11

Herr Klöterjahn pochte an Herrn Spinells Stubentür; er hielt einen großen, reinlich beschriebenen Bogen in der
Hand und sah aus wie ein Mann, der entschlossen ist, energisch vorzugehen. Die Post hatte ihre Pflicht getan, der Brief war seinen
Weg gegangen, er hatte die wunderliche Reise von 'Einfried' nach 'Einfried' gemacht und war richtig in die Hände des Adressaten
gelangt. Es war vier Uhr am Nachmittage.

Als Herr Klöterjahn eintrat, saß Herr Spinell auf dem Sofa und las in seinem eigenen Roman mit der
verwirrenden Umschlagzeichnung. Er stand auf und sah den Besucher überrascht und fragend an, obgleich er deutlich errötete.

»Guten Tag«, sagte Herr Klöterjahn. »Entschuldigen Sie, dass ich Sie in Ihren Beschäftigungen störe.
Aber darf ich fragen, ob Sie dies geschrieben haben?« Damit hielt er den großen, reinlich beschriebenen Bogen mit der
linken Hand empor und schlug mit dem Rücken der Rechten darauf, sodass es heftig knisterte.
Hierauf schob er die Rechte in die Tasche seines weiten, bequemen Beinkleides, legte den Kopf auf die Seite
und öffnete, wie manche Leute pflegen, den Mund zum Horchen.

Sonderbarerweise lächelte Herr Spinell; er lächelte zuvorkommend, ein wenig verwirrt und halb entschuldigend, führte die Hand zum Kopfe, als besänne er sich, und sagte:

»Ah, richtig ... ja ... ich erlaubte mir ...«

Die Sache war die, dass er sich heute gegeben hatte, wie er war, und bis gegen Mittag geschlafen hatte. Infolge hiervon litt er an schlimmem Gewissen und blödem Kopfe, fühlte er sich nervös und wenig widerstandsfähig. Hinzu kam, dass die Frühlingsluft, die eingetreten war, ihn matt und zur Verzweiflung geneigt machte. Dies alles muss erwähnt werden als Erklärung dafür, dass er sich während dieser Szene so äußerst albern benahm.

»So! Aha! Schön!«, sagte Herr Klöterjahn, indem er das Kinn auf die Brust drückte, die Brauen emporzog, die Arme reckte und eine Menge ähnlicher Anstalten traf, nach Erledigung dieser Formfrage ohne Erbarmen zur Sache zu kommen. Aus Freude an seiner Person ging er wenig zu weit in diesen Anstalten; was schließlich erfolgte, entsprach nicht völlig der drohenden Umständlichkeit dieser mimischen Vorbereitungen. Aber Herr Spinell war ziemlich bleich.

»Sehr schön!«, wiederholte Herr Klöterjahn. »Dann lassen Sie sich die Antwort mündlich geben, mein Lieber, und zwar in Anbetracht des Umstandes, dass ich es für blödsinnig halte, jemandem, den man stündlich sprechen kann, seitenlange Briefe zu schreiben ...«

»Nun ... blödsinnig ...«, sagte Herr Spinell lächelnd, entschuldigend und beinahe demütig ...

»Blödsinnig!«, wiederholte Herr Klöterjahn und schüttelte heftig den Kopf, um zu zeigen, wie unangreifbar sicher er seiner Sache sei. »Und ich würde dies Geschreibsel nicht eines Wortes würdigen, es wäre mir, offen gestanden, ganz einfach als Butterbrotpapier zu schlecht, wenn es mich nicht über gewisse Dinge aufklärte, die ich bis dahin nicht begriff, gewisse Veränderungen ... Übrigens geht Sie das nichts an und gehört nicht zur Sache. Ich bin ein tätiger Mann, ich habe Besseres zu bedenken als Ihre unaussprechlichen Visionen ...«

»Ich habe 'unauslöschliche Vision' geschrieben«, sagte Herr Spinell und richtete sich auf. Es war der einzige Moment dieses
Auftrittes, in dem er ein wenig Würde an den Tag legte.

»Unauslöschlich ... unaussprechlich ... !«, entgegnete Herr Klöterjahn und blickte ins
Manuskript. »Sie schreiben eine Hand, die miserabel ist, mein Lieber; ich möchte Sie nicht in meinem
Kontor beschäftigen. Auf den ersten Blick scheint es ganz sauber, aber bei Licht besehen ist es voller
Lücken und Zittrigkeiten. Aber das ist Ihre Sache und geht mich nichts an. Ich bin gekommen, um Ihnen
zu sagen, dass Sie erstens ein Hanswurst sind, - nun, das ist Ihnen hoffentlich bekannt. Außerdem aber
sind Sie ein großer Feigling, und auch das brauche ich Ihnen wohl nicht ausführlich zu beweisen.
Mein Frau hat mir einmal geschrieben, Sie sähen den Weibspersonen, denen Sie begegnen, nicht ins Gesicht,
sondern schielten nur so hin, um eine schöne Ahnung davonzutragen, aus Angst vor der Wirklichkeit. Leider
hat sie später aufgehört, in ihren Briefen von Ihnen zu erzählen; sonst wüsste ich noch mehr
Geschichten von Ihnen. Aber so sind Sie. 'Schönheit' ist Ihr drittes Wort, aber im Grunde ist es nichts als Bangebüchsigkeit und Duckmäuserei und Neid, und daher wohl auch Ihre unverschämte Bemerkung von den 'verschwiegenen Korridoren', die mich wahrscheinlich so recht durchbohren sollte und mir doch bloß Spaß gemacht hat. Spaß hat sie mir gemacht! Aber wissen Sie nun Bescheid? Habe ich Ihnen Ihr ... Ihr 'Tun und Wesen' nun 'ein wenig erhellt', Sie Jammermensch?
Obgleich es nicht mein 'unausbleiblicher Beruf' ist, hö, hö! ...«

»Ich habe 'unausweichlicher Beruf' geschrieben«, sagte Herr Spinell; aber er gab es gleich wieder auf. Er stand da, hilflos und abgekanzelt, wie ein großer, kläglicher, grauhaariger Schuljunge.

»Unausweichlich ... unausbleiblich ... Ein niederträchtiger Feigling sind Sie, sage ich Ihnen. Täglich sehen Sie mich bei
Tische. Sie grüßen mich und lächeln, Sie reichen mir Schüsseln und lächeln, Sie wünschen mir gesegnete
Mahlzeit und lächeln. Und eines Tages schicken Sie mir solch einen Wisch voll blödsinniger Injurien auf den Hals. Hö, ja,
schriftlich haben Sie Mut! Und wenn es bloß dieser lachhafte Brief wäre. Aber Sie haben gegen mich intrigiert, hinter meinem
Rücken gegen mich intrigiert, ich begreife es jetzt sehr wohl ... obgleich Sie sich nicht einzubilden brauchen, dass es Ihnen
etwas genützt hat! Wenn Sie sich etwa der Hoffnung hingeben, meiner Frau Grillen in den Kopf gesetzt zu haben, so befinden
Sie sich auf dem Holzwege, mein wertgeschätzter Herr, dazu ist sie ein zu vernünftiger Mensch! Oder wenn Sie am Ende
gar glauben, dass sie mich irgendwie anders als sonst empfangen hat, mich und das Kind, als wir kamen, so setzten Sie Ihrer
Abgeschmacktheit die Krone auf! Wenn sie dem Kleinen keinen Kuss gegeben hat, so geschah es aus Vorsicht, weil neuerdings
die Hypothese aufgetaucht ist, dass es nicht die Luftröhre, sondern die Lunge ist, und man in diesem Falle nicht wissen kann ...
obgleich es übrigens noch sehr zu beweisen ist, das mit der Lunge, und Sie mit Ihrem 'sie stirbt, mein Herr!' Sie sind ein Esel!«

Hier suchte Herr Klöterjahn seine Atmung ein wenig zu regeln. Er war nun sehr in Zorn geraten, stach beständig mit dem rechten Zeigefinger in die Luft und richtete das Manuskript in seiner Linken aufs Übelste zu. Sein Gesicht, zwischen dem blonden englischen Backenbart, war furchtbar rot, und seine umwölkte Stirn war von geschwollenen Adern zerrissen wie von Zornesblitzen.

»Sie hassen mich«, fuhr er fort, »und Sie würden mich verachten, wenn ich nicht der
Stärkere wäre ... Ja, das bin ich, zum Teufel, ich habe das Herz auf dem rechten Fleck, während
Sie das Ihre wohl meistens in den Hosen haben, und ich würde Sie in die Pfanne hauen mitsamt Ihrem 'Geist und Wort', Sie
hinterlistiger Idiot, wenn das nicht verboten wäre. Aber damit ist nicht gesagt, mein Lieber, dass ich mir Ihre Invektiven so
ohne weiteres gefallen lasse, und wenn ich das mit dem 'ordinären Namen' zu Haus meinem Anwalt zeige, so wollen wir sehen,
ob Sie nicht Ihr blaues Wunder erleben. Mein Name ist gut, mein Herr, und zwar durch mein Verdienst. Ob Ihnen jemand auf den Ihren
auch nur einen Silbergroschen borgt, diese Frage mögen Sie mit sich selbst erörtern, Sie hergelaufener Bummler! Gegen
Sie muss man gesetzlich vorgehen! Sie sind gemeingefährlich! Sie machen die Leute verrückt! ... Obgleich Sie sich
nicht einzubilden brauchen, dass es Ihnen diesmal gelungen ist, Sie heimtückischer Patron! Von Individuen, wie Sie eins sind,
lasse ich mich denn doch nicht aus dem Felde schlagen. Ich habe das Herz auf dem rechten Fleck ...«

Herr Klöterjahn war nun wirklich äußerst erregt. Er schrie und sagte wiederholt, dass er das Herz auf dem rechten Flecke habe.

»'Sie sangen.' Punkt. Sie sangen gar nicht! Sie strickten. Außerdem sprachen sie, soviel ich verstanden
habe, von einem Rezept für Kartoffelpuffer, und wenn ich das mit dem 'Verfall' und der 'Auflösung' meinem
Schwiegervater sage, so belangt er Sie gleichfalls von Rechts wegen, da können Sie sicher sein! ... 'Sahen
Sie das Bild, sahen Sie es?' Natürlich sah ich es, aber ich begreife nicht, warum ich deshalb den Atem anhalten
und davonlaufen sollte. Ich schiele den Weibern nicht am Gesicht vorbei, ich sehe sie mir an, und wenn sie mir gefallen,
und wenn sie mich wollen, so nehme ich sie mir. Ich habe das Herz auf dem rechten Fl ...«

Es pochte. - Es pochte gleich neun- oder zehnmal ganz rasch hintereinander an die Stubentür, ein kleiner, heftiger, ängstlicher
Wirbel, der Herrn Klöterjahn verstummen machte, und eine Stimme, die gar keinen Halt hatte, sondern von Bedrängnis
fortwährend aus den Fugen ging, sagte in größter Hast:

»Herr Klöterjahn, Herr Klöterjahn, ach, ist Herr Klöterjahn da?«

»Draußen bleiben«, sagte Herr Klöterjahn unwirsch ... »Was ist? Ich habe hier zu reden.«

»Herr Klöterjahn«, sagte die schwankende und sich brechende Stimme, »Sie müssen kommen ...
auch die Ärzte sind da ... oh, es ist so entsetzlich traurig ...«

Da war er mit einem Schritt an der Tür und riss sie auf. Die Rätin Spatz stand draußen. Sie hielt ihr Schnupftuch
vor den Mund, und große, längliche Tränen rollten paarweise in dieses Tuch hinein.

»Herr Klöterjahn«, brachte sie hervor ... , »es ist so entsetzlich traurig ... Sie hat so viel Blut aufgebracht,
so fürchterlich viel ... Sie saß ganz ruhig im Bette und summte ein Stückchen Musik vor sich hin, und da kam es, lieber Gott,
so übermäßig viel ...«

»Ist sie tot?«, schrie Herr Klöterjahn ... Dabei packte er die Rätin am Oberarm und zog sie auf der Schwelle hin
und her. »Nein, nicht ganz, wie? Noch nicht ganz, sie kann mich noch sehen ... Hat sie wieder ein bisschen Blut aufgebracht?
Aus der Lunge, wie? Ich gebe zu, dass es vielleicht aus der Lunge kommt ... Gabriele!«, sagte er plötzlich, indem die Augen
ihm übergingen, und man sah, wie ein warmes, gutes, menschliches und redliches Gefühl in ihm hervorbrach. »Ja, ich
komme!«, sagte er, und mit langen Schritten schleppte er die Rätin aus dem Zimmer hinaus und über den Korridor davon.
Von einem entlegenen Teile des Wandelganges her vernahm man noch immer sein rasch sich entfernendes »Nicht ganz, wie? ...
Aus der Lunge, was? ...«