Drei Tage danach, ziemlich spät, um die neunte Stunde, traf
Innstetten in Berlin ein. Alles war am Bahnhof: Effi, die Mama,
der Vetter; der Empfang war herzlich, am herzlichsten vonseiten
Effis, und man hatte bereits eine Welt von Dingen durchgesprochen,
als der Wagen, den man genommen, vor der neuen Wohnung in der
Keithstraße hielt. »Ach, da hast du gut gewählt,
Effi«, sagte Innstetten, als er in das Vestibül eintrat,
»kein Haifisch, kein Krokodil und hoffentlich auch kein Spuk.«
»Nein, Geert, damit ist es nun vorbei. Nun bricht eine andere
Zeit an, und ich fürchte mich nicht mehr und will auch besser
sein als früher und dir mehr zu Willen leben.« Alles
das flüsterte sie ihm zu, während sie die teppichbedeckte
Treppe bis in den zweiten Stock hinanstiegen. Der Vetter führte
die Mama.
Oben fehlte noch manches, aber für einen wohnlichen Eindruck
war doch gesorgt, und Innstetten sprach seine Freude darüber
aus. »Effi, du bist doch ein kleines Genie«; aber diese
lehnte das Lob ab und zeigte auf die Mama, die habe das eigentliche
Verdienst. »Hier muss es stehen«, so hab es unerbittlich
geheißen, und immer habe sie's getroffen, wodurch natürlich
viel Zeit gespart und die gute Laune nie gestört worden sei.
Zuletzt kam auch Roswitha, um den Herrn zu begrüßen,
bei welcher Gelegenheit sie sagte: »Fräulein Annie ließe
sich für heute entschuldigen« - ein kleiner Witz, auf den
sie stolz war und mit dem sie auch ihren Zweck vollkommen erreichte.
Und nun nahmen sie Platz um den schon gedeckten Tisch, und als
Innstetten sich ein Glas Wein eingeschenkt und »auf glückliche
Tage« mit allen angestoßen hatte, nahm er Effis Hand
und sagte: »Aber Effi, nun erzähle mir, was war das
mit deiner Krankheit?«
»Ach, lassen wir doch das, nicht der Rede wert; ein bisschen
schmerzhaft und eine rechte Störung, weil es einen Strich
durch unsere Pläne machte. Aber mehr war es nicht, und nun
ist es vorbei. Rummschüttel hat sich bewährt, ein feiner,
liebenswürdiger alter Herr, wie ich dir, glaub ich, schon
schrieb. In seiner Wissenschaft soll er nicht gerade glänzen,
aber Mama sagt, das sei ein Vorzug. Und sie wird wohl Recht haben
wie in allen Stücken. Unser guter Doktor Hannemann war auch
kein Licht und traf es doch immer. Und nun sage, was macht Gieshübler
und die anderen alle?«
»Ja, wer sind die anderen alle? Crampas lässt sich
der gnäd'gen Frau empfehlen ...«
»Ah, sehr artig.«
»Und der Pastor will dir desgleichen empfohlen sein; nur
die Herrschaften auf dem Lande waren ziemlich nüchtern und
schienen auch mich für deinen Abschied ohne Abschied verantwortlich
machen zu wollen. Unsere Freundin Sidonie war sogar spitz, und
nur die gute Frau von Padden, zu der ich eigens vorgestern noch
hinüberfuhr, freute sich aufrichtig über deinen Gruß
und deine Liebeserklärung an sie. 'Du seist eine reizende
Frau', sagte sie, 'aber ich sollte dich gut hüten.' Und als
ich ihr erwiderte: 'Du fändest schon, dass ich mehr ein
»Erzieher« als ein Ehemann sei', sagte sie halblaut und beinahe wie
abwesend: 'Ein junges Lämmchen weiß wie Schnee.' Und
dann brach sie ab.«
Vetter Briest lachte. »'Ein junges Lämmchen weiß
wie Schnee ...' Da hörst du's, Kusine.« Und er wollte
sie zu necken fortfahren, gab es aber auf, als er sah, dass
sie sich verfärbte.
Das Gespräch, das meist zurückliegende Verhältnisse
berührte, spann sich noch eine Weile weiter, und Effi erfuhr
zuletzt aus diesem und jenem, was Innstetten mitteilte, dass
sich von dem ganzen Kessiner Hausstande nur Johanna bereit erklärt
habe, die Übersiedlung nach Berlin mitzumachen. Sie sei natürlich
noch zurückgeblieben, werde aber in zwei, drei Tagen mit
dem Rest der Sachen eintreffen; er sei froh über ihren Entschluss,
denn sie sei immer die Brauchbarste gewesen und von einem ausgesprochenen
großstädtischen Schick. Vielleicht ein bisschen
zu sehr. Christel und Friedrich hätten sich beide für
zu alt erklärt, und mit Kruse zu verhandeln, habe sich von
vornherein verboten. »Was soll uns ein Kutscher hier?«,
schloss Innstetten. »Pferd und Wagen, das sind tempi
passati, mit diesem Luxus ist es in Berlin vorbei. Nicht einmal
das schwarze Huhn hätten wir unterbringen können. Oder
unterschätz ich die Wohnung?«
Effi schüttelte den Kopf, und als eine kleine Pause eintrat,
erhob sich die Mama; es sei bald elf und sie habe noch einen
weiten Weg, übrigens solle sie niemand begleiten, der Droschkenstand
sei ja nah - ein Ansinnen, das Vetter Briest natürlich ablehnte.
Bald darauf trennte man sich, nachdem noch Rendezvous für
den anderen Vormittag verabredet war.
Effi war ziemlich früh auf und hatte - die Luft war beinahe
sommerlich warm - den Kaffeetisch bis nahe an die geöffnete
Balkontür rücken lassen, und als Innstetten nun auch
erschien, trat sie mit ihm auf den Balkon hinaus und sagte: »Nun,
was sagst du? Du wolltest den Finkenschlag aus dem Tiergarten
hören und die Papageien aus dem Zoologischen.
Ich weiß nicht, ob beide dir den Gefallen tun werden, aber
möglich ist es. Hörst du wohl? Das kam von drüben,
drüben aus dem kleinen Park. Es ist nicht der eigentliche
Tiergarten, aber doch beinah.«
Innstetten war entzückt und von einer Dankbarkeit, als ob
Effi ihm das alles persönlich herangezaubert habe. Dann setzten
sie sich und nun kam auch Annie. Roswitha verlangte, dass
Innstetten eine große Veränderung an dem Kinde finden
solle, was er denn auch schließlich tat. Und dann plauderten
sie weiter, abwechselnd über die Kessiner und die in Berlin
zu machenden Visiten und ganz zuletzt auch über eine Sommerreise.
Mitten im Gespräch aber mussten sie abbrechen, um rechtzeitig
beim Rendezvous erscheinen zu können.
Man traf sich, wie verabredet, bei Helms gegenüber dem roten
Schloss, besuchte verschiedene Läden, aß bei Hiller
und war bei guter Zeit wieder zu Haus. Es war ein gelungenes Beisammensein
gewesen. Innstetten herzlich froh, das großstädtische
Leben wieder mitmachen und auf sich wirken lassen zu können.
Tags darauf, am 1. April, begab er sich in das Kanzlerpalais,
um sich einzuschreiben (eine persönliche Gratulation unterließ
er aus Rücksicht), und ging dann aufs Ministerium, um sich
da zu melden. Er wurde auch angenommen, trotzdem es ein geschäftlich
und gesellschaftlich sehr unruhiger Tag war, ja, sah sich seitens
seines Chefs durch besonders entgegenkommende Liebenswürdigkeit
ausgezeichnet. »Er wisse, was er an ihm habe und sei sicher, ihr
Einvernehmen nie gestört zu sehen.«
Auch im Hause gestaltete sich alles zum Guten. Ein aufrichtiges
Bedauern war es für Effi, die Mama, nachdem diese, wie gleich
anfänglich vermutet, fast sechs Wochen lang in Kur gewesen,
nach Hohen-Cremmen zurückkehren zu sehen, ein Bedauern, das
nur dadurch einigermaßen gemildert wurde, dass sich
Johanna denselben Tag noch in Berlin einstellte. Das war immerhin
was, und wenn die hübsche Blondine dem Herzen Effis auch
nicht ganz so nahe stand wie die ganz selbstsuchtslose und unendlich
gutmütige Roswitha, so war sie doch gleichmäßig
angesehen, ebenso bei Innstetten wie bei ihrer jungen Herrin,
weil sie sehr geschickt und brauchbar und der Männerwelt
gegenüber von einer ausgesprochenen und selbstbewussten
Reserviertheit war. Einem Kessiner on dit zufolge ließen
sich die Wurzeln ihrer Existenz auf eine längst pensionierte
Größe der Garnison Pasewalk zurückführen,
woraus man sich auch ihre vornehme Gesinnung, ihr schönes
blondes Haar und die besondere Plastik ihrer Gesamterscheinung
erklären wollte. Johanna selbst teilte die Freude, die man
allerseits über ihr Eintreffen empfand, und war durchaus
einverstanden damit, als Hausmädchen und Jungfer, ganz wie
früher, den Dienst bei Effi zu übernehmen, während
Roswitha, die der Christel in beinahe Jahresfrist ihre Kochkünste
so ziemlich abgelernt hatte, dem Küchendepartement vorstehen
sollte. Annies Abwartung und Pflege fiel Effi selber zu, worüber
Roswitha freilich lachte. Denn sie kannte die jungen Frauen.
Innstetten lebte ganz seinem Dienst und seinem Haus. Er war glücklicher
als vordem in Kessin, weil ihm nicht entging, dass Effi sich
unbefangener und heiterer gab. Und das konnte sie, weil sie sich
freier fühlte. Wohl blickte das Vergangene noch in ihr Leben
hinein, aber es ängstigte sie nicht mehr oder doch um vieles
seltener und vorübergehender, und alles, was davon noch in
ihr nachzitterte, gab ihrer Haltung einen eigenen Reiz. In jeglichem,
was sie tat, lag etwas Wehmütiges, wie eine Abbitte, und
es hätte sie glücklich gemacht, dies alles noch deutlicher
zeigen zu können. Aber das verbot sich freilich.
Das gesellschaftliche Leben der großen Stadt war, als sie
während der ersten Aprilwochen ihre Besuche machten, noch
nicht vorüber, wohl aber im Erlöschen, und so kam es
für sie zu keiner rechten Teilnahme mehr daran. In der zweiten
Hälfte des Mai starb es dann ganz hin, und mehr noch als
vorher war man glücklich, sich in der Mittagsstunde, wenn
Innstetten von seinem Ministerium kam, im Tiergarten treffen oder
nachmittags einen Spaziergang nach dem Charlottenburger Schlossgarten
machen zu können. Effi sah sich, wenn sie die lange Front
zwischen dem Schloss und den Orangeriebäumen auf- und
abschritt, immer wieder die massenhaft dort stehenden römischen
Kaiser an, fand eine merkwürdige Ähnlichkeit zwischen
Nero und Titus, sammelte Tannenäpfel, die von den Trauertannen
gefallen waren, und ging dann Arm in Arm mit ihrem Manne bis
auf das nach der Spree hin einsam gelegene »Belvedere«
zu.
»Da drin soll es auch einmal gespukt haben«, sagte sie.
»Nein, bloß Geistererscheinungen.«
»Das ist dasselbe.«
»Ja, zuweilen«, sagte Innstetten. »Aber eigentlich
ist doch ein Unterschied. Geistererscheinungen werden immer gemacht
- wenigstens soll es hier in dem 'Belvedere' so gewesen sein,
wie Vetter Briest erst gestern noch erzählte - Spuk aber
wird nie gemacht, Spuk ist natürlich.«
»Also glaubst du doch dran?«
»Gewiss glaub ich dran. Es gibt so was. Nur an das,
was wir in Kessin davon hatten, glaub ich nicht recht. Hat dir
denn Johanna schon ihren Chinesen gezeigt?«
»Welchen?«
»Nun, unsern. Sie hat ihn, eh sie unser altes Haus verließ,
oben von der Stuhllehne abgelöst und ihn ins Portemonnaie
gelegt. Als ich mir neulich ein Markstück bei ihr wechselte,
hab ich ihn gesehen. Und sie hat es mir auch verlegen bestätigt.«
»Ach, Geert, das hättest du mir nicht sagen sollen.
Nun ist doch wieder so was in unserm Hause.«
»Sag ihr, dass sie ihn verbrennt.«
»Nein, das mag ich auch nicht, und das hilft auch nichts.
Aber ich will Roswitha bitten ...«
»Um was? Ah, ich verstehe schon, ich ahne, was du vorhast.
Die soll ein Heiligenbild kaufen und es dann auch ins Portemonnaie
tun. Ist es so was?«
Effi nickte.
»Nun, tu was du willst. Aber sag es niemandem.«
Effi meinte dann schließlich, es lieber doch lassen zu wollen,
und unter allerhand kleinem Geplauder, in welchem die Reisepläne
für den Sommer mehr und mehr Platz gewannen, fuhren sie bis
an den großen Stern zurück und gingen dann
durch die Korso-Allee und die breite Friedrich-Wilhelms-Straße
auf ihre Wohnung zu.
Sie hatten vor, schon Ende Juli Urlaub zu nehmen und ins bayerische
Gebirge zu gehen, wo gerade in diesem Jahre wieder die Oberammergauer
Spiele stattfanden. Es ließ sich aber nicht tun; Geheimrat
von Wüllersdorf, den Innstetten schon von früher her
kannte und der jetzt sein Spezialkollege war, erkrankte plötzlich,
und Innstetten musste bleiben und ihn vertreten. Erst Mitte
August war alles wieder beglichen und damit die Reisemöglichkeit
gegeben; es war aber nun zu spät geworden, um noch nach Oberammergau
zu gehen, und so entschied man sich für einen Aufenthalt
auf Rügen. »Zunächst natürlich Stralsund
mit Schill, den du kennst, und mit Scheele, den du nicht kennst
und der den Sauerstoff entdeckte, was man aber nicht zu wissen
braucht. Und dann von Stralsund nach Bergen und dem Rugard, von
wo man, wie mir Wüllersdorf sagte, die ganze Insel übersehen
kann, und dann zwischen dem Großen und Kleinen Jasmunder Bodden
hin bis nach Sassnitz. Denn nach Rügen reisen heißt
nach Sassnitz reisen. Binz ginge vielleicht auch noch, aber
da sind - ich muss Wüllersdorf noch einmal zitieren
- so viele kleine Steinchen und Muschelschalen am Strande, und
wir wollen doch baden.«
Effi war einverstanden mit allem, was vonseiten Innstettens geplant
wurde, vor allem auch damit, dass der ganze Hausstand auf
vier Wochen aufgelöst werden und Roswitha mit Annie nach Hohen-Cremmen,
Johanna aber zu ihrem etwas jüngeren Halbbruder reisen sollte,
der bei Pasewalk eine Schneidemühle hatte. So war alles gut
untergebracht. Mit Beginn der nächsten Woche brach man denn
auch wirklich auf, und am selben Abende noch war man in Sassnitz.
Über dem Gasthause stand »Hotel Fahrenheit«. »Die
Preise hoffentlich nach Réaumur«, setzte Innstetten,
als er den Namen las, hinzu, und in bester Laune machten beide
noch einen Abendspaziergang an dem Klippenstrande hin und sahen
von einem Felsenvorsprung aus auf die stille, vom Mondschein überzitterte
Bucht. Effi war entzückt. »Ach, Geert, das ist ja Capri,
das ist ja Sorrent. Ja, hier bleiben wir. Aber natürlich
nicht im Hotel; die Kellner sind mir zu vornehm und man geniert
sich, um eine Flasche Sodawasser zu bitten ...«
»Ja, lauter Attachés. Es wird sich aber wohl eine
Privatwohnung finden lassen.«
»Denk ich auch. Und wir wollen gleich morgen danach aussehen.«
Schön wie der Abend war der Morgen, und man nahm das Frühstück
im Freien. Innstetten empfing etliche Briefe, die schnell erledigt
werden mussten, und so beschloss Effi, die für
sie frei gewordene Stunde sofort zur Wohnungssuche zu benutzen.
Sie ging erst an einer eingepferchten Wiese, dann an Häusergruppen
und Haferfeldern vorüber und bog zuletzt in einen Weg ein,
der schluchtartig auf das Meer zulief. Da, wo dieser Schluchtenweg
den Strand traf, stand ein von hohen Buchen überschattetes
Gasthaus, nicht so vornehm wie das Fahrenheit'sche, mehr ein bloßes
Restaurant, in dem der frühen Stunde halber noch alles
leer war. Effi nahm an einem Aussichtspunkte Platz, und kaum dass
sie von dem Sherry, den sie bestellt, genippt hatte, so trat auch
schon der Wirt an sie heran, um halb aus Neugier und halb aus
Artigkeit ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen.
»Es gefällt uns sehr gut hier«, sagte sie, »meinem
Manne und mir; welch prächtiger Blick über die Bucht,
und wir sind nur in Sorge wegen einer Wohnung.«
»Ja, gnädigste Frau, das wird schwer halten ...«
»Es ist aber schon spät im Jahr ...«
»Trotzdem. Hier in Sassnitz ist sicherlich nichts zu
finden, dafür möcht ich mich verbürgen; aber weiterhin
am Strand, wo das nächste Dorf anfängt, Sie können
die Dächer von hier aus blinken sehen, da möcht es vielleicht
sein.«
»Und wie heißt das Dorf?«
»Crampas.«
Effi glaubte, nicht recht gehört zu haben. »Crampas«,
wiederholte sie mit Anstrengung. »Ich habe den Namen als
Ortsnamen nie gehört ... Und sonst nichts in der Nähe?«
»Nein, gnädigste Frau. Hier herum nichts. Aber höher
hinauf, nach Norden zu, da kommen noch wieder Dörfer, und
in dem Gasthause, das dicht neben Stubbenkammer liegt, wird man
Ihnen gewiss Auskunft geben können. Es werden dort von
solchen, die gerne noch vermieten wollen, immer Adressen abgegeben.«
Effi war froh, das Gespräch allein geführt zu haben,
und als sie bald danach ihrem Manne Bericht erstattet und nur
den Namen des an Sassnitz angrenzenden Dorfes verschwiegen
hatte, sagte dieser: »Nun, wenn es hier herum nichts gibt,
so wird es das Beste sein, wir nehmen einen Wagen (wodurch man
sich beiläufig einem Hotel immer empfiehlt) und übersiedeln
ohne weiteres da höher hinauf, nach Stubbenkammer hin. Irgendwas
Idyllisches mit einer Geisblattlaube wird sich da wohl finden
lassen, und finden wir nichts, so bleibt uns immer noch das Hotel
selbst. Eins ist schließlich wie das andere.«
Effi war einverstanden, und gegen Mittag schon erreichten sie
das neben Stubbenkammer gelegene Gasthaus, von dem Innstetten
eben gesprochen, und bestellten daselbst einen Imbiss. »Aber
erst nach einer halben Stunde; wir haben vor, zunächst noch
einen Spaziergang zu machen und uns den Herthasee anzusehen. Ein
Führer ist doch wohl da?«
Dies wurde bejaht, und ein Mann von mittleren Jahren trat alsbald
an unsere Reisenden heran. Er sah so wichtig und feierlich aus,
als ob er mindestens ein Adjunkt bei dem alten Herthadienst gewesen
wäre.
Der von hohen Bäumen umstandene See lag ganz in der Nähe,
Binsen säumten ihn ein, und auf der stillen, schwarzen Wasserfläche
schwammen zahlreiche Mummeln.
»Es sieht wirklich nach so was aus«, sagte Effi, »nach
Herthadienst.«
»Ja, gnäd'ge Frau ... Dessen sind auch noch die Steine
Zeugen.«
»Welche Steine?«
»Die Opfersteine.«
Und während sich das Gespräch in dieser Weise fortsetzte,
traten alle drei vom See her an eine senkrecht abgestochene
Kies- und Lehmwand heran, an die sich etliche glatt polierte Steine
lehnten, alle mit einer flachen Höhlung und etlichen nach
unten laufenden Rinnen.
»Und was bezwecken die?«
»Dass es besser abliefe, gnäd'ge Frau.«
»Lass uns gehen«, sagte Effi, und den Arm ihres
Mannes nehmend, ging sie mit ihm wieder auf das Gasthaus zurück,
wo nun an einer Stelle mit weitem Ausblick auf das Meer das
vorher bestellte Frühstück aufgetragen wurde. Die Bucht
lag im Sonnenlichte vor ihnen, einzelne Segelboote glitten darüber
hin, und um die benachbarten Klippen haschten sich die Möwen.
Es war sehr schön, auch Effi fand es, aber wenn sie dann
über die glitzernde Fläche hinwegsah, bemerkte sie
nach Süden zu wieder die hell aufleuchtenden Dächer
des langgestreckten Dorfes, dessen Name sie heute früh so
sehr erschreckt hatte.
Innstetten, wenn auch ohne Wissen und Ahnung dessen, was in ihr
vorging, sah doch deutlich, dass es ihr an aller Lust und
Freude gebrach. »Es tut mir Leid, Effi, dass du der
Sache hier nicht recht froh wirst. Du kannst den Herthasee nicht vergessen
und noch weniger die Steine.«
Sie nickte. »Es ist so wie du sagst. Und ich muss dir
bekennen, ich habe nichts in meinem Leben gesehen, was mich so
traurig gestimmt hätte. Wir wollen das Wohnungssuchen ganz
aufgeben; ich kann hier nicht bleiben.«
»Und gestern war es dir noch der Golf von Neapel und alles
mögliche Schöne.«
»Ja, gestern.«
»Und heute? Heute keine Spur mehr von Sorrent?«
»Eine Spur noch, aber auch nur eine Spur; es ist Sorrent,
als ob es sterben wollte.«
»Gut dann, Effi«, sagte Innstetten und reichte ihr die
Hand. »Ich will dich mit Rügen nicht quälen, und so geben
wir's denn auf. Abgemacht. Es ist nicht nötig, dass
wir uns an Stubbenkammer anklammern oder an Sassnitz oder
da weiter hinunter. Aber wohin?«
»Ich denke, wir bleiben noch einen Tag und warten das Dampfschiff
ab, das, wenn ich nicht irre, morgen von Stettin kommt und nach
Kopenhagen hinüberfährt. Da soll es ja so vergnüglich
sein, und ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich nach
etwas Vergnüglichem sehne. Hier ist mir, als ob ich in meinem
ganzen Leben nicht mehr lachen könnte und überhaupt
nie gelacht hätte, und du weißt doch, wie gern ich
lache.«
Innstetten zeigte sich voll Teilnahme mit ihrem Zustand, und das
umso lieber, als er ihr in vielem Recht gab. Es war wirklich
alles schwermütig, so schön es war.
Und so warteten sie denn das Stettiner Schiff ab und trafen am
dritten Tage in aller Frühe in Kopenhagen ein, wo sie auf
Kongens Nytorv Wohnung nahmen. Zwei Stunden später waren
sie schon im Thorwaldsen-Museum, und Effi sagte: »Ja, Geert,
das ist schön, und ich bin glücklich, dass wir
uns hierher auf den Weg gemacht haben.« Bald danach gingen
sie zu Tisch und machten an der Table d'hote die Bekanntschaft
einer ihnen gegenübersitzenden jütländischen Familie,
deren bildschöne Tochter, Thora von Penz, ebenso Innstettens
wie Effis beinah bewundernde Aufmerksamkeit sofort in Anspruch
nahm. Effi konnte sich nicht satt sehen an den großen blauen
Augen und dem flachsblonden Haar, und als man sich nach anderthalb
Stunden von Tisch erhob, wurde seitens der Penz'schen Familie -
die leider denselben Tag noch Kopenhagen wieder verlassen musste
- die Hoffnung ausgesprochen, das junge preußische Paar
mit nächstem in Schloss Aggerhuus (eine halbe Meile
vom Limfjord) begrüßen zu dürfen, eine Einladung,
die von den Innstettens auch ohne langes Zögern angenommen
wurde. So vergingen die Stunden im Hotel. Aber damit war es nicht
genug des Guten an diesem denkwürdigen Tage, von dem Effi
denn auch versicherte, dass er im Kalender rot angestrichen
werden müsse. Der Abend brachte, das Maß des Glücks
voll zu machen, eine Vorstellung im Tivoli-Theater: eine italienische Pantomime,
Arlequin und Colombine. Effi war wie berauscht von den kleinen Schelmereien,
und als sie spät am Abend nach ihrem Hotel zurückkehrten, sagte
sie: »Weißt du, Geert, nun fühl ich doch, dass
ich allmählich wieder zu mir komme. Von der schönen
Thora will ich gar nicht erst sprechen; aber wenn ich bedenke,
heute Vormittag Thorwaldsen und heute Abend diese Colombine ...
«
»... Die dir im Grunde doch noch lieber war als Thorwaldsen...«
»Offen gestanden, ja. Ich habe nun mal den Sinn für
dergleichen. Unser gutes Kessin war ein Unglück für
mich. Alles fiel mir da auf die Nerven. Rügen beinah auch.
Ich denke, wir bleiben noch ein paar Tage hier in Kopenhagen,
natürlich mit Ausflug nach Frederiksborg und Helsingör,
und dann nach Jütland hinüber; ich freue mich aufrichtig,
die schöne Thora wiederzusehen, und wenn ich ein Mann wäre,
so verliebte ich mich in sie.«
Innstetten lachte. »Du weißt noch nicht, was ich tue.«
»Wär mir schon recht. Dann gibt es einen Wettstreit,
und du sollst sehen, dann hab ich auch noch meine Kräfte.«
»Das brauchst du mir nicht erst zu versichern.«
So verlief denn auch die Reise. Drüben in Jütland fuhren
sie den Limfjord hinauf bis Schloss Aggerhuus, wo sie drei
Tage bei der Penz'schen Familie verblieben, und kehrten dann mit
vielen Stationen und kürzeren und längeren Aufenthalten
in Viborg, Flensburg, Kiel über Hamburg (das ihnen ungemein
gefiel) in die Heimat zurück - nicht direkt nach Berlin in
die Keithstraße, wohl aber vorher nach Hohen-Cremmen, wo
man sich nun einer wohlverdienten Ruhe hingeben wollte, für
Innstetten bedeutete das nur wenige Tage, da sein Urlaub abgelaufen
war, Effi blieb aber noch eine Woche länger und sprach es
aus, erst zum dritten Oktober, ihrem Hochzeitstage, wieder zu Hause
eintreffen zu wollen.
Annie war in der Landluft prächtig gediehen, und was Roswitha
geplant hatte, dass sie der Mama in Stiefelchen entgegenlaufen
sollte, das gelang auch vollkommen. Briest gab sich als zärtlicher
Großvater, warnte vor zu viel Liebe, noch mehr vor zu viel
Strenge, und war in allem der alte. Eigentlich aber galt all seine
Zärtlichkeit doch nur Effi, mit der er sich in seinem Gemüt
immer beschäftigte, zumeist auch, wenn er mit seiner Frau
allein war.
»Wie findest du Effi?«
»Lieb und gut wie immer. Wir können Gott nicht genug
danken, eine so liebenswürdige Tochter zu haben. Und wie
dankbar sie für alles ist und immer so glücklich, wieder
unter unserm Dach zu sein.«
»Ja«, sagte Briest, »sie hat von dieser Tugend
mehr als mir lieb ist. Eigentlich ist es, als wäre dies
hier immer noch ihre Heimstätte. Sie hat doch den Mann und
das Kind, und der Mann ist ein Juwel und das Kind ist ein Engel,
aber dabei tut sie, als wäre Hohen-Cremmen immer noch die
Hauptsache für sie und Mann und Kind kämen gegen uns
beide nicht an. Sie ist eine prächtige Tochter, aber sie
ist es mir zu sehr. Es ängstigt mich ein bisschen. Und
ist auch ungerecht gegen Innstetten. Wie steht es denn eigentlich
damit?«
»Ja, Briest, was meinst du?«
»Nun, ich meine, was ich meine, und du weißt auch was.
Ist sie glücklich? Oder ist da doch irgendwas im Wege? Von
Anfang an war mir's so, als ob sie ihn mehr schätze als liebe.
Und das ist in meinen Augen ein schlimm Ding. Liebe hält
auch nicht immer vor, aber Schätzung gewiss nicht. Eigentlich
ärgern sich die Weiber, wenn sie wen schätzen müssen;
erst ärgern sie sich, und dann langweilen sie sich, und zuletzt
lachen sie.«
»Hast du so was an dir selber erfahren?«
»Das will ich nicht sagen. Dazu stand ich nicht hoch genug
in der Schätzung. Aber schrauben wir uns nicht weiter, Luise.
Sage, wie steht es?«
»Ja, Briest, du kommst immer auf diese Dinge zurück.
Da reicht ja kein Dutzend Mal, dass wir darüber gesprochen
und unsere Meinungen ausgetauscht haben, und immer bist du wieder
da mit deinem Alles-wissen-Wollen und fragst dabei so schrecklich
naiv, als ob ich in alle Tiefen sähe. Was hast du nur für
Vorstellungen von einer jungen Frau und ganz speziell von deiner
Tochter? Glaubst du, dass das alles so plan daliegt? Oder
dass ich ein Orakel bin (ich kann mich nicht gleich auf den
Namen der Person besinnen) oder dass ich die Wahrheit sofort
klipp und klar in den Händen halte, wenn mir Effi ihr Herz
ausgeschüttet hat? Oder was man wenigstens so nennt. Denn
was heißt ausschütten? Das Eigentliche bleibt doch
zurück. Sie wird sich hüten, mich in ihre Geheimnisse
einzuweihen. Außerdem, ich weiß nicht, von wem sie's
hat, sie ist ... ja, sie ist eine sehr schlaue kleine Person,
und diese Schlauheit an ihr ist umso gefährlicher, weil
sie so sehr liebenswürdig ist.«
»Also das gibst du doch zu ... liebenswürdig. Und auch
gut?«
»Auch gut. Das heißt voll Herzensgüte. Wie's sonst
steht, da bin ich mir doch nicht sicher; ich glaube, sie hat einen
Zug, den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen und sich
zu trösten, er werde wohl nicht allzu streng mit ihr sein.«
»Meinst du?«
»Ja, das mein ich. Übrigens glaube ich, dass sich
vieles gebessert hat. Ihr Charakter ist, wie er ist, aber die
Verhältnisse liegen seit ihrer Übersiedlung um vieles
günstiger und sie leben sich mehr und mehr ineinander ein.
Sie hat mir so was gesagt, und was mir wichtiger ist, ich hab
es auch bestätigt gefunden, mit Augen gesehen.«
»Nun, was sagte sie?«
»Sie sagte: Mama, es geht jetzt besser. Innstetten war immer
ein vortrefflicher Mann, so einer, wie's nicht viele gibt, aber
ich konnte nicht recht an ihn heran, er hatte so was Fremdes.
Und fremd war er auch in seiner Zärtlichkeit. Ja, dann am
meisten; es hat Zeiten gegeben, wo ich mich davor fürchtete.«
»Kenn ich, kenn ich.«
»Was soll das heißen, Briest? Soll ich mich gefürchtet
haben oder willst du dich gefürchtet haben? Ich finde beides
gleich lächerlich ...«
»Du wolltest von Effi erzählen.«
»Nun also, sie gestand mir, dass dies Gefühl des
Fremden sie verlassen habe, was sie sehr glücklich mache.
Kessin sei nicht der rechte Platz für sie gewesen, das spukige
Haus und die Menschen da, die einen zu fromm, die andern zu platt;
aber seit ihrer Übersiedlung nach Berlin fühle sie sich
ganz an ihrem Platz. Er sei der beste Mensch, etwas zu alt für
sie und zu gut für sie, aber sie sei nun über den Berg.
Sie brauchte diesen Ausdruck, der mir allerdings auffiel.«
»Wieso? Er ist nicht ganz auf der Höhe, ich meine der
Ausdruck. Aber ...«
»Es steckt etwas dahinter. Und sie hat mir das auch andeuten
wollen.«
»Meinst du?«
»Ja, Briest; du glaubst immer, sie könne kein Wasser
trüben. Aber darin irrst du. Sie lässt sich gern
treiben, und wenn die Welle gut ist, dann ist sie auch selber
gut. Kampf und Widerstand sind nicht ihre Sache.«
Roswitha kam mit Annie, und so brach das Gespräch ab.
Dies Gespräch führten Briest und Frau an demselben Tage,
wo Innstetten von Hohen-Cremmen nach Berlin hin abgereist war,
Effi auf wenigstens noch eine Woche zurücklassend. Er wusste,
dass es nichts Schöneres für sie gab, als so sorglos
in einer weichen Stimmung hinträumen zu können, immer
freundliche Worte zu hören und die Versicherung, wie liebenswürdig
sie sei. Ja, das war das, was ihr vor allem wohl tat, und sie genoss
es auch diesmal wieder in vollen Zügen und aufs Dankbarste,
trotzdem jede Zerstreuung fehlte; Besuch kam selten, weil es seit
ihrer Verheiratung wenigstens für die junge Welt an dem
rechten Anziehungspunkte gebrach, und selbst die Pfarre und die
Schule waren nicht mehr das, was sie noch vor Jahr und Tag gewesen
waren. Zumal im Schulhause stand alles halb leer. Die Zwillinge
hatten sich im Frühjahr an zwei Lehrer in der Nähe von
Genthin verheiratet, große Doppelhochzeit mit Festbericht
im »Anzeiger fürs Havelland«, und Hulda war in
Friesack zur Pflege einer alten Erbtante, die sich übrigens
wie gewöhnlich in solchen Fällen um sehr viel langlebiger
erwies, als Niemeyers angenommen hatten. Hulda schrieb aber trotzdem
immer zufriedene Briefe, nicht weil sie wirklich zufrieden war
(im Gegenteil), sondern weil sie den Verdacht nicht aufkommen
lassen wollte, dass es einem so ausgezeichneten Wesen anders
als sehr gut ergehen könne. Niemeyer, ein schwacher Vater,
zeigte die Briefe mit Stolz und Freude, während der ebenfalls
ganz in seinen Töchtern lebende Jahnke sich herausgerechnet
hatte, dass beide junge Frauen am selben Tage, und zwar am
Weihnachtsheiligabend, ihre Niederkunft halten würden. Effi
lachte herzlich und drückte dem Großvater in spe zunächst
den Wunsch aus, bei beiden Enkeln zu Gevatter geladen zu werden,
ließ dann aber die Familienthemata fallen und erzählte
von »Kjöbenhavn« und Helsingör, vom Limfjord
und Schloss Aggerhuus und vor allem von Thora von Penz, die,
wie sie nur sagen könne, »typisch skandinavisch«
gewesen sei, blauäugig, flachsen und immer in einer roten
Plüschtaille, wobei sich Jahnke verklärte und einmal
über das andere sagte: »Ja, so sind sie; rein germanisch,
viel deutscher als die Deutschen.«
An ihrem Hochzeitstage, dem dritten Oktober, wollte Effi wieder
in Berlin sein. Nun war es der Abend vorher, und unter dem Vorgeben,
dass sie packen und alles zur Rückreise vorbereiten
wolle, hatte sie sich schon verhältnismäßig früh
auf ihr Zimmer zurückgezogen. Eigentlich lag ihr aber nur
daran, allein zu sein; so gern sie plauderte, so hatte sie doch
auch Stunden, wo sie sich nach Ruhe sehnte.
Die von ihr im Oberstock bewohnten Zimmer lagen nach dem Garten
hinaus; in dem kleineren schlief Roswitha und Annie, die Tür
nur angelehnt, in dem größeren, das sie selber innehatte,
ging sie auf und ab; die unteren Fensterflügel waren geöffnet,
und die kleinen weißen Gardinen bauschten sich in dem Zuge,
der ging, und fielen dann langsam über die Stuhllehne, bis
ein neuer Zugwind kam und sie wieder freimachte. Dabei war es
so hell, dass man die Unterschriften unter den über
dem Sofa hängenden und in schmale Goldleisten eingerahmten
Bildern deutlich lesen konnte: »Der Sturm auf Düppel,
Schanze V« und daneben: »König Wilhelm und Graf
Bismarck auf der Höhe von Lipa«. Effi schüttelte
den Kopf und lächelte. »Wenn ich wieder hier bin, bitt ich
mir andere Bilder aus; ich kann so was Kriegerisches nicht leiden.«
Und nun schloss sie das eine Fenster und setzte sich an das andere, dessen
Flügel sie offen ließ. Wie tat ihr das alles so wohl. Neben dem
Kirchturm stand der Mond und warf sein Licht auch auf den Rasenplatz
mit der Sonnenuhr und den Heliotropbeeten. Alles schimmerte silbern,
und neben den Schattenstreifen lagen weiße Lichtstreifen,
so weiß, als läge Leinwand auf der Bleiche. Weiterhin
aber standen die hohen Rhabarberstauden wieder, die Blätter
herbstlich gelb, und sie musste des Tages gedenken, nun erst
wenig über zwei Jahre, wo sie hier mit Hulda und den Jahnke'schen
Mädchen gespielt hatte. Und dann war sie, als der Besuch
kam, die kleine Steintreppe neben der Bank hinaufgestiegen, und
eine Stunde später war sie Braut.
Sie erhob sich und ging auf die Tür zu und horchte: Roswitha
schlief schon und Annie auch.
Und mit einem Male, während sie das Kind so vor sich hatte,
traten ungerufen allerlei Bilder aus den Kessiner Tagen wieder
vor ihre Seele: das landrätliche Haus mit seinem Giebel und
die Veranda mit dem Blick auf die Plantage, und sie saß
im Schaukelstuhl und wiegte sich; und nun trat Crampas an sie
heran, um sie zu begrüßen, und dann kam Roswitha mit
dem Kinde, und sie nahm es und hob es hoch in die Höhe und
küsste es.
»Das war der erste Tag; da fing es an.« Und während
sie dem nachhing, verließ sie das Zimmer, drin die beiden
schliefen, und setzte sich wieder an das offene Fenster und sah
in die stille Nacht hinaus.
»Ich kann es nicht loswerden«, sagte sie. »Und
was das Schlimmste ist und mich ganz irre macht an mir selbst
...«
In diesem Augenblicke setzte die Turmuhr drüben ein und Effi
zählte die Schläge.
»Zehn ... Und morgen um diese Stunde bin ich in Berlin. Und
wir sprechen davon, dass unser Hochzeitstag sei, und er sagt
mir Liebes und Freundliches und vielleicht Zärtliches. Und
ich sitze dabei und höre es und habe die Schuld auf meiner
Seele.«
Und sie stützte den Kopf auf ihre Hand und starrte vor sich
hin und schwieg.
»Und habe die Schuld auf meiner Seele«, wiederholte
sie. »Ja, da hab ich sie. Aber lastet sie auch
auf meiner Seele? Nein. Und das ist es, warum ich vor mir selbst
erschrecke. Was da lastet, das ist etwas ganz anderes - Angst,
Todesangst und die ewige Furcht: es kommt doch am Ende noch an
den Tag. Und dann außer der Angst ... Scham. Ich schäme
mich. Aber wie ich nicht die rechte Reue habe, so hab ich auch
nicht die rechte Scham. Ich schäme mich bloß von wegen
dem ewigen Lug und Trug; immer war es mein Stolz, dass ich
nicht lügen könne und auch nicht zu lügen brauche,
lügen ist so gemein, und nun habe ich doch immer lügen
müssen, vor ihm und vor aller Welt, im Großen und im
Kleinen, und Rummschüttel hat es gemerkt und hat die Achseln
gezuckt, und wer weiß was er von mir denkt, jedenfalls
nicht das Beste. Ja, Angst quält mich und dazu Scham über
mein Lügenspiel. Aber Scham über meine Schuld, die hab
ich nicht oder doch nicht so recht oder doch nicht genug,
und das bringt mich um, dass ich sie nicht habe. Wenn alle
Weiber so sind, dann ist es schrecklich, und wenn sie nicht so
sind, wie ich hoffe, dann steht es schlecht um mich, dann ist
etwas nicht in Ordnung in meiner Seele, dann fehlt mir das richtige
Gefühl. Und das hat mir der alte Niemeyer in seinen guten
Tagen noch, als ich noch ein halbes Kind war, mal gesagt: auf
ein richtiges Gefühl, darauf käme es an, und wenn man
das habe, dann könne einem das Schlimmste nicht passieren,
und wenn man es nicht habe, dann sei man in einer ewigen Gefahr,
und das, was man den Teufel nenne, das habe dann eine sichere
Macht über uns. Um Gottes Barmherzigkeit willen, steht es
so mit mir?«
Und sie legte den Kopf in ihre Arme und weinte bitterlich.
Als sie sich wieder aufrichtete, war sie ruhiger geworden und sah
wieder in den Garten hinaus. Alles war so still, und ein leiser,
feiner Ton, wie wenn es regnete, traf von den Platanen her ihr Ohr.
So verging eine Weile. Herüber von der Dorfstraße klang
ein Geplärr: der alte Nachtwächter Kulicke rief die
Stunden ab, und als er zuletzt schwieg, vernahm sie von fernher,
aber immer näher kommend, das Rasseln des Zuges, der auf
eine halbe Meile Entfernung an Hohen-Cremmen vorüberfuhr.
Dann wurde der Lärm wieder schwächer, endlich erstarb
er ganz und nur der Mondschein lag noch auf dem Grasplatz, und
nur auf die Platanen rauschte es nach wie vor wie leiser Regen
nieder.
Aber es war nur die Nachtluft, die ging.
