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Anders als sonst wird in diesem Abschnitt weitgehend unironisch erzählt, nur am Anfang gibt es einige mokante Formulierungen. Der Grund: Spinells 'Tristan'-Begeisterung soll nicht ins Lächerliche gezogen werden, zu ihr hat Thomas Mann die ihm sonst eigene ironische Distanz nicht. Natürlich wäre es ein Leichtes gewesen, die ganze Opernwiedergabe fragwürdig erscheinen zu lassen: durch eingestreute übertriebene Ausrufe, durch Bemerkungen zu verdrehten Augen, einem knarrenden Stuhl, gelegentlich falsch angeschlagenen Tönen usw., doch all dies unterbleibt. Die Tristan-Verehrung adelt Spinell, sie scheint sogar in der Überbeanspruchung Gabriele Klöterjahns nicht verkehrt. Bevor es zu den betreffenden Vorgängen kommt, wird die Sanatoriums-Gesellschaft allerdings noch einige Male in der gewohnten Weise karikiert.
... und die Herren mit den unbeherrschten Beinen waren ganz außer Rand und Band.
Die leitmotivisch gekennzeichneten 'Herren mit den unbeherrschten Beinen' werden hier mit einem weiteren ironischen Attribut belegt:
sie sind 'außer Rand und Band'. Die umgangssprachliche Wendung für das Verhalten von Kindern passt zu 'Herren'
natürlich überhaupt nicht.
Dass aber auch Herrn Klöterjahns Gattin erklärte, daheim bleiben zu wollen, verstimmte allseitig.
Das nüchtern summarische Urteil - 'verstimmte allseitig' - stellt eine ironische Verminderung der behaupteten allgemeinen Verstimmung dar, es
nimmt sie nicht wirklich ernst.
Die 'Schweren' lagen in ihren Zimmern und litten.
Auch hier wird mit der lakonischen Mitteilungsform das Leiden der Schwerkranken ironisch heruntergespielt: es scheint so
wenig von Belang zu sein wie das Zittern von Frierenden oder das Gähnen von Müden.
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Abgesehen davon, dass aus Wagners "Tristan und Isolde" bestimmte Partien des zweiten Aufzuges zitiert werden (siehe unter
ZITATE), ist auch die Szene im Salon selbst der Liebesnacht-Szene des zweiten Aufzugs der Oper nachgebildet. So wie König Marke mit seinem Gefolge unter Hörnerschall zur Jagd aufbricht, bricht die Sanatoriums-Gesellschaft mit 'Schellenklang und Peitschenknall' zu ihrer Schlittenpartie auf, und so wie dort Tristan und Isolde nebst deren Dienerin Brangäne zurückbleiben, bleibt hier Spinell mit Gabriele Klöterjahn und der Rätin Spatz zurück. Diese lässt dann die beiden Wagnerianer im Salon wiederum genauso allein, wie Brangäne das Liebespaar allein lässt, und auch noch das Auftauchen der Pastorin Höhlenrauch kann mit dem zweiten Akt der Oper in Beziehung gesetzt werden. Es beendet die Liebesnacht-Szene, so wie in der Oper die Rückkehr der Jagdgesellschaft sie beendet, und hier wie dort nimmt das Geschehen für das überraschte Paar - oder jedenfalls für einen der Partner - seinen tödlichen Verlauf.

So weit, so kunstvoll, doch mehr als das ist es auch nicht. Alle darüber hinaus in der Sekundärliteratur hergestellten Parallelen zwischen dem Geschehen bei Thomas Mann und dem Geschehen bei Wagner vernachlässigen, dass die Geschichte um Detlev Spinell nicht die 'Tristan'-Geschichte ist. Spinell hat nicht für Klöterjahn um Gabriele Eckhof geworben, sie sich nicht in einem solchen Zusammenhang in ihn verliebt, überhaupt ein Liebesverhältnis zwischen ihr und Spinell sich nicht entwickelt, und schließlich stirbt nicht zuerst er und sie ihm aus Liebe nach, sondern sie stirbt allein und er bleibt am Leben. Hier irgendwelche Beziehungen zu "Tristan und Isolde" zu unterstellen und dann Thomas Manns Leistung darin zu sehen, dass er alles anders gemacht hat, ist abwegig.


Auch literarische Travestien nämlich müssen, um noch welche zu sein, der Vorbild-Geschichte in den Hauptzügen folgen, und das ist hier nicht der Fall. Damit aber sind irgendwelche Handlungsparallelen zwischen der Novelle und der Oper im wahrsten
Sinne des Wortes nebensächlich, sie tragen zum Verständnis der Novelle nichts bei. Nur
ein Element gibt es, in dem sich die beiden Werke auch dem Sinne nach berühren, und das ist der Liebestrank, insofern er bei Thomas Mann wiederkehrt in der gemeinsamen Hingabe an die Musik Richard Wagners. So wie bei Wagner und überhaupt im Tristan-Mythos der Liebestrank Tristan und Isolde unabweislich zueinander führt, so sind Detlev Spinell und Gabriele Klöterjahn in der Aufnahme der Wagner-Oper einander zugetan, und auch sie sind es jenseits aller Vernunft. Man könnte geneigt sein, Spinell wegen seiner 'Verführung' Gabrieles zum Klavierspiel für gewissenlos zu halten, aber das ist nicht gemeint. Die Musik Richard Wagners ist Schicksal, und wenn Gabriele an ihr stirbt und Spinell nicht, so besagt das nur, dass sie dieser Musik noch stärker verfallen ist als er. Klöterjahn und der kleine Anton sind sie nie wirklich etwas angegangen, sie gehörte der Musik, und so stirbt sie auch, indem sie 'ein Stückchen Musik' vor sich hin summt (siehe
Abschnitt 11, Absatz 24). Dies ist es, was Spinell veranlasst, am Ende ihres Klavierspiels vor ihr niederzuknien, und dies auch ist es, was Thomas Mann auf jede Ironie ihr gegenüber verzichten lässt. Wahres Künstlertum ist für ihn niemals lächerlich, und selbst der Halbkünstler Spinell, wo er - wie hier - in diese Sphäre hineinreicht, steht damit auf einer höheren Stufe. Das ist die eigentliche Aussage dieser Szene, nicht irgendeine Aus- oder Umdeutung von Wagners "Tristan und Isolde".