.:Akademisches Tagebuch

Regiert von einem „Roi Sergeant“ – Barbara Stollberg-Rilinger erklärt mehr, als nur eine Ungeheuerlichkeit des 17. Jahrhunderts

16. Januar 2024. Wieder eine Norbert-Elias-Lecture an der Uni Bielefeld. Und bei all dem Stöhnen über zu viele Termine und dem Verzicht auf alles, was nicht unbedingt sein muss, weil man ja achtsam mit sich selbst sein soll, gehe ich hin und profitiere wieder einmal von genau den Dingen, die nicht sein müssen.

Barbara Stollberg-Rilinger ist eine wichtige Frau, schon alleine als Rektorin des Wissenschaftskollegs Berlin. Beeindruckend, dass sie daneben noch Zeit zum Forschen und Schreiben hat. Sie tritt zwar nicht so auf, aber man merkt es am Verhalten der anderen: Es ist eine ganz Große im Raum.

Was sie vorstellt hätte einerseits des Kommens nicht bedurft (weil man es hätte – teilweise im Wortlaut – nachlesen können). Andererseits ist es ein Paradebeispiel, wie bedeutsam theoretisches Rahmen, Reflektieren und Fragen für wissenschaftliche Erkenntnis sind. Stollberg-Rilinger versucht sich an einem Verständnis Friedrich Wilhelm I., des so genannten „Soldatenkönigs“ mithilfe der Zivilisationstheorie von Norbert Elias. Oder umgekehrt: Sie versucht auszuloten, ob die Elias auch mit dem Vater von Friedrich II., der in Brandenburg so gern Friedrich der Große genannt wird, funktioniert. Das macht die Vortragende ganz fabelhaft.

Mir stellen sich an diesem Abend aber ganz andere Fragen.

Dieser Soldatenkönig ist eine Berühmtheit, weil er so daneben war. Ein absolutistischer Herrscher musste seine Macht repräsentieren. Er musste herrschen und das hieß: sich um seine Untertanen kümmern, durch Gnade seine Herrschaft zeigen, Geld ausgeben, das Reich im besten Falle erweitern, die eigene Potenz durch eine stattliche Zahl von Mätressen unter Beweis stellen, rauschende Feste feiern, große Schlösser bauen in deren Parks selbst die wilde Natur dem Willen des Souveräns unterworfen wurde. Die europäischen Herrscher dieser Zeit sprachen Französisch und sie zeigten sich in jeder Situation galant und nie verlegen, ein passendes Bonmot zu platzieren. All das tat Friedrich Wilhelm nicht. Nichts von dem. Er durchbrach alle Konventionen seiner Zeit und bei Hofe. Er war enthaltsam, er raffte Mengen an Bargeld zusammen, die Hofhaltung wurde weitgehend eingeschränkt, die Armee wurde aufgerüstet, kam aber selten zum Einsatz. Wutausbrüche, Pöbeleien und Gewalt gegen jedermann waren an der Tagesordnung. Den eigenen Sohn verurteilte er zum Tode (die Vollstreckung wurde zwar ausgesetzt, dafür musste Friedrich II. Der Hinrichtung seines besten Freundes beiwohnen). Das Arsenal an unflätigsten Schimpfwörtern war unerschöpflich. Korrespondiert wurde mit der Regierung ausschließlich schriftlich und in einem derben Berlinerisch. Friedrich Wilhelm hatte die Manieren eines gestörten und grausamen Unteroffiziers. Er war ein Vollpfosten, wie er im Buche steht. Wovon ich wenig Ahnung habe, aber was ich vermute, dass all dieses Benehmen Folge sexuellen Missbrauchs in der Kindheit gewesen sein muss. Dafür liefert Barbara Stollberg-Rilinger eine Reihe von Indizien (plötzliche Entlassung eines Hauslehrers, Auftritt des Kleinkindes auf Festen in Amorkostüm, …) In jedem Fall hatte der König ein gestörtes Verhältnis zum Körper und auch zum weiblichen Geschlecht.

Die interessanteste Frage aber ist für mich: Wie konnten die Zeitgenossen einen solchen Vollidioten ertragen? Wie konnte die borussische Geschichtsschreibung und insbesondere die Nazis einen derart gestörten Normbrecher und Grobian bewundern („Erzieher des deutschen Volkes zum Preußentum“, nannte ihn Otto Hintze)? Frank Göse und Jürgen Kloosterhuis betreiben bis heute Ehrenrettung. Und ich vermute: genau wegen diese alle Konventionen brechenden Auftretens. Friedrich Wilhelm I. verhielt sich anders, als sich das für einen König seiner Zeit gehörte. Er trat die Erwartungen, die an ihn gerichtet waren, buchstäblich mit Füßen, brüskierte die gewohnte Ordnung und stellte sie auf den Kopf. Für jeden, der sich an dieser Ordnung störte, war er die ideale Projektionsfläche für Alternativwünsche jeder Art.

Wenn sich das Unerhörte derart verstehen lässt, taugt es dann auch zur Erklärung der Ungeheuerlichkeiten der Gegenwart. Trump hat eine abwegige Frisur, er verhält sich rüde gegenüber Frauen, ruft zum Umsturz auf und ist in jeglicher Hinsicht daneben. Trotzdem und vielleicht gerade deshalb, wegen seiner Normdurchbrechung, findet er seine Anhänger*innen. Genau das, was diejenigen, die sich in dieser Welt ganz gut eingerichtet haben, ins Schaudern versetzt, ist es, was die Attraktivität dieser Maske ausmacht. Und dann lohnt es sich gar nicht, sich mit Trump auseinanderzusetzen, sondern man muss an die Probleme ran, die diejenigen haben, denen ein derartiger Grobian zur Projektionsfläche werden kann.

Lassen sich derartige Gedanken noch weiter spinnen, auf Deutschland und eine an sämtliche Grenzen geratene Moderne übertragen? Im Nachdenken über die Ungeheuerlichkeiten der Vergangenheit flechten sich die Sorgen der eigenen Gegenwart ein und beschäftigen mich, über den Tag hinaus …

Mit dem Zug durch die Nacht ins warme Herbstlicht der GDÖ

24. September 2023. Wenn man es ernst nimmt mit der Nachhaltigkeit – und ich versuche das zunehmend ernster zu nehmen – dann sollte man sich sehr genau überlegen, zu welcher Tagung man etwas beizutragen hat, auf welcher Tagung man gewinnbringend etwas lernen kann. Und dann lohnt es sich auch, die Bahn zu nehmen (es gibt ja auch noch von der ÖBB betriebene Nachtzüge), eine wirkliche Reise anzutreten (Berlin - Wroclaw - Ostrawa - Wien - Graz) und nach 15 Stunden und noch etwas verschlafen die Eingangshalle des Grazer Hauptbahnhofs zu betreten.

Was ist denn das? Rot-grau-weiß schlängeln sich da gigantische Blasen über die Decke, Getier, Geschleim. Der Raum scheint sich zu bewegen, beginnt, mich zu umschließen, aufzunehmen, zu verschlingen. Und als ich mich von diesem starken Eindruck löse, weiß ich, dass mein Vortrag über Präsenz in guten Teilen neu geschrieben werden muss.

Die Grazer Geschichtsdidaktik um Christian Heuer hat zur Jahrestagung der GDÖ geladen um unter dem Titel Kunstgeschichte(n) Über die ästhetische Dimension der Geschichtskultur zu diskutieren. Mein Thema!

Diese Fragen treiben mich schon lange um und das Programm hat spätestens seit 2016 Konturen: Auf dem Weg zu einer Ästhetik historischen Lernens (In: Buchsteiner/Nitsche, Historisches Erzählen und Lernen). Die Idee kam mir als ich Ken Robinson am Anfang des Films Alphabet. Angst oder Liebe sprechen hörte. Seitdem lässt mich das mit dieser Imagination nicht mehr los, mit Wahrnehmung und Vorstellungskraft, Erfahrung und Repräsentation. Denn worum geht es denn bei Geschichte, wenn nicht darum, etwas Abwesendes (die Vergangenheit) anwesend, also gegenwärtig zu machen. Seit Jahr(zehnt)en hat die Geschichtsdidaktik dabei bevorzugt die eine Antwort: „Geschichte ist Narration“ meint auch mein geschätzter Kollege Jörg van Norden (Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften 4, 2013). Meinetwegen. Aber lässt sich das Ganze auch ohne Sprache denken? Und stehen Narrationen nicht eher am Ende eines mentalen Prozesses, der mit der Wahrnehmung einer Differenz zwischen einem Jetzt und einem zeitlich Anderen beginnt? In Graz versuche ich es mit dem Angebot der Präsenz, wie es Hans Ulrich Gumbrecht (Diesseits der Hermeneutik, 2004 und Präsenz, 2016), Eelco Runia (History & Theory 45, 2006) und Ranjan Ghosh und Ethan Kleinberg (Presence, 2013) entfaltet haben. Ein weiteres Steinchen im Mosaik des Buches, das ich schreiben will. Und ich freue mich, dass sich das Publikum darauf einlässt.

Was 2016 noch Kopfschütteln hervorgerufen hat, taugt jetzt für Großtagungen. So ist das mit den Dingen, die vielleicht in der Luft liegen. Wenn man zu lange wartet, pfeifen auch andere die Melodien, die man gemeint hat, nur ganz allein im Kopf zu haben. Gut ist das!

Was ist das eigentlich für ein Jingle mit denen in den Grazer Straßenbahnen die nächste Station angekündigt wird? „Dah da dah dah“ Ich denke lange darüber nach. Na genau: „An der Saale hellem Strande“. In Graz? Nun ... Man hört und sieht also, was man kennt. Das Wahrnehmen kommt gleichermaßen von außen, wie von innen. Hat man schon alles im Kopf? Wohl kaum. Wie aber kommt da Neues hinein?

Die Österreicher bezaubern mit ihrer Eleganz, ihrem Charme und ihrer Gelassenheit. Es tut gut in einem Umfeld zu sein, in dem die Zwischentöne andere sind, das vertraut und doch auch fremd ist. Die Diskussionen sind inspirierend. Von faschistischen Monumentalfriesen in Bozen über Lueger in Wien bis ins Kinderzimmer und ästhetische Bildung ist alles dabei und viel mehr. So sind gute Tagungen: Man bekommt viele Anregungen, viel Herausforderung zum Denken, man kann staunen und der Horizont wird weiter. All das schaffen die Österreicher*innen in Graz. Und ich merke: Ich bin auf einem guten Weg und in guter Gesellschaft. Und muss mich endlich mal auf den Hosenboden setzen und das, was in meinem Kopf ist, ordnen und aufschreiben.

Nachtrag: „An der Saale hellem Strande - was soll das denn sein?“, fragt mich erstaunt ein kundiger Kopf. „Weißt du, wieviel Sternlein stehen?“ Hmm. Kann gut sein. Oder doch „Der Mai ist gekommen“ Wie bunt doch die Welt ist …

... im Archiv ...

6. September 2023. Ich weiß schon, klingt albern, wenn ein Historiker darüber schreibt, wie es ihm im Archiv ergeht. Aber vielleicht bin ich eben kein Historiker dieser Art, weil ich mich eher mit Fragen beschäftige, was Geschichte überhaupt ist (Theorie) oder wie man mit ihr umgeht (Didaktik). Vielleicht ist es aber auch einfach der Umstand, dass ich als Professor vor allem mit Lehre und Verwaltung beschäftigt bin und viel zu selten Zeit habe, intensiv zu lesen oder eben ins Archiv zu gehen. Oder mir diese Zeit viel zu selten nehme.

Egal, heute war ich mal wieder – nach ganz langer Zeit – im Archiv. Seit sehr langer Zeit begleiten mich Aufnahmen, frühe Fotografien, die Mary Wigman am Ufer des Lago Maggiore zeigen. Sie ist spärlich bekleidet, tanzt wunderschönste Figuren, am Seeufer, barfuß. Seit ich ein erstes Seminar gegeben habe, zur Lebensreform um 1900 – das war 2002 und ist jetzt Ewigkeiten her – kenne ich diese Bilder. Und sie sind für mich seither so sehr Ausdruck eines Ausstiegs aus der Moderne, aus Kleidungskonventionen, aus Diszipliniertheit, aus der Enge von Werkhallen und Büros, aus sozialer Ordnung, Standardisierung, vorgegebenen Gefühls- und Erlebniswelten.

In Ascona hatte sich 1900 eine Kolonie von Aussteigern, Künstlern, Anarchisten gegründet, die sich Monte Veritá nannte. Und es ist erstaunlich, wer den Weg hierhin fand. Von Max Weber über C.G. Jung, Hermann Hesse auch der belgische König Leopold II. oder Konrad Adenauer. Naja, das müsste man alles noch mal nachprüfen. 1914 jedenfalls veranstaltete auch Rudolf von Laban hier Sommerkurse in Ausdruckstanz und in diesem Zusammenhang sind die Aufnahmen von Mary Wigman entstanden, die Hans Brandenburg gemacht hat.

Seit Jahren wollte ich diese Fotos einmal sehen. Warum? Wo ich sie doch kannte aus sehr guten Veröffentlichungen? Warum wollte ich sie sehen, berühren (ein guter Freund, der sich mit mittelalterlichen Handschriften beschäftigt, erzählte mir mal, dass er immer erst einmal an den alten Büchern riecht, wenn sie vor ihm liegen)? Die Sache mit der Authentizität ist doch eigentlich Quatsch, oder? Aber sie ist eben doch komplizierter Und andere wissen das deutlich differenzierter einzuschätzen.

Ich hab die Bilder im Nachlass von Mary Wigman in der Berliner Akademie der Künste ausfindig gemacht und in den Lesesaal bestellt.

Dort war ich heute morgen. Vom Hauptbahnhof ist man in einer Viertelstunde da, in dem DDR-Plattenbau, der das Archiv am Robert-Koch-Platz beherbergt. Dit is Berlin. Diese übereinanderliegenden Schichten. Plattenbau und Ausdruckstanz.

Es ist ein wirklicher Zauber, wenn einem die Stücke in Mappen aus säurefreiem Papier gereicht werden, dazu die Textilhandschuhe, die den Schweiß von den alten Aufnahmen abhalten sollen. Dann nimmt man seine Schätze und sucht sich eine Platz im weitgehend leeren Lesesaal, wo sich die Eingeweihten, die den Weg hierher gefunden haben, durch ein flüchtiges Nicken grüßen. Die erste Mappe lege ich vor mich hin, öffne sie langsam und entnehme die alten Fotos. Schaue sie an, versuche jedes Detail zu erfassen. Nehme eine Lupe zur Hand. Erstaunlich, welche Schärfe die frühe Fotografie hatte mit ihren größeren Negativ-Formaten. Ich sehe das Gesicht von Mary Wigman, das auf keiner der Reproduktionen, die ich kenne, derart scharf zu sehen ist. Im Hintergrund sind Leute im Wasser. Die Fingernägel sind kurz geschnitten, die Füße wühlen im Sand. Es ist dieses Versenken, dieses genaue und lange Anschauen, das die Welt zum Flirren bringt. Der Lärm der Straße draußen bleibt, aber er wird leiser und die Wellen auf dem Bild fangen an zu rauschen. Ich entnehme andere Bilder, auch welche, nach denen ich gar nicht gesucht hatte. Ich drehe sie, lese, was offensichtlich Mary Wigman drauf geschrieben hat, als sie sich selbst archivierte. Und dann verlasse ich langsam wieder meinen Rausch.

Ich bemerke im Vergleich der Bilder, dass die Füße mit den Jahren zerschundener wurden, die Hände aber umso gepflegter. Ich halte mich für einen Eingeweihten in meiner Besserwisserei: das oft angegebene Jahr 1913 kann ich auf 1914 korrigieren, jedenfalls dann, wenn man den Notizen von Mary Wigman trauen darf. Das müsste man noch mal mit anderen Akten abgleichen. Aber soweit werde ich es nicht treiben.

Zwei Aufnahmen werden mir nicht ausgehändigt, da sie bereits digitalisiert sind. Dann schaue ich sie mir eben auf einem Bildschirm an. Und wie groß ist die Enttäuschung. Wie unscharf sind diese Computerbilder im Vergleich zu den Originalen. Und wie wenig zeigen wohl die Originale im Vergleich zu dem, was sich da 1914 tatsächlich am Ufer des Lago Maggiore abspielte.

Was mir außerdem bewusst wird, ist der große Unterschied zum schnellen Bilderkonsum, den meine Kinder mit YouTube Shorts betreiben. Aber man muss dieses Einlassen lernen, wenn man den Flow erleben will. Ich erinnere mich, wie ich in meinem ersten Semester als Student auf einer Exkursion nach München teilnahm um das Perikopenbuch Heinrichs II. anzuschauen. Wir standen gefühlte Ewigkeiten vor den Vitrinen und ich kam mir sehr fehl am Platze vor, weil es mir unerklärlich erschien, derart lange auf eine mittelalterliche Buchseite zu starren. Wenn das Historiker*innen aber nun mal so machen … Ich bin Helmut Walther heute noch dankbar, für eine derartige Einführung ins Sich-Versenken. Und wünsche allen Erlebnisse dieser Art. Kommt man da nicht an, dann hat man nicht erreicht, was ein Geschichtsstudium ausmacht.

Und mit Fragen über das, was mir da heute nach langer Zeit endlich mal wieder passiert ist, kehre ich in den Berliner Trubel zurück …

„Ich kam zu einer interessanten Entdeckung, seitdem ich in der Matrix bin …“ – Über die Gefangenheit des eigenen Denkens, den Stolz auf die Ergebnisse der Anstrengungen dabei und die Frage, ob das nicht alles ein großer Defekt sein könnte

17. Dezember 2021. Der Anlass, endlich mal wieder einen Moment der eigenen Arbeit zu dokumentieren, war der Abschluss des bisher anstrengendsten Buchprojekts (vielleicht neben der Dissertation). Als 2018 François Hartog als Koselleck-Professor in Bielefeld zu Gast war, veranstalteten wir einen Workshop im Theoriezentrum, der im weitesten Sinne um seine Diagnose des Präsentismus kreiste. Daraus ist im Laufe der Zeit ein Buchprojekt geworden, bei dem Zoltán Simon und ich zahlreiche Kolleg*innen gewinnen konnten, um über den state of the art nachzudenken. Zoltán ging ambitioniert vor (You've done a greatjob, man!) und bot das Projekt Bloomsbury an. Die haben nicht nur die Harry-Potter-Bände im Programm, sondern sind auch ein ambitionierter Wissenschaftsverlag. Hochprofessionell. Noch nie bin ich von einem Verlag so getrieben worden. Und vor wenigen Tagen hielten wir die Druckfassung endlich in den Händen. Das Buch wird am 24. März ’22 ausgeliefert.

Im Reigen der wilden, mutigen und klugen Beiträge wollte ich erst etwas über die Bedeutung der Zukunft im Zusammenhang des Historischen schreiben. Dann musste ich feststellen, dass ich zwar nicht so optimistisch gewesen wäre, wie Marek Tamm, aber irgendwie es auch schwer geworden wäre, intellektuell da ranzukommen. Ich habe viel nachgedacht, viel gelesen, noch mehr nachgedacht. Und bin am Ende immer wieder darüber gestolpert, dass Hartog (der mich ja erst zum Nachdenken über diese Zusammenhänge gebracht hat) und auch andere so ein negatives Bild vom Präsentismus entwerfen. Am Ende habe ich mich für das Lob eines offensiven Präsentismus entschieden, der im Englischen noch einmal aggressiver daherkommt, als ich das vielleicht beabsichtige. Das hat mich ein Jahr intensiven Nachdenkens gekostet, in dem ich viel von Runia, Ankersmit, Kleinberg, Gumbrecht, Assmann und vor allem Byung-Chul Han gelernt habe. Ich fand mein Plädoyer am Ende sehr klug, vorzuschlagen, dass es darum gehen müsse, aus dem expansiven Charakter der Moderne, auch ihres Umgangs mit Zeit und Geschichte auszusteigen und das beste, was wir dabei anstreben sollten, ein Besinnen auf die Gegenwart wäre. Statt immer in der Vergangenheit und Zukunft rumzurühren, müsse die Herstellung von Präsenz, von intensiver und zugleich bescheidener Gegenwärtigkeit die Aufgabe eines nachhaltigen Lebens sein, das eben nicht darauf aus ist, die Ressourcen der Zukunft jetzt schon zu verbrauchen. Das hat mich ein Jahr harter intellektueller Arbeit gekostet und mich am Ende zwar wie immer verletzlich, aber geradezu etwas stolz gemacht. Und das Buch ist insgesamt ohnehin durch die Arbeiten anderer inspirierend. Ich meinte aber, ich müsse mich in deren Reigen zumindest nicht verstecken.

Vor ein paar Tagen habe ich dann – was ich seit langem immer wieder vorhatte – endlich eine Peinlichkeit im Filmkanon getilgt, die mich seit geraumer Zeit verfolgt. Und ich habe mir Matrix angeschaut. Ja, tatsächlich: das hatte ich bisher noch nicht. 1999 war ich mit anderem beschäftigt. Ich entdeckte die Welt der Kulturgeschichte, begann mein Leben als Wissenschaftler, steuerte so langsam auf meinen Magister zu und lernte meine spätere Frau kennen. Alles im beschaulichen Jena. Da waren mir diese Themen fremd, weil ich noch etwas weltfremd war. 20 Jahre später muss ich sagen: Großartiger Film! Alles drin. Vielleicht etwas viel Hollywood. Aber intellektuell hoch anregend. Ein Reflexionslevel, das wir in der Breite immer noch nicht erreichen, die ganze Zeit mit unseren Daten herumwerfend und die ganze Zeit die Frage ausblendend, ob wir diese globale Informationsvernetzung überhaupt wollen.

Vor allem aber hätte ich mir ein Jahr eigenen Denkens sparen können, wenn ich nur etwas besser recherchiert hätte. Agent Smith wusste doch schon alles über den Menschen, als er feststellte:

Ihr seid im eigentlichen Sinne keine richtigen Säugetiere. Jedwede Art von Säuger auf diesen Planeten entwickelt instinktiv ein natürliches Gleichgewicht mit ihrer Umgebung. Ihr Menschen aber tut dies nicht. Ihr zieht in ein bestimmtes Gebiet und vermehrt Euch bis alle natürlichen Ressourcen erschöpft sind. Und der einzige Weg zu überleben ist die Ausbreitung auf ein anderes Gebiet. Es gibt noch einen Organismus auf diesem Planeten, der genauso verfährt …: das Virus! Der Mensch ist eine Krankheit; das Geschwür dieses Planeten. Ihr seid wie die Pest!

Teil welcher Matrix bin ich in der Beschränktheit meiner Erkenntnis? Aber noch viel interessanter im Zusammenhang gegenwärtiger Covid-Lähmung: Sind wir Menschen nur eine andere Form der gleichen lästigen Verfahrenheit für den Planeten, wie dieses eigentümlich runde Stachelwesen, das uns grad nicht zur Ruhe kommen lässt?

„Ich fühle mich, wie Sophie Scholl“ – @ichbinsophiescholl – „Sophie Scholl als Influencerin“

18. Mai 2021. Weil im dritten Corona-Semester auch die Fachgespräche viel zu selten geworden sind, haben wir am Arbeitsbereich begonnen, bei unseren regelmäßigen Treffen am Bildschirm nicht nur organisatorischen, sondern auch inhaltlichen Fragen Zeit zu widmen.

Den Auftakt machte eine Diskussion der Instagram-Serie @ichbinsophiescholl. Am 4. Mai diesen Jahres startete ein Projekt von SWR und BR, bei dem das Leben von Sophie Scholl Tag für Tag so erzählt wird, als würde sie uns über einen Instagram-Kanal an ihren letzten 10 Monaten teilhaben lassen. Darf man das?

Warum sollte man nicht? Sich mit Sophie Scholl zu beschäftigen, setzt voraus, dass sie gerade nicht als „Ikone“ stillgelegt wird, wie es der SWR behauptet. Wenn sie einem lediglich Bewunderung abverlangen würde, wenn man sie lediglich zu verehren hätte, dann hätte sie die Distanz, die ihr die Serie zu Recht nehmen will. Dann wäre das, was sie getan hätte, das unmenschliche Werk einer entrückten Heiligen. Nur eine Sophie Scholl, mit der man sich auseinandersetzen kann, ist eine Sophie Scholl, die auch heute etwas bewegen kann. Solche Leute nennen manche heute Influencer (so auch der Produzent Jochen Laube von Sommerhaus). Ob man den Begriff mag oder nicht, spielt keine Rolle. Und ob man Instagram mag oder nicht, auch nicht. Das mag jede*r selbst entscheiden.

Dann wäre da noch zu trennen zwischen der Sophie Scholl, die 1943 hingerichtet wurde, zwischen dem, was professionell über sie herausgefunden werden kann und dem, was man heute über sie erzählen kann. Die Sophie Scholl der Instagram-Serie ist eine Figur, ebenso, wie die im erfolgreichen Film von Marc Rothemund aus dem Jahr 2005. Beide Projekte versuchen mit ihren Zuschauer*innen Fragen zu stellen, die auch heute noch „aktuell sind: Was bedeuten für mich Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus?“ (SWR). Genau das geht mitunter besser an literarischen Figuren, als im Umgang mit dem Nachbarn. In der Aneignung historischer Personen liegt der besondere Reiz und Gewinn im Wechselspiel von real Ergründbarem und nur plausibel, aber nicht nachweisbaren Interpretationen. Dass Geschichten, die es bisher in Form von Büchern, Filmen, Denkmälern, Schulbuchtexten gab, jetzt „fürs Handy konfektioniert“ werden, wie es Lochen Laube ausdrückt ausdrückt, ist nicht nur folgerichtig, sondern zeigt, dass Sophie Scholls Geschichte längst noch nicht auserzählt ist. Großartiges Projekt.

Geschichte ist das, was SWR und BR da präsentieren, allerdings ganz überwiegend leider nicht. Und das ist ein leichtfertig verschenktes Potential. Was hier geboten wird, ist eher ein verhängnisvolles Endprodukt einer Reduzierung des Historischen auf Erinnerungskultur, die seit einer Reihe von Jahren besonders in Deutschland und besonders zu NS-Themen gepflegt wird. Die Instagram-Serie ist in besonderer Weise geeignet und zeitgemäß, ihre Zuschauer*innen „hautnah, emotional und in nachempfundener Echtzeit“ (SWR) in die letzten Monate von Sophie Scholl zu involvieren. Dass Instagram für eine bestimmte Altersgruppe besonders vertraut ist, dass man dem Gesetz der Serie folgend, immer wissen möchte, was als nächstes kommt – all das unterstützt den immersiven Charakter, der alle Geschichte kennzeichnet, indem Vergangenheit in die Gegenwart geholt wird. Historisch wird es aber erst dann, wenn diese Aneignung der Vergangenheit auch eine Distanzierung von den Begrenztheiten der eigenen Gegenwart auslöst und vor allem in ein Flirren zwischen den Zeiten mündet, das neue Perspektiven auf Vergangenheit und Gegenwart (und Zukunft) ermöglicht. Erst diese Perspektivwechsel machen aus Erinnerung Geschichte. Erst die Wahrnehmung von zeitlicher Veränderung eröffnet den kritischen Blick auf sich selbst, sich selbst in der Welt und in der Zeit. Sie helfen, sich zu vergewissern, mit anderen in Beziehung zu setzen und gegebenenfalls neu zu entwerfen. Geschichte braucht Aneignung und Distanzierung gleichermaßen. Und da versagt nicht das Format der Instagram-Serie, sondern ihr Ansinnen. Jana aus Kassel hatte sich noch mit Sophie Scholl verglichen („Ich fühle mich wie Sophie Scholl“) und wurde dafür kritisiert, zurecht, wie ich finde. SWR und BR gehen einen Schritt weiter mit ihrer unmöglichen Behauptung „ichbinsophiescholl“. Sophie Scholl ist schon sehr lange tot!

Historische Auseinandersetzung gelingt dann eben nicht, wenn Sophie Scholl nur in die eigene Komfortzone geholt wird, wenn die Serie nur bestärkt, was man ohnehin schon über sich und sie weiß. Dann kann man nichts lernen, dann kann sie bloß unterhalten. Dann wird sie eben keine Influencerin und das Unternehmen bleibt harmlos. Ich vermute, das wird so harmlos bleiben und im Ohrensessel enden, den das vorgeblich junge Format doch gerade entrümpeln will. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der letzte Post vom Richtblock kommen wird? Das wäre zuviel für die öffentlich-rechtlichen Zuschauer*innen. So viel „hautnah und emotional“ wird man dann doch nicht wollen. Und bräuchte es auch nicht, wenn man es ernst meinte mit der Historisierung. Wird uns die vorgestellte Figur zweifeln lassen, an sich selbst und an uns selbst? Wohl kaum. Wer vornehmlich Sichtbarkeit erzeugen will, darf und muss immer nur so viel bzw. wenig provozieren, dass am Ende doch der Like-Button gedrückt wird.

Vielleicht irre ich mich aber und die Serie wird sich selbst zur Disposition stellen. Bisher dominieren in den Chats und Kommentaren die Gespräche mit Sophie. Die Redaktion reagiert dann, dem Spiel folgend, als ob die Figur antworten würde. Warum sprechen sie nicht als Redaktion und durchbrechen das Spiel? Warum fragt Sophie Scholl ihre Follower nicht, was eigentlich eine Influencerin sein soll? Das Wort konnte sie nämlich nicht kennen. Ich möchte mehr von der Schauspielerin lernen, die professionell das Spiel mit Nähe und Distanz beherrscht und vielleicht auch, wo ihr das Probleme bereitet. Ich möchte keine „Ikone des Widerstands“ vorgeführt bekommen, solange ich deutlich das Parteiabzeichen am Revers meines Urgroßvaters erkennen kann und darüber immer noch nicht so recht reden mag. Vor allem möchte ich nicht als „Echtzeit“ (SWR) eine immerdauernde Gegenwart erleben, die sich alles permanent einverleibt. Warum führt die Serie nicht konsequent auch die Kluft vor, die zwischen Gegenwart und Vergangenheit liegt? Kann man das besser beschreiben, als Julian Barnes (Vom Ende einer Geschichte): „Geschichte ist ein Sandwich mit rohen Zwiebeln […] Sie stößt einem immer wieder auf, Sir. Sie rülpst.“

Bitte etwas gesitteter! Der SWR behauptet „Social Media Kanal von heute ist so etwas, wie das Flugblatt von gestern“. Ja. Aber die Flugblätter der Weißen Rose hatten nur deshalb eine so nachhaltige Wirkung, weil sie die Mächtigen und Ohnmächtigen ihrer Zeit herausgerissen haben aus den Lügen, in die sie sich verstrickt hatten, aus Angst oder Fanatismus oder Bequemlichkeit oder Verrohung oder Neid oder Hass oder was für Abwegen auch immer.

Der Gefräßigkeit ein Ende

14. Januar 2021. Wulf Kansteiner zu Besuch im Theoriezentrum. 'Er ist gut; er hat was zu sagen und er kann dies gut präsentieren', meinte ein Kollege vorab zu mir. Ja – er kann selbst im Zoom-Format einfangen und er hat etwas zu sagen, lässt einen teilhaben an dem, was den Memory Studies das Fundament ist, was aber nicht jeder parat hat. Er führt an die Grenzen, dort, wo die Fragen liegen, die er mit einem hin und her wendet und dann Versuche macht, Phänomene, wie Covid oder die Stürmung des Kapitol aus Sicht der Memory Studies zu verstehen (beides hält er für Phänomene, die schnell multiplem Vergessen anheim fallen werden.

Zwei Gedanken haben mich besonders gepackt: Immersion und Anthropocene Memory. Kansteiner hat große intellektuelle Faszination für die Umkehrung des Zeitverständnisses in Bezug auf das Anthropozän. Während Erinnerung bislang immer auf die Vergangenheit bezogen war, sei das im Moment anders: Erinnert wird nunmehr die Zukunft, vorgestellt und einverleibt (das hat er nicht gesagt, aber es ist eine logische Übersetzung des Erinnerns, eines Sich-zu-Gemüte-führens) wird die Möglichkeit eines apokalyptischen Endes der Menschheit um diesen Ausgang zu verhindern. „Wie werden wir das Anthropozän abschließen?“ Hier bieten die Memory Studies nach Kansteiner entscheidendes „Aufklärungspotential“. Spannend, geradezu faszinierend. Aber ich befürchte: Gar nicht so neu (das sagen Historiker*innen penetrant gern, ich weiß). Wenn Hartog recht hat mit seinen Geschichtlichkeitsregimes, dann ist diese historische Praxis klassische Moderne: Fluchtpunkt ist die Zukunft und es geht darum, das Leben so zu gestalten, dass es einen erfüllenden und akzeptablen Ausgang gibt. Ja, diese historische Praxis bildet auch den Kern von Fridays for Future (‚Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut’). Sie treibt auch diejenigen an, die ihren 3 Jahre alten Touareg verschrotten um sich einen Tesla zu kaufen. Wäre aber nicht der entscheidende Schritt, nur so viel zu verspeisen, wie heute auf dem Tisch ist, statt permanent schon jetzt darüber zu bestimmen, was die Zukunft zu sein hat, statt sich permanent schon an den Vorräten von morgen zu vergehen. Wäre nicht der Ausstieg aus der Moderne und ihrem Zeitregime samt der dadurch bedingten Praktiken das Gebot der Stunde? Ist nicht gerade die Gefräßigkeit des Erinnerns das eigentliche Problem?

Sehr fasziniert bin ich hingegen davon, welche Bedeutung Kansteiner dem Konzept der Immersion zuteil werden lässt. Es sei diese immersive Kraft, die den Erfolg von Film und Videospiel ausmachen und den öffentlichen Misserfolg von Geschichtswissenschaft bedingt. Historiker*innen würden bei ihrer Faszination beginnen, den flow in Archiv und Bibliotheken methodisch kleinarbeiten und mit abstrakten und komplexen Narrativen enden, die vor allem nicht immersiv sein dürfen. Eine gute Ausstellung, eine fesselnde Dokumentation, ein Videospiel machen das Gegenteil: umfassende Recherche endet in packenden Inszenierungen. Was heißt das alles, gerade auch geschichtsdidaktisch?

Ich habe viel nachgedacht und gehe mit Fragen, die mich beschäftigen weiter (danke dafür!). Eines scheint mir nach diesen inspirierenden Gedanken klarer, als vorher: Das Potential der Memory Studies ist geschichtsdidaktisch nicht einmal annähernd erschlossen. Und wenn wir anständig aus dem Anthropozän herauskommen wollen, dann muss diese Völlerei aufhören, dann müssen wir aufhören, permanent Vergangenheit und Zukunft in uns hineinzustopfen.

Das Bilderbuch ist da :-)

13. Juli 2020. Es ist immer wieder ein eigentümliches Gefühl, das mit dem Erscheinen von etwas einhergeht, bei dem mein Name drüber steht. Wie ein Implantat, das aus wertvollem Metall besteht, ein Problem löst, aber noch nicht so recht zu einem gehören will. Jetzt ist etwas sehr Besonderes erschienen, über das ich mich sehr freue, das mich aber auch etwas schaudern lässt.

Es gibt gute Einführungen in die Welt der Geschichtsdidaktik: die Handbücher im Wochenschau Verlag, das Wörterbuch aus gleichem Hause oder immer noch das Handbuch Geschichtsdidaktik von 1997. Immer wieder aber habe ich dieses Stöhnen in Seminaren oder Fortbildungen erlebt, bei den Mühen, die selbst die Handbuchtexte machen. Was den Experten vertraut ist, ist denen, die sich Expertise aufbauen wollen, doch oft schwer zugänglich.

Aus der Beschäftigung mit Imagination entstand die Idee, grundlegende Begriffe visuell zugänglich zu machen. Die Idee zu diesem Experiment überzeugte auch die Kolleg*innen in Bielefeld und wir haben uns daran versucht. Enststanden ist ein Bilderbuch . Zu insgesamt 65 Stichworten bietet das Buch einen visuellen Zugang, dessen Assoziationen durch sehr subjektive Betrachtungsanstöße und einen Text ergänzt werden, der die konzeptionellen Einordnung ermöglicht. WIr wollen mit dem Buch vor allem Berührungsängste abbauen, inspirieren, vielleicht auch irritieren, in jedem Fall Denken und Wägen anregen.

'Ja, wie kann man denn ...'

... auf die wissenschaftliche Kraft der Sprache zugunsten der Unsicherheit des Bildes setzen? Nun, auch Sprache ist arbiträr und spiegelt die reale Welt ebensowenig exakt, wie den Gedanken. Warum dann nicht mal den visuellen Versuch machen und Leserin und Leser selbst ermächtigen, sich den letztendlichen Unsicherheiten der Begriffe zu nähern.

... ein so geringes Set von Autor*innen haben. Stimmt. Aber das Projekt entwickelte sich schnell zu einem intensiven Forum, in dem sich der Arbeitsbereich Geschichtsdidaktik in Bielefeld inhaltlich austauschte, indem wir dadurch zusammenwuchsen, dass wir viel voneinader lernten und mitunter Positionen auch im Streit ihre Grenzen fanden oder verschoben. Wir arbeiten jetzt seit 4 Jahren zusammen, aber mit dem Bilderbuch sind wir als Team gewachsen.

Mein Lieblingsbild? Sehr schwer. Vielleich Gechichte mit einem Foto Reinhart Kosellecks, auf dem verschiedene Zeiten (der Kölner Dom, ein Reiterstandbild von hinten, ein Zug und selbst die Refelxionen all dessen im Wasser einer Pfütze) zusammenlaufen. Mein Lieblingstext? Geschichtspoltik, weil Nina und Wanda ihn ganz am Schluss gemeinsam geschrieben haben und wir als Gruppe schon so eingespielt waren, dass wir in kürzester Zeit einen fertigen Text hatten.

Das Buch ist im Friedrich Verlag erschienen. Der Verlag hatte viel Geduld mit uns und Thomas Must hat Großes geleistet, uns als Gruppe zusammen zu halten und zwischen unseren und den Bedürfnissen des Verlages zu vermitteln. Wir freuen uns auf interessierte Aufnahme.

Wenn in der FAZ über Geschichtsunterricht gesprochen wird ...

16. Januar 2019. Uwe Ebbinghaus von der FAZ hat mich im Nachgang zur Göttinger Tagung (> 16. Juni 2018) zu den Germanen im Geschichtsunterricht interviewt. Ein spannendes Gespräch , darüber, was es bedeutet, dass die Germanen, die sogenannten Germanen kaum noch im Geschichtsunterricht vorkommen, jedenfalls nicht mehr verpflichtend. Was mich wirklich erstaunt, ist das enorme Interesse an diesen Beobachtungen. Binnen weniger Stunden hatten 70 Leute den Artikel kommentiert. Ich bekam emails. Was ist da los?

Die Kommentare zerfallen ziemlich klar in zwei Lager. Eine Gruppe sagt: Weg mit diesem verstaubten nationalistisch aufgeladenen Mythen! Eine Mehrheit der FAZ-Leser*innen (meist sind es Männer, die da kommentieren) beklagt hingegen den kulturellen Niedergang. 'Wenn nicht mal mehr die Germanen ... Was soll nur noch werden ... Wie dumm doch heute die Kinder sind ... Und selbst die Lehrer.' Ich finde das mindestens bemerkenswert.

Was braucht man, um sich im 21. Jahrundert zurechtzufinden? Welche Geschichten helfen, diese Gegenwart zu verstehen und die Herausforderungen der Zukunft angemessen anzugehen? Das ist didaktisches Fragen. Ganz offensichtlich ist es von großer Bedeutung.

Auf guten Wegen

11. Januar 2019. So langsam neigt sich der Fortbildungsreigen für das Fach Gesellschaftswissenschaften seinem Ende entgegen. Mit David Seibert habe ich nunmehr zum ... ? ... achten Mal im Auftrag des WIB Potsdam vor 100 Grundschullehrerinnen und Grundschullehrern gestanden. Wir zwei und einhundert gestandene Kolleg*innen. Jedes und auch dieses Mal verlasse ich die Bühne mit hohem Respekt und großer Begeisterung.

Die Gruppe galt als schwierig. Nicht einfach zu erreichen. Grundschullehrerinnen. Brandenburg. Naja. Wann immer Leute von der Universität über Leute aus der Schule reden, ist da so ganz unterschwellig ein Kopfschütteln im Raum. Zu wenig interessiert. Zu unambitioniert. Etwas verspielt und absolut beratungsresistent.

Vielleicht ist genau das ein Kernproblem von Wissenschaft, jedenfalls aller Wissenschaft, die nicht gleich über ein startup ausgegründet und in bare Münze zu verwandeln ist. Dieses Unverständnis, dass irgendjemand sich weniger für diese oder jene doch so ganz wichtige Frage interessieren könnte. Alle nicht an dieser Expertenschaft Interessierten werden dann belächelt, abgewertet. Was soll das? Kein Wunder, dass diejenigen, die Tag für Tag einen oft harten Job machen, die viel Verantwortung tragen, nicht bereit sind, diese Überheblichkeiten durchgehen zu lassen.

David und ich haben die Erfahrung gemacht, dass Interesse, Gespräche auf Augenhöhe und Begeisterung viele Türen öffnen. Und wir sind dankbar für diese Erfahrungen. So viel Offenheit, Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen. So viel Kooperation und so viel Engagement für dieses neue Fach Gesellschaftswissenschaften und seine Möglichkeiten. Respekt!

All das ist ein Lehrstück, was möglich ist, wenn sich Universität und Schule aufeinander einlassen, mit Interesse und Respekt begegnen, wenn es diesen Raum gibt, sich umeinander zu bemühen. Vielen Dank dafür!

Im Bergischen ...

4. Januar 2019. Ich habe Post vom Rektor der Uni Wuppertal bekommen. Er hat mir eine Berufung auf eine Professur für Geschichte und ihre Didaktik angeboten. Große Freude! Vielen Dank für das Vertrauen und die Anerkennung meiner Arbeit. Die nächsten Wochen werden spannend.

‚Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant’

16. November 2018. 1989 war ich 14 Jahre alt. Aus den Unschärfen meiner Erinnerungen steht mir bis heute eine Situation ganz lebhaft vor Augen, wahrscheinlich, weil sie derart ungeheuerlich war: An einem dieser Tage im Herbst ’89 oder Frühjahr ’90 kam unser Staatsbürgerkundelehrer in die Klasse, setzte sich an den Lehrertisch, schlug das Klassenbuch auf, in dem auch unsere Noten eingetragen waren, nahm ein Lineal und strich fein säuberlich alle diese Noten im Gesinnungsfach Staatsbürgerkunde durch. Vom Notendruck befreit sollte der Unterricht zum angstfreien, enthierarchisierten, ermutigenden Raum politischer Willensbildung und Auseinandersetzung werden.

Wie schnell und gut das funktioniert hat, weiß ich nicht mehr. Aber wenn ich heute Mitschüler*innen von damals treffe, erzählen wir uns gern von diesen aufregenden offenen Jahren, in der uns alles Politische interessierte und das Klassenzimmer der Ort war, in dem das Aufregende, was um uns herum vor sich ging, zum Thema wurde.

Damals wusste ich noch nichts vom Beutelsbacher Konsens, vom Überwältigungsverbot oder Neutralitätsgebot für Lehrer. Ich würde sagen, dass die Lehrer*innen gerade in der Phase des Übergangs zurückhaltend waren, auch weil sie sich ihrer Rolle unsicher geworden waren. Nur eines war ihnen klar, dass sie es bis ’89 staatstragend zu weit getrieben hatten. Der Lehrplan Geschichte der DDR definierte nicht nur Merkzahlen und historische Fakten als Lernziele, sondern auch Interpretationen und Beurteilungen. Als das alles reif war für den Papierkorb, begannen sich die Fragen gegenüber den Antworten durchzusetzen, das Abwägen gegenüber den festen Positionen.

Als Wissenschaftler sollte ich gar nicht derart subjektiv schreiben. Ich sollte das ‚ich‘ vermeiden und ich sollte die Erinnerungen eher als Zeugnisse heutiger Sichtweisen nehmen, denn als Fakten über die Vergangenheit. Und verklärt ist all das zweifellos. Aber es ging mir durch den Kopf, als ich von den Meldeportalen der AfD erfuhr. Das ist Erziehung zum Denunziantentum. Etwas, was ich sehr genau zu kennen meine. Ich wusste als Jugendlicher, wo ich zu schweigen hatte, wo Vorsicht geboten war, weil jemand mithören könnte. „Psst, nicht so laut, der Nachbar!“

‚Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.‘ Gesellschaften, die eine derartige Einrichtung haben, sind instabil. Sie benötigen diese Einrichtung ja gerade, weil die Macht der Mächtigen ansonsten nicht aufrechtzuerhalten wäre. Das durch denunziatorische Unsicherheit gesäte Misstrauen soll zersetzend wirken. Das allein ist die Absicht dieser Einrichtung. Und es hat wesentlich zur Machausübung Robespierres, Metternichs, Hitlers, Stalins, Maos und Mielkes gehört. Es ist gesellschaftlich gefährlich.

Nun meint die AfD, Schüler vor politisch übergriffigen Lehrern schützen zu müssen. Nehmen wir das für einen Moment mal ernst. Auf den ersten Blick ist das eine löbliche Absicht. Es war ja gerade das Wesen politischen Unterrichts in der DDR, dass den Schülern eine politische Haltung anerzogen werden sollte, dass Schüler*innen im Unterricht bestimmte Antworten abverlangt worden. Und es ist ein hohes Ziel der demokratischer Schulbildung, eben das zu unterbinden. Der Beutelsbacher Konsens versucht Indoktrination zu unterbinden. Konsequent wäre es, die Noten für Unterricht, der meinungsbildend wirken soll, ganz abzuschaffen. Es geht ganz einfach: Lineal raus und durchstreichen. Ich hab es selbst erlebt. Nun, das hat die AfD gerade nicht im Sinn.

‚Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.‘ Dieses Zitat wird Hoffmann von Fallersleben zugeschrieben. Und da wird es für Historiker*innen auch schon interessant. Man kann die Urheberdiskussionen auf Wikiquote nachlesen, ich will die Details hier nicht weiter ausbreiten. Nur so viel: die Urheberschaft dieses Zitats ist höchst unsicher. Wie Geschichte überhaupt, insbesondere dort, wo sie interessant ist. Dass Karl der Große zu Weihnachten 800 in Rom gekrönt wurde, gilt als unstrittig, ist aber an sich zu wissen kein gewinn. Wie er aber eingeordnet werden kann, welcher Art die Geschichten sind, die über ihn erzählt wurden und werden, ob er als Bezugspunkt taugt oder nicht, darauf gibt es keine klaren Antworten. Und genau diese Unbestimmtheit macht das wesentliche Potential von Geschichte aus, dass sie zur Auseinandersetzung anregt und somit entscheidend zur Selbstverortung und Selbstverunsicherung beiträgt.

Wenn es nun Lehrer*innen gibt, die dieses Potential vergeuden, weil es in ihrem Geschichtsunterricht nur um bloße Zahlen, Daten und Fakten geht, dann sollten Eltern das unbedingt thematisieren, im Gespräch, im Streit mit diesen Lehrern, im Zweifelsfall auch mit Schulleitungen und Aufsichtsbehörden.

Der Pranger eines Internetportals hingegen wird diesen Zweck vollkommen verfehlen. Und das werden die, die ihn einrichten, auch sehr genau wissen. Die bornierten Lehrer*innen, die er angeblich treffen soll, wird er ohnehin nicht schrecken. Die anderen aber soll er verängstigen. Denunziation zielt vor allem auf diese Wirkung. Das kann am Ende nur dazu führen, dass sich Lehrer*innen aufs Unstrittige zurückziehen. Und genau damit würde der wesentliche Gewinn des Geschichtsunterrichts verspielt.

Kindern und ihren Eltern kann man nur raten, sich bei den Lehrer*innen zu beschweren, die ihnen so etwas vorenthalten.

Den Lehrer*innen im Land kann man nur zurufen: Lasst Euch nicht einschüchtern. Politisiert Euren Unterricht. Verunsichert. Bringt die Kinder zum Streiten und streitet mit ihnen. Es geht um etwas, wenn Ihr über Karl den Großen redet oder über den Reichsdeputationshauptschluss (ja, den hat es tatsächlich gegeben). Stürzt Euch auf die Themen, die verunsichern und lasst sie Eure Schüler*innen nach allen Seiten wenden. Vor allem: Durchleuchtet die spukenden Begriffe wie „Abendland“, „Vaterland“ und „Heimat“. Fragt Euch mit Euren Schüler*innen, was die Leistungen deutscher Soldaten aus zwei Weltkriegen sein sollen, auf die man stolz sein soll (Gauland, 02.09.17). Sprecht über Kultur und Migration, über Krieg und Vertreibung. Analysiert, was die „Volksgemeinschaft“ war im Dritten Reich und was für ein Lump der Denunziant ist.

Zuerst veröffentlicht auf sowi-online

Am Grab der Geschichte

25. Oktober 2018. François Hartog ist erster Koselleck-Gastprofessor in Bielefeld und er hat heute Abend die Grabesrede für Clio gehalten.

Das macht mich betroffen und neugierig, auch ratlos. Der Vortrag des Bielfelder Theoriezentrums im Museum Huelsmann war unter die Frage gestellt, „Has History in the West become a Place of Memory?“ und man kann ihn auf zweierlei Weise verstehen.

Etwas harmloser hat Hartog seine These aufgegriffen, dass das heute dominierende Historizitätsregime das eines Präsentismus ist. Kompliziert. Die Presseabteilung hat das zunächst so verstanden, dass Leute trotz Krankheit auf Arbeit gehen weil sie denken, immer anwesend sein zu müssen.

Hartog geht es aber um etwas anderes. Er befragt die Art, mit der Menschen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpfen und welche Orientierung sie daraus ziehen. Er unterscheidet ein altes Leitmotiv (Regime), bei dem man aus der Vergangenheit lernen konnte (‚historia magistra vitae’), weil die Vergangenheit die Zeit war, aus der das Licht in die Gegenwart schien. In der Moderne wurde das durch eine Perspektivierung auf die Verheißungen der Zukunft abgelöst, der man alles zutraute, in deren Licht der Fortschritt unweigerlich führen wird. Doch für diese Zuversicht gibt es spätestens seit 1945 keinen Grund mehr (sehr schön in mit Anselm Kiefers Engel der Geschichte demonstriert, einem geschrotteten Flufgzeugwrack).

Schon nach dem Ersten Weltkrieg war klar, dass das Sterben für eine Sache nichts Heroisches mehr haben kann, dass sich Töten industriell perfektionieren lässt. Auschwitz hat diesen ethischen Abgrund noch einmal ins Unendliche wachsen lassen. Spätestens seitdem könnte man wissen, dass diese Geschichte von „Vorsprung durch Technik“ in eine glorreiche Zukunft nur ein fataler Irrweg sein kann. Aber stattdessen haben Kaugummi und dicke Würste ein ‚Lasst es und nochmal probieren‘ hervorgebracht, die die große Illusion noch einmal ein halbes Jahrhundert weitergetragen haben. Star Wars und Juri Gagarin waren die großen Täuschungen der späten Moderne.

Verheißungen, die heute von immer weniger Menschen geglaubt werden. Diejenigen, die Geld haben, kaufen sich den eigenen SUV-Panzer und verkriechen sich in Gated Communuities. Die anderen machen kaputt, was sie kaputt macht oder was sie dafür halten. Und immer mehr machen sich auf den Weg, um die Töpfe des Nordens auszukratzen. Was um sich greift ist eine große Angst und nur der Populismus vermag sie aufzufangen.

Im Westen, im Norden, merkt man das alles mittlerweile sehr deutlich. Entweder führt das zu einer Flucht in den Selbstbetrug behaglicher Nostalgie. Oder, nicht loslassen könnend von der Hoffnung auf ein Nachleben in der Zukunft, errichten wir uns das eigene Grab, gravieren unsere Namen in Messing in der Hoffnung, dass irgendwer sie lesen wird in 100 Jahren. Hartog demonstrierte das am Beispiel des 2014 errichteten Weltkriegdenkmals in Notre Dame de Lorette in Nordfrankreich: ein kreisrunder hortus conclusus, an dessen Innenseite die Namen von 580.000 Toten des Ersten Weltkrieges in alphabetischer Reihenfolge eingeschrieben sind. Vor wem werden die Namen dieser Toten geschützt? Was ist das für eine furchtbare Welt da draußen?

Die Vergangenheit hat darauf keine Antworten parat. Und die Zukunft, die hier verteidigt wird, ist eine Ilussion, „dubios und beängstigend“. Hartog hat heute Abend die Grabesrede für diese Clio gehalten. Auch er weiß nicht, was nun kommen kann und sollte. Nur eines: „Ein neues Konzept von Geschichte wird nicht in den Werkstätten Europas geschmiedet werden.“

„Angesichts der Herausforderungen der Gegenwart braucht es den reflektierten Umgang mit historischer Erfahrung“

2. Oktober 2018. Die Gerada-Henkel-Stiftung hat mit ihrem Portal L.I.S.A Interesse am Bielefelder Theoriezentrum gefunden und mich um ein Interview gebeten. Das Ergebnis ist nun online.

Es ist für mich immer noch ein befremdendes Unterfangen, etwas zu lesen, was ich selbst geschrieben habe, etwas zu hören, was ich selbst gesagt habe. So in etwa, wie wenn man seine eigene Stimme auf einer Aufnahme hört, die doch so ganz anders klingt, als das, was beim Sprechen direkt durch die Ohren zurückkommt.

Dennoch trifft das Interview ganz gut, was mir das Theoriezentrum ist. Wer es kurz mag, der kann hier etwas finden. Wer es länger mag, der kann mir ja schreiben.

Eine Frage der Ehre

26. September 2018. „Die Nominierung für den Karl Peter Grotemeyer-Preis stellt eine hohe Auszeichnung dar, die ich Herrn Juniorprofessor Deile hiermit gerne bestätige.“ So steht es in einem Schreiben des Rektors, das ich vollkommen unerwartet in meinem Postfach finde, in nicht der billigsten Klarsichthülle

Natürlich freue ich mich riesig darüber, dass ich von Studierenden für diesen Preis, der „für hervorragende Leistungen und persönliches Engagement in der Lehre“ vergeben wird, nominiert worden bin. Mindestens so eitel bin ich auch. Und wer freut sich nicht über positive Rückmeldung für das eigene Tun.

Andererseits bin ich in einer Umgebung groß geworden, in der es Blech für alle möglichen Dinge gab. Ich habe im Studium gelernt, wie man mit Anreizen zu motivieren vermag, auch zu manipulieren. Und ich frage mich, warum gerade ich für den Preis nominiert wurde und nicht Kollegin X oder Kollege Y, die den Preis ganz bestimmt verdienen würden.
Außerdem weiß ich auch, dass ich die hohen professionellen Standards an Lernumgebungen, mit denen ich mich berufsbedingt beschäftige, oft genug nicht erfülle. Mit dem, was ich an der Uni anbieten kann, wo alle meiner Studierenden freiwillig sind, würde ich in einer Schule, wo die Kinder gezwungenermaßen sein müssen, kaum bestehen. Es bleibt viel zu tun.

Aber allen, die meine Lehre angemessen für eine Auszeichnung halten, danke ich sehr für diese Wertschätzung. Die Nominierung für den Grotemeyer-Preis ist mir vor allem Verpflichtung.

Und weil es nicht nur um mich geht im Leben, auch nicht im akademischen, freue ich mich sehr mit meinem geschätzten Kollegen Jörg van Norden, der heute vom Rektor für seine besonderen akademischen Leistungen zum außerplanmäigen Professor ernannt wurde.

Angemessenes Einsehen und angemessenes Begreifen
Das Theoriezentrum diskutiert über Scale in History

13. Juli 2018. Mitunter beschränkt sich Inter- und Transdisziplinarität darauf, Themen zu besprechen, zu denen jede und jeder etwas Senf dazugeben kann. Das macht die Wurst nicht zwingend würziger. Die Diskussion des Theoriezentrums hätte so etwas werden können. Und die Gefahr des Aneinandervorbeiredens hatte sich schon schmerzlich vorab gezeigt. Am Ende saßen dann aber doch Veronica Peselmann als Kunsthistorikerin und Carsten Reinhardt vor interessierter Runde, die sich mit der Lektüre zweier sehr unterschiedlicher Texte vorbereitet hatte:

  • Jennifer L. Roberts: Introduction: Seeing Scale. In: Scale (Chicago, Ill. 2016), 10-24.
  • Dipesh Chakrabarty: Anthropocene Time. In: History and Theory 57.1 (2018), 5-32.

  • Die beiden hatten prägnante Texte ausgewählt und das Publikum einfühlsam vorbereitet um mit Scale – auf Deutsch könnte man vieleicht Skalierung sagen – einen Begriff einzuführen, der in den Kunst und Gesellschaftswissenschaften gerade anorm angesagt ist (ohne dass das zu mir durchgedrungen wäre ;-)
    Nach inspirierender, lebhafter Diskussion sehe ich mindestens zwei Dinge klarer:

  • Imagination kann nicht nur des Menschen größte Fähigkeit sein (wie das Ken Robinson beeindruckenderweise behauptet), es ist auch eine seiner größten Schwächen.
  • Dem 21. Jahrhundert ist mit den Orientierungen des 20. Jahrhunderts nur noch bedingt beizukommen.
  • Seit geraumer Zeit kreisen meine Gedanken um Konzepte historischer Wahrnehmung, Erfahrung, Sinnlichkeit und Imagination. Mit ihrer Hilfe suche ich nach einer Fundierung historischen Lernens, de sich jenseits oder neben oder auch unter dem Konzept historischer Narrativität versenken lässt. Dabei hat mich Ken Robinson, der mir zuerst in Alphabet begegnete, ebenso stark beeindruckt, wie Gerhard Henke Bockschatz’ Aufsatz zu Imagination (Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 51, 418-129.) Beide sehen im Prozess der Imagination die oder zumindest eine entscheidende Fähigkeit des Menschen zu einem emanzipierten und schöpferischen Leben. Weil Menschen sich Dinge vorstellen können, die gar nicht anwesend sind, sind sie in der Lage, Welt zu entwerfen, zu erschaffen, nach vorn zu blicken. Und auch eine Vorstellung von Vergangenheit zu entwickeln. Menschen können so zu zeitlichen Wesen werden, de über die augenblickliche sinnliche Erfahrung hinweg existieren. Im Zusammenspiel von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont (Koselleck) entwerfen wir die Welt.
    Genau dieses Entwerfen von Welt im Kopf, dieses permanente Zusammenspiel von mentaler Vorstellung und tatsächlichem sinnlichen Erfassen von Welt, dieser Akt des Wahrnehmens ist auch ein schwerwiegender Defekt des Menschen. „Wir schauen darüber hinweg.“ sagt Johannes Grave und erklärt das Unbehagen Carsten Reinhardts, dass zwar seit 50 Jahren belastbares Wissen über den Klimawandel und seine Folgen vorliegt, das aber kaum nennenswerte Konsequenzen hatte. Spannend, die Experten des Sehens erklären uns, warum das Sehen die robusteste Fehlwahrnehmung ist, über die wir verfügen. Veronica Peselmann erklärt dann auch noch, dass erst das Befühlen, das Bewegen zuverlässige Maßnahmen sind, um die Welt angemessen wahrzunehmen. Ein schönes Beispiel liefert Roman Gibhardt hinterher. Der David von Michelangelo, mit überproportional großem Kopf und Händen, wirkt auf uns als Betrachtende völlig normal, weil das, was unser Gehirn aus den über das Auge aufgenommenen Daten nichts als ein Abgleich ist, eine festgestellte Ähnlichkeit mit dem Konzept Mensch. Und diese bemerkenswerte Fehlleistung führt zu Blindheit gegenüber dem, was wir nicht sehen wollen, wie zum Beispiel den Folgen der Erderwärmung in vielleicht 20 Jahren (konnte man vor vielleicht 20 Jahren denken). Erst wenn uns selbst das Wasser bis zum Hals steht, merken wir, dass da etwas nicht stimmen kann. Und werden den Nachbarn aus der Arche stoßen um selbst den einzigen Platz zu ergattern.

    Meine geschätzten Kollegen, die in Systemtheorie und Strukturalismus gebadet haben und so viel beschlagener sind, als ich, raten zur analytischen Mäßigung, zur moralischen Abrüstung. Sie packen ihr Arsenal an distinkten Boxen aus und ordnen die Scherben dieser Welt fein säuberlich und systematisch ein. Die roten hierhin, die blauen dahin und die grünen – naja, vielleicht dorthin. Am Ende wissen sie sicher besser Bescheid, als ich. So wie das PIK in Potsdam genau erklären kann, wie der Klimawandel funktioniert. Um den Rest sollen sich andere kümmern. Wie bitte? Wollt ihr jetzt ruhig schlafen gehen nur weil ihr den Job gemacht hat, für den man Euch bezahlt? Das wird im 21. Jahrhundert nicht mehr funktionieren.
    Ich würde sagen, dass wir uns wieder mehr an die ethischen Fragen herantrauen müssen. Wir müssen dem (Be)fühlen wieder mehr vertrauen um der Welt gerechter zu werden. Raus aus dem Elfenbeinturm! Wr müssen die Unschärfen zulassen und uns trauen, uns auch halbblind zu bewegen.
    Dorothee Kimmich hat vor zwei Tagen im Bielefelder SFB charmant aber entschieden empfohlen, das Denken in Differenzen durch das Operieren mit Ähnlichkeiten zu ersetzen. Das ist zwar nicht originell – der Poststrukturalismus empfiehlt genau das – aber es ist konsequent. Wenn wir uns wieder stärker der Unschärfen unserer Weltwahrnehmung bewusst sind, wenn wir uns als halbblinde Wesen in dieser Welt nicht mehr so wichtig nehmen, dann werden wir dem gerecht, was der Polarbär zurecht von uns erwarten darf.

    Spiel und Verantwortung. Helmut Lethen in Bielefeld

    3. Juli 2018. Der Tag ist seit langem dick angestrichen im Kalender. Helmut Lethen kommt. Der Helmut Lethen! Vor 2 Jahren hat mir Christin Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit geschenkt. Ein umwerfendes Buch. Selten habe ich etwas mit soviel Scharfsinn, so viel intellektueller Tiefe und gleichzeitig in so anschaulicher, berührender Sprache gelesen. Es ist ein Feuerwerk der Assoziationen, die alle um die Frage kreisen, wie Bilder auf uns wirken, was sie mit uns machen, wir wir uns ihnen gegenüber verhalten. Ich hab das Buch damals verschlungen, hatte aber das Gefühl, noch längst nicht mit ihm fertig zu sein.
    Helmut Lethen spricht in einer Elias-Lecture über Witz und Lebensblindheit der Elite in Nazi-Deutschland. Er tritt ans Pult, fast ein wenig getrieben, leicht vorn übergebeugt, in der Hand eine schon recht zerfledderte Ausgabe des Buches, aus dem er heute Abend lesen wird: Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich. Gründgens, Furtwängler. Sauerbruch. Schmitt. Er kann reden. So, wie er schreiben kann. ‚Gibt es das Buch auch als Hörbuch, gelesen vom Autor?’, geht es mir durch den Kopf. Es ist eine Freude, ihm zuzuhören und sich von ihm zum Denken einladen zu lassen.
    Lethen thematisiert die fatale Verstrickung bürgerlicher Intellektueller ins Dritte Reich und er führt vor, wie dieser Hitler einfach einer war, der fanatisch in die Tat umsetzte, was viele vor und neben ihm im Spiel durchdacht hatten. Und wie sich diese Spieler dann darin verstrickten, Spiel und Realität nicht mehr auseinanderhalten zu können und zu wollen. Wie sie Verbrecher wurden aus Überdruss und Leidenschaft. Wie sie sich verzockten ohne den Bankrott wahrhaben zu wollen. Lethen geht es um Verantwortlichkeit, das merkt man. Auch um die Lust am nur Vorstellbaren aber Unerhörten. Er beschreibt ein „Schattenspiel“.
    Das Buch muss unglaublich sein: Lethen zitiert vier im Dritten Reich Unberührbare zu sich, vier Protagonisten, die sich tatsächlich nie begegnet sind. „Ich sehe sie an einem Tisch und sie müssen sich in Grund und Boden schämen. – Geschämt hat sich kein Schwein, aber Entschuldigungen habe ich nicht akzeptiert.“ Lethen beschreibt ein Experiment. Er bringt die vier „Halunken“ fiktiv zusammen und lässt sie miteinander reden. Dabei gesellt er ihnen Personen aus anderen Zusammenhängen zu, legt ihnen Zitate in den Mund von ganz anderen (aus Gründgens Mund kommt Susan Sontag). Er borgt sich Beschreibungen (Kafkas Schloß). Es ist ein Kaleidoskop der Assoziationen, deren Arrangement dem nahezukommen versucht, was die Verstricktheit dieser Eliten in den Nationalsozialismus erklären könnte. Lethen benutzt die Fiktion, die für ihn eine „wichtige Hilfskonstruktion für das Verständnis von Wirklichkeit“ ist. Für mich als Historiker ist das unerhört, muss es unerhört sein. Aber ich habe große Lust, das zu lesen. Das Buch ist schon bestellt. Ich freue mich auf den Moment, wo ich es in den Händen halten werde. Mein Kollege van Norden stellt die erste Frage, als Historiker, den das Vorgehen Lethens baff erstaunt. Der reagiert gelassen und sehr interessiert mit dem Hinweis, dass es Historiker schwer haben weil sie Anachronismen nicht in den Griff bekommen können mit ihrer Epistemologie und vor allem Narratologie. Dabei bauen sie „mit jeder Konjunktion, mit jedem ‚weil‘ oder ‚dann‘ eine Interpretationskette auf, die sich in den Quellen nicht finden lässt“. Deshalb macht Lethen gleich etwas anderes daraus, weil er keine Angst hat vor dem bloß Vorstellbaren, weil er über die Wirklichkeit hinauszukommen vermag, wenn er den Vorstellungen traut.

    Irgendwann im Laufe des Vortrags mache ich einen Fehler: ich will eigentlich nur wissen, wann Lethen in Rostock war. Wohl deshalb, weil ich mich ärgere, ihn womöglich verpasst zu haben als ich in Greifswald war. Wikipedia informiert mich dann denkbar nüchtern: „Er ist mit Caroline Sommerfeld-Lethen, einer rechten Aktivistin der Indentitätren Bewegung verheiratet.“ Bämmmm! Alles bricht in sich zusammen. Dieser vor Esprit und Witz sprühende Lethen und seine verblendete Frau? Worüber reden die am Küchentisch? Wie begegnet man einem Nazi? Was ist ein Nazi? Wieso ist gerade die Frau eines linken 68ers bei den Identitären? Fragen über Fragen. Zerbrochene Gewissheiten. Und keine Antworten. Nur eines: die Schemata gehen nicht auf. Links / rechts. Vorwärts / rückwärts. Oben / unten. Das funktioniert alles nicht. Wir lullen uns selbst ein mit billigen Erklärungen, zimmern uns grobe Schubladen und richten uns ein in der Bequemlichkeit der einfachen Antwort. Und so verstehen wir nicht, warum ein Pegida-Anhänger auf die Straße geht (das machen die nicht aus Langerweile, sondern weil sie ein drängendes Anliegen haben), warum die Wahlergebnisse so sind, wie sie sind (als Ausdruck einer tiefen Unzufriedenheit mit den Mechanismen der Repräsentation). Das Handlungsfeld gehört dann den Seehofers in diesen Land (auch das an diesem Tag).
    Ich hab mich nicht getraut, Lethen diese Dinge zu fragen, die ich ihn fragen wollte. Ich hatte beschlossen, nach Hause zu fahren und die beiden schreibend an den Küchentisch zu zitieren, ihn und seine Frau. Aber das wäre wohl zu plump geworden. Ein billiges Imitat dessen, was Lethen so genial gewoben hat in seine Staatsräte.
    Aber er und sie bringen mich zum Nachdenken. Wenn wir irgendwie verstehen wollen, was gerade passiert in diesem Land und in Europa, dann können wir es uns gewiss nicht einfach machen. Aber wir sollten aufpassen mit den Spielereien. Nicht mit ihnen aufhören, aber auch wissen, wann das Spiel vorbei ist. Soviel hat sich schon mal eingestellt heute Abend.
    Und ich lese fasziniert und verstört weiter an diesem Abend: in der New York Times, in der FAZ, in der ZEIT...
    Heute Morgen hat Beate Zschäpe zu Abschluss des NSU-Prozesses das letzte Wort erhalten und ergriffen, nachdem sie hunderte Tage geschwiegen hat. Sie hält sich für nicht schuldig. Schuldig bleibt sie aber den Opfern die eine entscheidende Antwort: Warum gerade mein Vater, Onkel, Bruder, warum gerade meine Frau, meine Freundin? Wahrscheinlich hat Zschäpe keinen dieser furchtbaren und hasserfüllten Morde selbst begangen. Aber wer will glauben, dass sie nichts davon gewusst haben soll. Warum hat sie dann nichts getan, diese Verbrechen zu verhindern? Was hat sie getan, um Hass, Gewalt und Verachtung den Raum zu entziehen?

    11. Juli 2018. Ein Nachtrag: Der letzte Satz der Einleitung begleitet mich weiter. Überreste der Täterwelt zirkulieren auf dem Marktplatz der Gegenwart.

    Wem gehören die Germanen? – Tagung in Göttingen

    16. Juni 2018. Welche Verantwortung hat Wissenschaft? Und welche Möglichkeiten? Welche Aufgabe? Und welche Reichweite? Es gibt Wissenschaften, die haben es nicht nötig, derartiges zu reflektieren. Gerade aber die kleinen Bereiche, die Ränder der Disziplinen sind es, die diese Fragen stellen, Fragen, die sich Wissenschaft grundsätzlich stellen sollte, wahrscheinlich öfter, als das der Fall ist.
    In Göttingen haben sich drei Mediävistiken zusammengetan, aus Germanisitik, Anglistik und Nordistik und eine Tagung auf die Beine gestellt, eine Tagung zu den „Sogenannten Germanen“, zur „Popularität des frühen Mittelalters im öffentlichen Diskurs“. Nach all der mythologisierenden Aufladung der sogenannten ‚Vorgeschichte’ im Nationalsozialismus war das Thema nach 1945 und insbesondere nach 1968 diskreditiert. Die wissenschaftliche Beschäftigung kann mittlerweile randständig genannt werden und wird kaum wahrgenommen. Stattdessen gehört das Feld rechten Ideologen, Verschwörungstheoretikern, völkischen Siedlern, Hobbyarchäologen, Nazibands und Freizeitaktivisten. Was läuft hier schief?
    Zunächst einmal kann man eine Glaubwürdigkeitskrise der Wissenschaft registrieren. Trumpismus in allen möglichen Facetten. Es geht gegen ein bürgerliches Establishment, gegen etablierte Deutungshoheiten. Das treibt weltweit die Wissenschaftler auf die Straße: march of science. Gut so. Aber man sollte es nicht versäumen, warum das so ist? Im Reflektieren überm Selbstgewissheiten und Selbstgerechtigkeiten liegt das Potential, wieder an Einfluss zurückzugewinnen. Nicht weil man meint, dass einem der zusteht, sondern weil man fähig ist, zuzuhören, zu analysieren und verständlich zu erklären. Diese Art einmischender Wissenschaft braucht es mehr denn je.
    Tagungen, wie die in Göttingen sind ein guter Anfang. Denn hier saßen sehr unterschiedliche Leute an einem Tisch: klassische Mediävist_innen verschiedener Fächer ebenso wie Denkmalpfleger, Politologen, Soziologen und auch ich als Geschichtsdidaktiker. Unter den Besucher_innen waren nicht nur Wissenschaftler_innen, sondern auch Lehrer_innen, Sozialarbeiter_innen und Studierende. Ein Anfang, wie ich meine.
    Ich selbst hatte mir Schulbücher aus Kaiserreich, NS, BRD und DDR vergleichend angeschaut. Einerseits bestätigte sich das schon oben beschriebene Muster der Thematisierung. Verblüffend war, wie die DDR den im Kaiserreich etablierten Befreiungsmythos ideologisch ummünzte, ansonsten aber 1945 voll auf ihn zurückgriff. Erschreckend und über das Erwartete hinausgehend zeigte sich die Tiefe der ideologischen Durchdringung im Nationalsozialismus: eine Chronologie, die von der Gegenwart rückwärts entfaltet wird, Vorgeschichtsforschung als entscheidende Bezugswissenschaft, durchgängige Gestaltung des Geschichtsbildes anhand des Rassebegriffs. Und heute? Zwei Doppelseiten im Schulbuch des Jahres 2012, die am Thema aber insbesondere methodische Kompetenz schult.
    Während draußen die Nazibands mit Runen hantieren. Während sich völkische Siedler von der Welt abwenden und ihre kruden Mythen auf einsamen Höfen leben. Und während all jene, die sich ernsthaft für das Thema interessieren, besonders auf die Literatur der Nazizeit zurückgreifen. Da ist der Giftschrank, in dem die Bielefelder Unibibliothek (es gibt ihn tatsächlich), keine wirksame Lösung. Es ist Zeit, sich wieder mehr einzumischen.

    Carolyn Steedman zu Gast im Theoriezentrum: Poetry for Historians

    13. Juni 2018