Sechstes Kapitel
Ein Wagen, der Ottilien brachte, war angefahren. Charlotte ging ihr entgegen; das liebe Kind eilte, sich ihr
zu nähern, warf sich ihr zu Füßen und umfasste ihre Kniee.
Im Februar 1829 hat Goethe gegenüber Eckermann geäußert, es sei in den
Wahlverwandtschaften "kein Strich enthalten, der nicht erlebt, aber kein Strich so, wie
er erlebt" worden sei. Früh hat man deshalb vor allem nach einem Vorbild für Ottilie gesucht, in der man nichts anderes als eine heimliche Liebe Goethes vermutete. Neben Sylvie
von Ziegesar (siehe
GOETHE zum
ERSTEN KAPITEL) wurden mehrere andere junge Frauen als Vorbilder in Betracht gezogen.
Die vergleichsweise deutlichsten Verbindungen lassen sich zu Minna Herzlieb (1789-1865) herstellen. Minna war wie Ottilie ein Waisenkind, als Fünfzehnjährige aufgenommen von dem
Jenaer Buchhändler Friedrich Frommann und seiner Frau, die Goethe gut kannte. Ende 1807 ist er etliche Male bei den Frommanns zu Gast gewesen und hat mehrere Sonette mit Liebesthemen
auf Minna Herzlieb verfasst. Auch ein Weihnachtspäckchen hat er an sie geschickt, und gegenüber Christiane bekannte er im November 1812 aus Anlass einer Wiederbegegnung, sie sei
"immer noch so hübsch und so artig, daß ich mir gar nicht übel nehme, sie einmal mehr als billig geliebt zu haben". Eine wirkliche Annäherung an sie ist aber auszuschließen,
und auch sonst sind die Parallelen zu Ottilie nicht allzu weit gegangen. Obwohl die Frommanns die Wahlverwandtschaften gleich gelesen haben, ist weder von ihnen noch anderen aus diesem Kreis
je geäußert worden, es könnte Minna Herzlieb in ihr gemeint sein.
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Minna Herzlieb im Jahre 1812.
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»Du erinnerst dich«, sagte der Hauptmann, »wie wir auf unserer Reise durch die Schweiz den Wunsch äußerten, eine ländliche sogenannte
Parkanlage recht eigentlich zu verschönern, indem wir ein so gelegnes Dorf ... zur Schweizer Ordnung und Sauberkeit, welche die Benutzung so sehr befördern,
einrichteten.«
Die Erinnerung an eine frühere Reise durch die Schweiz lässt Goethes Aufenthalte dort in den Blick kommen. Besonders seine Reise im Herbst 1779 mit dem Herzog von Sachsen-Weimar, seinem Landesherren, zeigt hier Parallelen. Goethe lobt in seinen Briefen an Frau von Stein mehrmals die Ordnung und Sauberkeit der Schweizer Verhältnisse. "Über alles muss man die schöne Weege preissen, für die, in diesen entfernten Gegenden, der Stand Bern, wie durch den ganzen übrigen Kanton sorgt", schreibt er am 28. Oktober 1779 an sie. Dazu hebt er das Interesse des Herzogs an den Einzelheiten der Einrichtung dieser Verhältnisse hervor, sodass es sicherlich auch Gespräche darüber gegeben hat, wie man das Eine und Andere für Weimar würde übernehmen können.