wege? Von Anfang an war mir's so, als ob sie ihn mehr schätze als liebe. Und das ist in meinen Augen ein schlimm Ding. Liebe hält auch nicht immer vor, aber Schätzung gewiß nicht. Eigentlich ärgern sich die Weiber, wenn sie wen schätzen müssen; erst ärgern sie sich, und dann langweilen sie sich, und zuletzt lachen sie.«
Sprung zu Absatz79 »Hast Du so 'was an Dir selber erfahren?«
Sprung zu Absatz80 »Das will ich nicht sagen. Dazu stand ich nicht hoch genug in der Schätzung. Aber schrauben wir uns nicht weiter, Luise. Sage, wie steht es?«
Sprung zu Absatz81 »Ja, Briest, Du kommst immer auf diese Dinge zurück. Da reicht ja kein dutzendmal, daß wir darüber gesprochen und unsere Meinungen ausgetauscht haben, und immer bist Du wieder da mit deinem Alles-wissen-wollen und fragst dabei so schrecklich naiv, als ob ich in alle Tiefen sähe. Was hast Du nur für Vorstellungen von einer jungen Frau und ganz speziell von Deiner Tochter? Glaubst Du, daß das alles so plan daliegt? Oder daß ich ein Orakel bin (ich kann mich nicht gleich auf den Namen der Person besinnen) oder daß ich die Wahrheit sofort klipp und klar in den Händen halte, wenn mir Effi ihr Herz ausgeschüttet hat? Oder was man wenigstens so nennt. Denn was heißt ausschütten? Das Eigentliche bleibt doch zurück. Sie wird sich hüten, mich in ihre Geheimnisse einzuweihen. Außerdem, ich weiß nicht, von wem sie's hat, sie ist ... ja, sie ist eine sehr schlaue kleine Person, und diese Schlauheit an ihr ist um so gefährlicher, weil sie so sehr liebenswürdig ist.«
Sprung zu Absatz82 »Also das giebst Du doch zu ... liebenswürdig. Und auch gut?«
Sprung zu Absatz83 »Auch gut. Das heißt voll Herzensgüte. Wie's sonst steht, da bin ich mir doch nicht sicher; ich glaube, sie hat einen Zug, den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen und sich zu trösten, er werde wohl nicht allzu streng mit ihr sein.«
Sprung zu Absatz84 »Meinst Du?«
Sprung zu Absatz85 »Ja, das mein' ich. Übrigens glaube ich, daß sich vieles gebessert hat. Ihr Charakter ist wie er ist, aber die Verhältnisse liegen seit ihrer Übersiedlung um vieles günstiger, und sie leben sich mehr und mehr in einander ein. Sie hat mir so 'was gesagt, und was mir wichtiger ist, ich hab' es auch bestätigt gefunden, mit Augen gesehen.«
Sprung zu Absatz86 »Nun, was sagte sie?«
Sprung zu Absatz87 »Sie sagte: Mama, es geht jetzt besser. Innstetten war immer ein vortrefflicher Mann, so einer, wie's nicht viele giebt, aber ich konnte nicht recht an ihn heran, er hatte so 'was Fremdes. Und fremd war er auch in seiner Zärtlichkeit. Ja, dann am meisten; es hat Zeiten gegeben, wo ich mich davor fürchtete.«
Sprung zu Absatz88 »Kenn' ich, kenn' ich.«
Sprung zu Absatz89 »Was soll das heißen, Briest? Soll ich mich gefürchtet haben oder willst Du Dich gefürchtet haben? Ich finde beides gleich lächerlich ...«
Sprung zu Absatz90 »Du wolltest von Effi erzählen.«
Sprung zu Absatz91 »Nun also, sie gestand mir, daß dies Gefühl des Fremden sie verlassen habe, was sie sehr glücklich mache. Kessin sei nicht der rechte Platz für sie gewesen, das spukige Haus und die Menschen da, die einen zu fromm, die andern zu platt; aber seit ihrer Übersiedlung nach Berlin fühle sie sich ganz an ihrem Platz. Er sei der beste Mensch, etwas zu alt für sie und zu gut für sie, aber sie sei nun über den Berg. Sie brauchte diesen Ausdruck, der mir allerdings auffiel.«
Sprung zu Absatz92 »Wie so? Er ist nicht ganz auf der Höhe, ich meine der Ausdruck. Aber ...«
Sprung zu Absatz93 »Es steckt etwas dahinter. Und sie hat mir das auch andeuten wollen.«
Sprung zu Absatz94 »Meinst Du?«
Sprung zu Absatz95 »Ja, Briest; Du glaubst immer, sie könne kein Wasser trüben. Aber darin irrst Du. Sie läßt sich gern treiben, und wenn die Welle gut ist, dann ist sie auch selber gut. Kampf und Widerstand sind nicht ihre Sache.«
Sprung zu Absatz13 Roswitha kam mit Annie, und so brach das Gespräch ab.
____________
Sprung zu Absatz
Sprung zu Absatz96 Dies Gespräch führten Briest und Frau an demselben Tage, wo Innstetten von Hohen-Cremmen nach Berlin hin abgereist war, Effi auf wenigstens noch eine Woche zurücklassend. Er wußte, daß es nichts Schöneres für sie gab, als so sorglos in einer weichen Stimmung hinträumen zu können, immer freundliche Worte zu hören und die Versicherung, wie liebenswürdig sie sei. Ja, das war das, was ihr vor allem wohl that, und sie genoß es auch diesmal wieder in vollen Zügen und aufs dankbarste, trotzdem jede Zerstreuung fehlte; Besuch kam selten, weil es seit ihrer Verheiratung, wenigstens für die junge Welt, an dem rechten Anziehungspunkte gebrach, und selbst die Pfarre und die Schule waren nicht mehr das, was sie noch vor Jahr und Tag gewesen waren. Zumal im Schulhause stand alles halb leer. Die Zwillinge hatten sich im Frühjahr an zwei Lehrer in der Nähe von Genthin verheiratet, große Doppelhochzeit mit Festbericht im »Anzeiger fürs Havelland,« und Hulda war in Friesack zur Pflege einer alten Erbtante, die sich übrigens, wie gewöhnlich in solchen Fällen, um sehr viel langlebiger erwies, als Niemeyers angenommen hatten. Hulda schrieb aber trotzdem immer zufriedene Briefe, nicht weil sie wirklich zufrieden war (im Gegenteil), sondern weil sie den Verdacht nicht aufkommen lassen wollte, daß es einem so ausgezeichneten Wesen anders als sehr gut ergehen könne. Niemeyer, ein schwacher Vater, zeigte die Briefe mit Stolz und Freude, während der ebenfalls ganz in seinen Töchtern lebende Jahnke sich herausgerechnet hatte, daß beide junge Frauen am selben Tage, und zwar am Weihnachtsheiligabend, ihre Niederkunft halten würden. Effi lachte herzlich und drückte dem Großvater in spe zunächst den Wunsch aus, bei beiden Enkeln zu Gevatter geladen zu werden, ließ dann aber die Familienthemata fallen und erzählte von »Kjöbenhavn« und Helsingör, vom Limfjord und Schloß Aggerhuus und vor allem von Thora von Penz, die, wie sie nur sagen könne, »typisch skandinavisch« gewesen sei, blauäugig, flachsen und immer in einer roten Plüschtaille, wobei sich Jahnke verklärte und einmal über das andere sagte: »Ja, so sind sie; rein germanisch, viel deutscher als die Deutschen.«
Sprung zu Absatz97 An ihrem Hochzeitstage, dem dritten Oktober, wollte Effi wieder in Berlin sein. Nun war es der Abend vorher, und unter dem Vorgeben, daß sie packen und alles zur Rückreise vorbereiten wolle, hatte sie sich schon verhältnismäßig früh auf ihr Zimmer zurückgezogen. Eigentlich lag ihr aber nur daran, allein zu sein; so gern sie plauderte, so hatte sie doch auch Stunden, wo sie sich nach Ruhe sehnte.
Sprung zu Absatz98 Die von ihr im Oberstock bewohnten Zimmer lagen nach dem Garten hinaus; in dem kleineren schlief Roswitha und Annie, die Thür nur angelehnt, in dem größeren, das sie selber inne hatte, ging sie auf und ab; die unteren Fensterflügel waren geöffnet, und die kleinen weißen Gardinen bauschten sich in dem Zuge, der ging, und fielen dann langsam über die Stuhllehne, bis ein neuer Zugwind kam und sie wieder frei machte. Dabei war es so hell, daß man die Unterschriften unter den über dem Sofa hängenden und in schmale Goldleisten eingerahmten Bildern deutlich lesen konnte: »Der Sturm auf Düppel, Schanze V« und daneben: »König Wilhelm und Graf Bismarck auf der Höhe von Lipa«. Effi schüttelte den Kopf und lächelte. »Wenn ich wieder hier bin, bitt' ich mir andere Bilder aus; ich kann so 'was Kriegerisches nicht leiden.« Und nun schloß sie das eine Fenster und setzte sich an das andere, dessen Flügel sie offen ließ. Wie that ihr das alles so wohl. Neben dem Kirchturm stand der Mond und warf sein Licht auch auf den Rasenplatz mit der Sonnenuhr und den Heliotropbeeten. Alles schimmerte silbern, und neben den Schattenstreifen lagen weiße Lichtstreifen, so weiß, als läge Leinwand auf der Bleiche. Weiterhin aber standen die hohen Rhabarberstauden wieder, die Blätter herbstlich gelb, und sie mußte des Tages gedenken, nun erst wenig über zwei Jahre, wo sie hier mit Hulda und den Jahnke'schen Mädchen gespielt hatte. Und dann war sie, als der Besuch kam, die kleine Steintreppe neben der Bank hinaufgestiegen, und eine Stunde später war sie Braut.
Sprung zu Absatz99 Sie erhob sich und ging auf die Thür zu und horchte: Roswitha schlief schon und Annie auch.
Sprung zu Absatz100 Und mit einemmale, während sie das Kind so vor sich hatte, traten ungerufen allerlei Bilder aus den Kessiner Tagen wieder vor ihre Seele: das landrätliche Haus mit seinem Giebel und die Veranda mit dem Blick auf die Plantage, und sie saß im Schaukelstuhl und wiegte sich; und nun trat Crampas an sie heran, um sie zu begrüßen, und dann kam Roswitha mit dem Kinde, und sie nahm es und hob es hoch in die Höhe und küßte es.
Sprung zu Absatz101 »Das war der erste Tag; da fing es an.« Und während sie dem nachhing, verließ sie das Zimmer, drin die beiden schliefen, und setzte sich wieder an das offene Fenster und sah in die stille Nacht hinaus.
Sprung zu Absatz102 »Ich kann es nicht los werden,« sagte sie. »Und was das schlimmste ist und mich ganz irre macht an mir selbst ...«
Sprung zu Absatz103 In diesem Augenblicke setzte die Turmuhr drüben ein, und Effi zählte die Schläge.
Sprung zu Absatz104 »Zehn ... Und morgen um diese Stunde bin ich in Berlin. Und wir sprechen davon, daß unser Hochzeitstag sei, und er sagt mir Liebes und Freundliches und vielleicht Zärtliches. Und ich sitze dabei und höre es und habe die Schuld auf meiner Seele.«
Sprung zu Absatz105 Und sie stützte den Kopf auf ihre Hand und starrte vor sich hin und schwieg.
Sprung zu Absatz106 »Und habe die Schuld auf meiner Seele,« wiederholte sie. »Ja, da hab' ich sie. Aber lastet sie auch auf meiner Seele? Nein. Und das ist es, warum ich vor mir selbst erschrecke. Was da lastet, das ist etwas ganz anderes - Angst, Todesangst und die ewige Furcht: es kommt doch am Ende noch an den Tag. Und dann außer der Angst ... Scham. Ich schäme mich. Aber wie ich nicht die rechte Reue habe, so hab' ich auch nicht die rechte Scham. Ich schäme mich bloß von wegen dem ewigen Lug und Trug; immer war es mein Stolz, daß ich nicht lügen könne und auch nicht zu lügen brauche, lügen ist so gemein, und nun habe ich doch immer lügen müssen, vor ihm und vor aller Welt, im großen und im kleinen, und Rummschüttel hat es gemerkt und hat die Achseln gezuckt, und wer weiß was er von mir denkt, jedenfalls nicht das beste. Ja, Angst quält mich und dazu Scham über mein Lügenspiel. Aber Scham über meine Schuld, die hab' ich nicht oder doch nicht so recht oder doch nicht genug, und das bringt mich um, daß ich sie nicht habe. Wenn alle Weiber so sind, dann ist es schrecklich, und wenn sie nicht so sind, wie ich hoffe, dann steht es schlecht um mich, dann ist etwas nicht in Ordnung in meiner Seele, dann fehlt mir das richtige Gefühl. Und das hat mir der alte Niemeyer in seinen guten Tagen noch, als ich noch ein halbes Kind war, 'mal gesagt: auf ein richtiges Gefühl, darauf käme es an, und wenn man das habe, dann könne einem das schlimmste nicht passieren, und wenn man es nicht habe, dann sei man in einer ewigen Gefahr, und das, was man den Teufel nenne, das habe dann eine sichere Macht über uns. Um Gottes Barmherzigkeit willen, steht es so mit mir?«
Sprung zu Absatz107 Und sie legte den Kopf in ihre Arme und weinte bitterlich.
Sprung zu Absatz108 Als sie sich wieder aufrichtete, war sie ruhiger geworden und sah wieder in den Garten hinaus. Alles war so still, und ein leiser, feiner Ton, wie wenn es regnete, traf von den Platanen her ihr Ohr.
Sprung zu Absatz109 So verging eine Weile. Herüber von der Dorfstraße klang ein Geplärr: der alte Nachtwächter Kulicke rief die Stunden ab, und als er zuletzt schwieg, vernahm sie von fernher, aber immer näher kommend, das Rasseln des Zuges, der, auf eine halbe Meile Entfernung, an Hohen-Cremmen vorüber fuhr. Dann wurde der Lärm wieder schwächer, endlich erstarb er ganz, und nur der Mondschein lag noch auf dem Grasplatz, und nur auf die Platanen rauschte es nach wie vor wie leiser Regen nieder.
Sprung zu Absatz110 Aber es war nur die Nachtluft, die ging.