Nach außen hin machte Goethe ein anderer Wirklichkeitsbezug des "Werther"
aber mehr zu schaffen: die Verletzung der Privatsphäre von Johann Christian
Kestner und seiner Frau. Schon in der ersten Phase der Niederschrift ist er
sich darüber klar, dass er mit seinem Roman dem Ehepaar etwas zumutet, und
er kündigt sein Vorhaben in allerlei Andeutungen an. So schreibt er im März
1774 an Charlotte Kestner:
Liebe Lotte, es fällt mir den Augenblick so ein, dass ich lang einen Brief
von dir habe, auf den ich nicht antwortete. Das macht du bist diese ganze
Zeit, vielleicht mehr als iemals in, cum et sub, |:lass dir das von deinem
gnädgen Herrn erklären:| mit mir gewesen. Ich lasse es dir ehstens drucken -
Es wird gut meine Beste. Denn ist mirs nicht wohl wenn ich an euch dencke?
Am 11. Mai heißt es am Schluss eines Briefes an Johann Christian Kestner:
Adieu ihr Menschen die ich so liebe |:dass ich auch der träumenden
Darstellung des Unglücks unsers Freundes, die Fülle meiner Liebe borgen
und anpassen musste:| Die Parenthese bleibt versiegelt biss auf weiters.
Anfang Juni 1774 fügt er der Mitteilung, er könne sich Lotte nicht
als Wöchnerin vorstellen, die Bemerkung hinzu:
Ich seh sie immer noch wie ich sie verlassen habe, |:daher
ich auch weder dich als Ehmann kenne, noch irgend ein ander Verhältniss
als das alte, - und sodann bey einer gewissen Gelegenheit, fremde
Leidenschafften aufgeflickt und ausgeführt habe, daran, ich euch warne,
euch nicht zu stosen:| Ich bitte dich lass das eingeschlossne Radotage biss
auf weiteres liegen, die zeit wirds erklären.
Am 16. Juni 1774 heißt es an Lotte, er werde ihr demnächst einen Freund
schicken, "der viel ähnlichs mit mir hat, und hoffe ihr sollt ihn gut
aufnehmen, er heisst Werther". Das Ende Septemer 1774 nach Hannover gesandte
Vorausexemplar löste bei den Kestners jedoch erhebliche Bedenken und die
Forderung aus, Goethe möge die Veröffentlichung unterlassen. Im Oktober
1774 schrieb Goethe deshalb an das Paar:
Ich muss euch gleich schreiben meine Lieben, meine Erzürnten, dass mirs
vom Herzen komme. Es ist gethan, es ist ausgegeben, verzeiht mir wenn ihr könnt.
- Ich will nichts, ich bitte euch, ich will nichts von euch hören, biss
der Ausgang bestätigt haben wird dass eure Besorgnisse zu hoch gespannt
waren, biss ihr dann auch im Buche selbst das unschuldige Gemisch von
Wahrheit und Lüge reiner an euerm Herzen gefühlt haben werdet. Du hast
Kestner, ein liebevoller Advokat, alles erschöpft, alles mir weggeschnitten,
was ich zu meiner Entschuldigung sagen könnte; aber ich weis nicht, mein
Herz hat noch mehr zu sagen, ob sichs gleich nicht ausdrücken kann.
Ich schweige, nur die frohe Ahndung muss ich euch hinhalten, ich mag gern
wähnen, und ich hoffe, dass das ewige Schicksaal, mir das zugelassen hat, um
uns fester aneinander zu knüpfen. Ja meine besten, ich der ich so durch Lieb
an euch gebunden bin, muss noch euch und euern Kindern ein Schuldner
werden für die böse Stunden die euch meine - nennts wie ihr wollt gemacht
hat. Haltet, ich bitt euch haltet Stand. Und wie ich in deinem letzten Briefe dich
ganz erkenne Kestner, dich ganz erkenne Lotte, so bitt ich bleibt! bleibt in
der ganzen Sache, es entstehe was wolle. - Gott im Himmel man sagt von dir:
du kehrest alles zum besten.
Die zur Herbstmesse 1774 in der Weygandschen Buchhandlung in Leipzig in
zwei Bänden erschienene Ausgabe hatte folgende Titelblätter: