Der 'Herausgeberbericht', d.h. der hier abgesonderte erste Abschnitt davon,
stellt den gegenüber der Erstfassung am stärksten veränderten
Romanteil dar. Er führt zunächst die Bauernburschen-Episode zu Ende,
die in den Briefen vom 30. Mai 1771 und vom 4. September 1772 angelegt worden ist:
den Parallelfall der Ermordung einer Geliebten, auf die wegen äußerer
Hindernisse Verzicht geleistet werden muss. Aber auch ohne diese Hinzufügung
ist dieser Teil noch mehr als doppelt so lang wie der entsprechende Teil des Erstdrucks.
Der Grund: Die Ausführungen über Lotte und Albert fallen hier differenzierter und damit
umfangreicher aus als dort, es ist nicht mehr allein der Blick Werthers, der sie
bestimmt. Zumal die Beschreibung Alberts hatte bei Johann Christian Kestner, der sich
mit ihr natürlich gemeint finden musste, ratlose Bitternis ausgelöst und ihn gleich nach
Erscheinen des Romans zu der Klage gegenüber Goethe veranlasst:
Und das elende Geschöpf von einem Albert! Mag es immer
ein eignes nicht copirtes Gemälde sein sollen, so hat es
doch von einem Original wieder solche Züge (zwar nur von
der Aussenseite, und Gott sei's gedankt, nur von der Aussenseite),
dass man leicht auf den wirklichen fallen kann. Und
wenn Ihr ihn so haben wolltet, musstet Ihr ihn zu so einem
Klotze machen? Damit Ihr etwa auf ihn stolz hintreten und
sagen könntet, seht, was i c h für ein Kerl bin!
Goethe stellte Kestner daraufhin "binnen hier und einem Jahr" eine
Umarbeitung in Aussicht, in der "alles was noch übrig seyn mögte
von Verdacht, Missdeutung pp im schwäzzenden Publicum! obgleich
das eine Heerd Schwein ist, auszulöschen, wie ein reiner Nordwind,
Nebel und Dufft" (Brief vom 21. November 1774). Als er dann - im Mai 1783,
also erst zehn Jahre später - die Umarbeitung in Angriff nahm,
schrieb er an Kestner:
Ich habe in ruhigen Stunden meinen "Werther" wieder vorgenommen
und dencke, ohne die Hand an das zu legen was soviel
Sensation gemacht hat, ihn noch einige Stufen höher zu schrauben.
Dabey war unter andern meine Intention Alberten so zu stellen,
daß ihn wohl der leidenschafftliche Jüngling (=Werther), aber doch der
Leser nicht verkennt. Dies wird den gewünschten und besten
Effeckt thun. Ich hoffe, Ihr werdet zufrieden sein.
In der Erstfassung stellen sich die Dinge so dar, dass Albert nach der
Heirat sein Interesse an Lotte allmählich verliert und diese sich deshalb
die Aufmerksamkeiten Werthers zunehmend gefallen lässt.
Dadurch wird die Stimmung immer gereizter, bis Albert "mit ziemlich
troknen Worten" von ihr verlangt, sie möchte "dem Umgange mit Werthern eine
andere Wendung geben, und seine allzuöfteren Besuche abschneiden".