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[Abschnitt 1]
Der einleitende Abschnitt bildet mit der Angabe, dass der Erzähler (naheliegend: Theodor Storm) die nachfolgende Geschichte "vor reichlich einem halben Jahrhundert" im Hause seiner Urgroßmutter kennengelernt habe, eine Art äußeren Rahmen, der allerdings am Ende nicht geschlossen wird, d.h. in die Gegenwart von 1888, die Zeit der Veröffentlichung der Novelle, kehrt die Erzählung nicht zurück. Der Rückbezug auf eine 'Quelle' von etwa 1835 ist aber nicht unwichtig. Er erklärt sich aus dem grundsätzlichen Anspruch Storms, ein 'Realist' zu sein. Alles, was die Novelle an Irrationalem enthält, wird dadurch dem Erzähler der Zeitschrift zugewiesen, und dieser bekommt die Schimmelreiter-Geschichte - und auch ihre Spuk-Elemente - noch wieder durch den Schulmeister übermittelt. So wird alles nur wie vom Hörensagen mitgeteilt, und die vernünftig-aufgeklärte Haltung des Erzählers Storm steht nicht in Frage.
Dass Storm tatsächlich auf eine solche Quelle zurückgreift, wird unter ZITATE dargelegt.
[Abschnitt 2]
Sprung zu Abschnitt 2 Absatz 1 des Novellentextes
Es war im dritten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts, an einem Oktobernachmittag - so begann der damalige Erzähler -, als ich bei starkem Unwetter ...
Dass der Erzähler von 1838 seine Erzählung mit einer solchen Zeitabstands-Formulierung beginnt, ist eigentlich unlogisch. Zu erwarten wäre ein "Es ist jetzt drei Jahre her, dass ich ..." oder eine bestimmte 1830er Jahreszahl, so wie die Ursprungsgeschichte in den 'Pappeschen Lesefrüchten' ja auch einsetzt: "Es war in den ersten Tagen des Monats April, im Jahre 1829 ..." (siehe unter ZITATE). Falls es sich hier nicht bloß um einen perspektivischen Fehler Storms handelt (was das Nächstliegende ist), könnte hinter dieser Formulierung die Absicht stecken, die ganze Geschichte sofort in eine weit entfernte Vergangenheit zu versetzen, so dass auch Wahrscheinlichkeits-Einwände nicht mehr aufgerufen werden.
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Sprung zu Abschnitt 2 Absatz 6 des Novellentextes
... mir war, als streifte mich der fliegende Mantel, und die Erscheinung war, wie das erste Mal, lautlos an mir vorübergestoben ...
Ein bemerkenswerter Unterschied zu der Ursprungsgeschichte ist, dass bei Storm die Erscheinung des Schimmelreiters lautlos kommt und geht und insgesamt so wesenlos bleibt, dass auch das Pferd des Erzählers sie nicht wahrnimmt. Mit anderen Worten: es kann sich auch um eine Einbildung handeln. Dort - in der Ursprungsgeschichte - jedoch ist diese Erscheinung nicht bloß zu hören, sondern auch das Pferd scheut vor ihr zurück, es gibt also den gespenstischen Reiter wirklich (siehe unter ZITATE). So handfest wollte Storm die Existenz dieser Erscheinung aber offenbar nicht behaupten, sie hätte dann ja auch den Erzähler mehr beunruhigen und beschäftigen müssen.
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Sprung zu Abschnitt 2 Absatz 8 des Novellentextes
Das Wasser war, trotz des schützenden Deiches, auffallend unbewegt; der Reiter konnte es nicht getrübt haben; ich sah nichts weiter von ihm.
Die Formulierung "trotz des Deiches ... unbewegt" hat dazu geführt, dass man auf einen Irrtum Storms geschlossen und den Text in vielen Ausgaben in "trotz des Deiches ... bewegt" abgeändert hat. Da sowohl im Manuskript wie im Erstdruck 'unbewegt' steht, liegt eine andere Erklärung jedoch näher. Die Formulierung soll offenbar bedeuten: 'Das Wasser war - auch in Anbetracht des schützenden Deiches - auffallend unbewegt; der Reiter konnte es nicht getrübt, d.h. er konnte es nicht berührt haben (obwohl er gerade an dieser Stelle verschwunden war).' Mit anderen Worten: Eigentlich wäre eine bewegte Fläche zu erwarten gewesen, aber es ist das unheimliche Gegenteil der Fall. Der Reiter scheint in dieses Wasser wie in ein Jenseits eingetaucht zu sein, zumal es nun sogar besonders ruhig daliegt.
Was den Ort seines Verschwindens angeht, so erklärt er sich erst aus dem Ende der Novelle. Es handelt sich genau um die Stelle, an der Hauke Haien beim Deichbruch den Tod gefunden hat. Als nämlich später im Krug erneut berichtet wird, der Schimmelreiter sei gesehen worden, heißt es auf die Frage 'Wo?': "Es ist ja nur die eine Wehle; in Jansens Fenne, wo der Hauke-Haien-Koog beginnt." (Siehe Abschnitt 11, Absatz 5). Damit verschwindet der Schimmelreiter in eben dem Wasserloch, das zurückgeblieben ist, als 1756 der alte Deich neben dem neuen gebrochen ist, also dort, wo auch Hauke Haien mit Frau und Kind in den Fluten umkommt.
Da dieser Zusammenhang in der bloßen Lektüre sicherlich nicht wahrgenommen wird, eignet er sich gut für eine Aufgabe: Was bedeutet das Verschwinden des Schimmelreiters in einer bestimmten Wehle (Abschnitt 2), wenn man berücksichtigt, wo diese Wehle liegt? (Abschnitte 11 und 23)? Das Fazit: Storm klärt den Spuk um den Schimmelreiter keineswegs auf, sondern er stützt ihn, indem er hinter dem Rücken des Erzählers Dinge stattfinden lässt, die eigentlich erörtert werden müssten. Der Erzähler kommt ja auf sein Deicherlebnis nicht mehr zurück, denn die spätere Aufklärung, die ursprünglich dazu erfolgen sollte, hat Storm gestrichen (sie unter GESTALTUNG zu Abschnitt 24).
[Abschnitt 3]
Sprung zu Abschnitt 3 Absatz 11 des Novellentextes
Er sah nicht um; aber er ging auch nicht schneller und kam erst spät nach Hause; doch niemals soll er seinem Vater oder einem andern davon erzählt haben.
Der Schulmeister, der die Geschichte erzählt, tritt hier in die Rolle eines 'allwissenden Erzählers' ein und wird sie auch im weiteren beibehalten. Er kennt mitunter die Gedanken und Empfindungen Hauke Haiens und kann sogar Erlebnisse mitteilen, von denen dieser selbst 'niemals' zu jemandem gesprochen haben soll. Storm benutzt den gewissermaßen privaten Blick auf seinen Helden jedoch nicht dazu, ihn dem Leser menschlich näher zu bringen, sondern es werden im Gegenteil nur die unheimlichen Züge an ihm dadurch hervorgehoben. Insofern beteiligt sich der Schulmeister als Erzähler an der Dämonisierung der Gestalt, die er vorgeblich gegen den Aberglauben in Schutz nehmen will.
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Sprung zu Abschnitt 3 Absatz 15 des Novellentextes
"Ihr braucht Euch nicht zu fürchten, Deichgraf!", erwiderte der kleine Erzähler, "ich habe ihn nicht geschmäht und hab auch dessen keine Ursach"; und er sah mit seinen kleinen, klugen Augen zu ihm auf.
Auch hier lässt sich der Schulmeister auf den Aberglauben (oder eben auch Glauben) seiner Umgebung ein, dass Hauke Haien als 'Schimmelreiter' in solchen Sturmnächten wiederkehrt. Eine 'aufgeklärte' Reaktion wäre es, wenn er zu den Wahrnehmungen oder Befürchtungen der anderen nur den Kopf schüttelte.
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Sprung zu Abschnitt 3 Absatz 54 des Novellentextes
Ihr einer etwas hagerer Arm hing schlaff herab, die andere Hand schien im Rücken nach dem Eisenring zu greifen, von denen je einer zu beiden Seiten der Tür in der Mauer war ... Die Dirne schien von dort ihre Augen über den Deich hinaus nach dem Meer zu haben, wo an dem stillen Abend die Sonne eben in das Wasser hinabsank ...
In der für Storm typischen Form werden hier die Empfindungen der Beteiligten nur in Andeutungen wiedergegeben. Elke Volkerts bemerkt die Annäherung Hauke Haiens und sucht nach einem Halt, der ihr für die zu erwartende Begegnung die richtige Fassung gibt. Gleichzeitig tut sie so, als interessiere sie sich für ihn nicht. Er aber durchschaut das und stellt für sich fest, dass sie 'nicht dösig' sei, wie es vielleicht ihres Vaters wegen von ihr heißt, sondern dass sie wach auf alles und zumal auf ihn reagiert. Seine Bemerkung, wohin sie denn mit ihren großen Augen gucke, ist ihr allerdings doch ein bisschen zu kess, und so gibt sie ihm nicht nur eine würdig-belehrende Antwort, sondern taxiert ihn anschließend auch noch als 'so was schlanterig', womit sie den Abstand zu ihm als dem Jüngeren wieder herstellt. Der gegenseitigen Sympathie tut das aber keinen Abbruch.
[Abschnitt 8]
Sprung zu Abschnitt 8 Absatz 25 des Novellentextes
... schon weit vom Wurfplatz, verdeckten sie die Flügel einer Silbermöwe, die, ihren Schrei ausstoßend, vom Deich herüberkam ...
Storm erweckt hier bewusst den Eindruck, dass es bei diesem Wurf nicht mit rechten Dingen zugehe - der Möwenschrei liest sich wie ein Zeichen außerirdischer Kräfte, die mit Hauke Haien im Bunde sind. Da aus dem gewonnenen Wettkampf die Verlobung mit Elke Volkerts folgt, die ihm dann wiederum das Deichgrafenamt einträgt, wird schon hier sein Deichbau mit etwas Unheimlichem in Verbindung gebracht.
Ein Mövenschrei ertönt auch wieder in Abschnitt 11, als in der Gaststube davon berichtet wird, dass der Schimmelreiter draußen unterwegs sei (siehe unter GESTALTUNG zu Abschnitt 11).
 
[Abschnitt 9]
Sprung zu Abschnitt 9 Absatz 4 des Novellentextes
Ein Jahr nach jenem Winterfesttag hatte Ole Peters seinen Dienst gekündigt ...
Sprung zu Abschnitt 9 Absatz 5 des Novellentextes
Nach einem andern Jahr aber begann er gegen Elke davon zu reden, sein Vater werde kümmerlich ....
Storm bündelt in diesem Abschnitt zwei Jahre der Handlung, sodass Hauke Haien nunmehr 20 Jahre alt ist. Für eine Heirat oder auch nur Verlobung ist er damit aber noch immer zu jung, und es läge nahe, dass sich bei der älteren Elke Heiratsgedanken anderer Art einstellen. Wegen der Zeitraffung kommen Fragen danach für den Leser jedoch nicht auf.
 
[Abschnitt 11]
Sprung zu Abschnitt 11 Absatz 1 des Novellentextes
Ein Möwenschrei war gegen das Fenster geschlagen ...
Sprung zu Abschnitt 11 Absatz 03 des Novellentextes
... wir beide haben es gesehen, Hans Nickels und ich: der Schimmelreiter hat sich in den Bruch gestürzt!
Wie bei Haukes Siegeswurf beim Eisboseln in Abschnitt 8 (siehe unter GESTALTUNG zu Abschnitt 8) ertönt wieder ein Möwenschrei als Zeichen des Unheimlichen, denn nunmehr wird bestätigt, was der Rahmenerzähler zu Anfang selbst wahrnimmt: der 'Schimmelreiter' ist in einer Wehle verschwunden, die von einem Deichbruch hinter dem Deich zurückgeblieben ist.
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Sprung zu Abschnitt 11 Absatz 6 des Novellentextes
Es ist ja nur die eine Wehle; in Jansens Fenne, wo der Hauke-Haien-Koog beginnt ...
Diese Wehle befindet sich aber eben dort, wo 1756 Hauke Haien mit seiner Familie umgekommen ist, nämlich am Übergang des alten Deiches zu dem neuen Deich und Koog. Mit anderen Worten: Der Schimmelreiter verschwindet genau an der Stelle, wo Hauke Haien sein Leben beendet bzw. sich geopfert hat. Seine Wiederkehr bei Sturmfluten ist also eine Art Fortsetzung dieses Selbstopfers, denn er warnt damit ja vor einem Deichbruch. Andererseits bricht bei seinem Erscheinen auch immer irgendwo ein Deich (siehe letzter Abschnitt, Absatz 4), d.h. er ist auch ein Unglücksbote. So ist auch seine Wiederkehr Ausdruck seiner Doppelnatur - Segen und Fluch sind gleichermaßen mit seinem Wesen verbunden.
Mit dem hier gebrauchten Namen Hauke-Haien-Koog wird vorweggenommen, dass dieser als Deichgraf etwas Dauerhaftes leisten wird, und damit ein gewisses Gegengewicht gegen seine Wiederkehr als 'Gespenst' geschaffen. Auch damit deutet sich an, dass Storm in seinem Urteil über ihn nicht eindeutig sein will.
Seit 1961 gibt es einen Hauke-Haien-Koog aber auch tatsächlich: südlich von Fahretoft (bei Husum) wurde ein neu eingedeichtes Stück Land so benannt, um den vielen namenlosen Deichgrafen dieses Küstenstriches damit ein Denkmal zu setzen.
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Sprung zu Abschnitt 11 Absatz 15 des Novellentextes
... er wiederholte es sich mehr als zu oft, er sei der rechte Mann.
Die Formulierung 'mehr als zu oft' könnte kritisch gemeint sein: Hauke wiederholt sich die prophetische Idee nicht bloß zu oft (was schon zu viel des Guten wäre), sondern sogar mehr als zu oft. Das passt allerdings nicht zu seiner sonst eher nüchternen Art, und so meint es hier wohl: er wiederholte es sich 'nur gelegentlich, als dass er es sich zu oft wiederholte'. Sprachlogisch ist die Formulierung aber problematisch.
Sprung zu Abschnitt 11 Absatz 15 des Novellentextes
... so wuchsen in seinem jungen Herzen neben der Ehrenhaftigkeit und Liebe auch die Ehrsucht und der Hass. Aber diese beiden verschloss er tief in seinem Innern; selbst Elke ahnte nichts davon.
Auch hier fällt wieder die Allwissenheit des Erzählers auf. Obwohl Hauke Haien seine Empfindungen so tief in sich verschießt, dass nicht einmal Elke etwas davon bemerkt, kann der Schulmeister ein ganzes Jahrhundert später davon Mitteilung machen.
 
[Abschnitt 12]
Sprung zu Abschnitt 12 Absatz 1 des Novellentextes
Elkes Vorahnung war in Erfüllung gegangen; eines Morgens nach Ostern hatte man den Deichgrafen Tede Volkerts tot in seinem Bett gefunden ...
Es wird in der Lektüre nicht auffallen - aber dieses 'eines Morgens nach Ostern' kann erst drei Jahre nach der Verlobung sein, da Hauke Haien nunmehr 24 Jahre alt wird oder gerade geworden ist (siehe Absatz 17). Auch Elkes Antwort auf die Frage des Pfarrers, wann sie sich denn verlobt habe, lässt den Zeitabstand mit der Antwort, es sei 'schon vor geraumer Zeit' gewesen, im Dunkeln (siehe Absatz 28). Storm musste hier aber zu einer solchen weiteren großen Zeitraffung greifen, weil eine Heirat Hauke Haiens und zugleich seine Wahl zum Deichgrafen vor seinem 24. Lebensjahr äußerst unwahrscheinlich gewesen wäre.
 
[Abschnitt 13]
Sprung zu Abschnitt 13 Absatz 17 des Novellentextes
Sieben Jahr im Amt ...
Die 'mehreren Jahre', die der Erzähler zu Anfang dieses Abschnittes überspringt, werden im Selbstgespräch Hauke Haiens als sieben Jahre näher bestimmt - wiederum ein Beispiel für die 'Allwissenheit' des Schulmeisters. Den Plan zum Bau des neuen Deiches fasst Hauke Haien also mit 31 Jahren, und als er den Plan einreicht, im nachfolgenden Frühjahr, wird er 32 Jahre alt.
[Abschnitt 15]
Sprung zu Abschnitt 15 Absatz 46 des Novellentextes
"... Und da, Frau, hab ich dem Burschen in die dargebotne braune Hand, die fast wie eine Klaue aussah, eingeschlagen ... und als ich den Kopf wandte, sah ich den Slowaken, der stand noch sperrbeinig, die Arme auf dem Rücken, und lachte wie ein Teufel hinter mir drein."
Sprung zu Abschnitt 15 Absatz 2 des Novellentextes
"... aber den Schimmel reit der Teufel!" - "Und ich!", setzte Hauke lachend hinzu.
Schon früh ist bemerkt worden, dass es sich bei dem Kauf des Schimmels um eine Art Teufelspakt handelt: Hauke Haien schlägt in die 'Kralle' des Slowaken ein und erwirbt ein Pferd, das 'des Teufels' ist. In Verbindung mit dem Thema des Deichbaues lässt sich daraus leicht eine Parallele zu Goethes 'Faust' gewinnen Auch dieser baut am Ende seines Lebens einen Deich und wird mit der Erfüllung, die er darin findet, fast eine Beute des Teufels. Er hatte in seinem Pakt dem Teufel - Mephisto - ja zugesagt, dass dieser ihn 'in Fesseln schlagen' dürfte, wenn er zu irgend einem 'Augenblick' sagen würde: "Verweile doch, du bist so schön!". Seine letzten Worte bei der Fertigstellung des Deiches lauten:
Im Innern hier ein paradiesisch Land,
Da rase draußen Flut bis auf zum Rand,
Und wie sie nascht, gewaltsam einzuschießen,
Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen.
Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluss:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muss.
Und so verbringt, umrungen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn,
Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Zum Augenblicke dürft' ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Äonen untergehn. -
Im Vorgefühl von solchem hohem Glück
Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick.
(Goethe, Faust II, 5. Akt)
Faust wird dank Gretchens Fürsprache noch gerettet - aber ist auch Hauke Haien ein Faust? Selbst wenn Storm mit dem Kauf des Schimmels einen Teufelspakt für ihn andeutet - mit Goethes Faust ist er kaum verwandt. Dieser handelt aus Erkenntnisdrang, er will wissen, 'was die Welt im Innersten zusammenhält', und um seine Seele ringen Himmel und Hölle. Hauke Haien jedoch handelt aus Ehrgeiz. Er will sich mit dem neuen Deich hauptsächlich einen Namen machen und nebenher wohlhabend werden, ein über seine soziale Umwelt hinausreichendes Ziel hat er nicht. Allenfalls ist er ein 'Faust ohne Transzendenz', wie Ernst Loeb ihn genannt hat, und deshalb trotz des angedeuteten Teufelspaktes weder für die Hölle noch für den Himmel bestimmt.
Benutzte Literatur: Loeb,  Faust ohne Transzendenz 
                  1963
Der Pakt ist vielmehr nur ein erzählerisches Mittel, uns seine Gestalt unheimlich werden zu lassen. Würden Schulmeister wie Rahmenerzähler irgendwelche Teufelsgedanken offen als Gerede abtun, hätte man weiter keinen Grund, sich zu beunruhigen. So aber, da sie - vorgeblich vernünftig - solche Gedanken selbst nahelegen, erhält die Gestalt des Schimmelreiters einen geheimnisvoll-abgründigen Zug. Dies ist jedoch keineswegs bloß ein Schauer-Element. Die Erwägung, dass der Deichbau vom Teufel sein könnte, drückt durchaus etwas von Storms eigenen Befürchtungen in dieser Hinsicht aus. Das Meer ist in vielen seiner Novellen eine unkalkulierbare, dämonisch-göttliche Naturgewalt, und es könnte eben auch frevelhaft sein und sich eines Tages rächen, dass man ihm durch Deiche hat Einhalt gebieten wollen.
Nichts mit Storms Intentionen zu tun hat, was eine jüngere 'dekonstruktivistische' Deutung aus dem Teufelspakt macht. Nach Volker Hoffmanns 1990 erschienener Interpretation ist das gesamte Leben Hauke Haiens ein Teufelspakt, weil es eine "Fortpflanzungsverhinderung zugunsten der eigenen Werkschöpfung" zum Ziel hat. Die 'drei Männererzähler' der Novelle hätten sich miteinander verbündet, diese lebens- und frauenfeindliche Geschichte mit teuflischer Kunstfertigkeit als Erfolgsgeschichte darzustellen, um - ja, um letztlich Storms eigenes schlechtes Gewissen als Werkstifter dahinter zu verstecken. Jedoch: eine der 'natürlichen Lebenslaufnorm' zuwider laufende Werkstifter- oder Künstlerexistenz, die Storm damit angeblich hat tarnen wollen, wäre das letzte gewesen, was dieser sich vorzuwerfen gehabt hätte - er war zweimal verheiratet und hatte acht Kinder.
Benutzte Literatur: Hoffmann, Teufelspaktgeschichte 
                  1990
[Abschnitt 16]
Sprung zu Abschnitt 16 Absatz 9 des Novellentextes
... aber den Deich, den Hauke Haien nach ihm von Gott verliehener Einsicht projektiert und bei der Herrschaft für euch durchgesetzt hat, den wird niemand von euch Lebenden brechen sehen ...
Im Gegensatz zu der Andeutung, dass Hauke Haien mit dem Teufel im Bunde steht, wird hier - wenn auch nur von einem Beteiligten - die Mithilfe Gottes bei dem Deichprojekt betont. In dieser Ambivalenz steht die ganze Schimmelreiter-Geschichte: der Deichbau könnte - als Eingriff in Gottes Schöpfung - ein Werk des Teufels sein, er ist aber auch vielleicht ein Werk nach Gottes Willen im Sinne des Bibelwortes, dass der Mensch sich die Erde untertan machen solle (1. Buch Mose, 1,28).
Dieselbe Ambivalenz hat in politisch-weltanschaulicher Hinsicht Jost Hermand herausgestellt. Für ihn ist Hauke Haien der typische gründerzeitliche 'Übermensch', der große Einzelne, der der Welt seinen Willen aufzwingt und sich mit einer genialen Leistung in der Geschichte einen Namen macht. Sein Stolz, seine Beharrlichkeit, sein Gefühl, ein Berufener zu sein, seine Unnahbarkeit und sein überlegener Wille - dies alles kennzeichnet ihn als eine Kraftnatur, wie sie in dieser Zeit zumal in Bismarck den Menschen vor Augen stand. Gleichzeitig sieht Hermand ihn aber auch kritisch beurteilt, denn für jedes Phänomen werden dem Leser zwei Erklärungen nahegelegt: eine idealistisch-heroisierende und eine realistisch-analytische, wodurch Hauke Haien und das in ihm verkörperte Heldenbild in ein eigenartiges Zwielicht geraten. Es zeigen sich auch Rücksichtslosigkeit, Jähzorn, Hass, Berechnung und in entscheidenden Momenten Irrtümer, sodass man durchaus zu einer anderen Meinung über ihn kommen kann. Die Andeutung des Teufelspaktes ist für Hermand nur die letzte Zuspitzung dieser kritischen Sicht, so wie Storm ja auch Bismarck immer kritisch gegenüber stand.
Benutzte Literatur: Hermand, Kritik oder Ideal des 
                  gründerzeitlichen Übermenschen?, 1963
[Abschnitt 17]
Sprung zu Abschnitt 17 Absatz 18 des Novellentextes
... Ich weiß ja wohl, du kannst nicht allezeit, wie du willst, auch du nicht ...
Mit der Wiedergabe dieses Gebetes wird ein weiteres Mal mit der Möglichkeit gespielt, dass Hauke Haien mit dem Teufel im Bunde ist. Denn wer außer dem Teufel könnte die Allmacht Gottes begrenzen? Oder soll damit ausgedrückt werden, dass Hauke Haien die Gesetzmäßigkeiten des Lebens, so wie Gott es geschaffen hat, für nicht beliebig aufhebbar hält? Dann würde aus diesem Gebet gerade Ehrfurcht vor Gottes Schöpfung sprechen. Wie immer - eine eindeutige Antwort ist nicht zu geben.
[Abschnitt 20]
Sprung zu Abschnitt 20 Absatz 12 des Novellentextes
... Du strafst ihn, Gott der Herr! Ja, ja, du strafst ihn! ...
Der Eindruck, dass das schwachsinnige Kind eine Strafe Gottes für Hauke Haiens Hochmut (oder seinen Pakt mit dem Teufel) ist, wird nicht nur an dieser Stelle erweckt. Mit seiner Auflehnung gegen die Menschen, aber auch gegen die Natur, von der er sagt, sie könne nichts Rechtes - siehe Abschnitt 3, Absatz 1 -, scheint er Gottes Allmacht geradezu herauszufordern. Und ist es nicht eine durch und durch ironische Wendung in dieser Geschichte, dass die 'geborenen Rechner', als die Hauke Haien und Elke Volkerts bezeichnet werden (siehe Abschnitt 5, Absatz 1), ein Kind haben, das nicht bis drei zählen kann? Storm kennzeichnet Hauke Haien zwar nicht als gottlos, aber doch als nicht demütig, und so soll sich auch an ihm erweisen, dass 'Hochmut vor dem Fall' kommt.
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Sprung zu Abschnitt 20 Absatz 14 des Novellentextes
Fielen zufällig Haukes und Elkes Augen auf dies wunderliche Vierblatt, das nur durch einen gleichen Mangel am selben Stängel festgehalten wurde ...
Auch in dieser Formulierung schwingt ein gewisser Sarkasmus mit: Trin Jans, Wienke, der Hund und die Taube bilden ein Kleeblatt, das der Mangel an Verstand verbindet.
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Sprung zu Abschnitt 20 Absatz 29 des Novellentextes
... aber du kannst doch alles, Vater?" - Ein ferner Donner rollte gegen den Wind herauf "Hoho?", rief Hauke, "da kommt es!
Es ist die schwachsinnige Tochter, die sagt und glaubt, ihr Vater 'könne alles'. Und wie zur Antwort kommt der Donner vom Himmel, der von Hauke freilich wiederum nicht in Demut, sondern mit einem 'Hoho' aufgenommen wird. Auch hier wird so wieder das Frevelhafte seiner Haltung angedeutet.
[Abschnitt 21]
Sprung zu Abschnitt 21 Absatz 16 des Novellentextes
Ja, Kind, das alles ist lebig, so wie wir; es gibt nichts anderes; aber der liebe Gott ist überall.
Im Unterschied zu gewissen Andeutungen zuvor wird hier wieder auf die Gottgläubigkeit Hauke Haiens hingewiesen. Vor allem aber dient der Abschnitt dazu, dem Aberglauben abzusagen, der sich in der volkstümlichen Überlieferung vorfindet.
[Abschnitt 23]
Sprung zu Abschnitt 23 Absatz 12 des Novellentextes
... der Schimmel ist wie toll; die Zügel könnten reißen ...
Hier und im weiteren wird wieder der Hintergrund des Teufelspaktes angedeutet: für den Schimmel (oder den Teufel) scheint die Stunde der Abrechnung mit Hauke Haien gekommen.
[Abschnitt 24]
Sprung zu Abschnitt 24 Absatz 03 des Novellentextes
... einen tüchtigen Kerl, nur weil er uns um Kopfeslänge überwachsen war, zum Spuk und Nachtgespenst zu machen das geht noch alle Tage.«
An dieser Stelle folgte ursprünglich noch eine längere Passage zur Beurteilung des Deichgrafen durch die Nachwelt, die Storm jedoch aus dem für die 'Deutsche Rundschau' schon gesetzten Text wieder herausnahm. Sie lautet:
Es soll nämlich, und ich darf das nicht vergessen, damals doch noch einer auf dem neuen Deich zurückgeblieben sein, während die Übrigen südwärts nach der Stadt und von dort nach ihrem Kirchdorf auf der Geest zurückgeflohen waren, wo sie außer ihrem Deichgrafen nebst Weib und Kind die ganze Marsch beisammenfanden.
Der Zurückgebliebene aber sollte jener Carsten, der frühere Dienstjunge des Deichgrafen, gewesen sein, ein ebenso abergläubiger als, wenn seine Neugierde ins Spiel kam, waghalsiger Geselle, und derzeit noch im Dienst des Ole Peters. Er wollte an der Binnenkante des Deiches dem letzten Ritte seines früheren Herrn gefolgt sein; und einen ganzen Sack voll hatte er bei seiner Rückkehr auszukramen. 'Hu aber, Frau Vollina', sagte er zu seiner Wirtin, und das Weib kreuzte schon in behaglichem Schauder die Hände über ihren Leib, 'da begab sich etwas! Ich lag dicht hinter ihm am Deich; da stieß er dem Schimmel die Sporen in die Seiten und riss das Maul auf und schrie; verstehen konnt' ich's nicht, der Lärm umher war gar zu grauslich! Aber es wird wohl sein dummes 'Vorwärts!' gewesen sein, womit er allezeit sein Tier zu treiben pflegte. Ja, vorwärts! Was meint Ihr, Frau Vollina?'
'Ja, was mein' ich?' plapperte das Weib. 'So sprich doch Carsten! '
'Da ist nicht gut zu sprechen, Frau!' fuhr Carsten fort: 'So arg ich meine Augen aufriss, ich sah itzt weder den Schimmel noch ein ander Pferd; nur den Reiter sah ich, und es war noch, als ritte er mit seinen Beinen in der Luft; aber ein schwarzes Unding war über ihm und hielt ihn in seinen Krallen. Dann begann ein fürchterliches Hülfsgeschrei, das lauter war als Sturm und Wasser; aber, Frau, wen der Teufel in den Krallen hat, dem kann nur Gott zu Hülfe kommen!'
'Und dann? Und dann?' rief Frau Vollina.
'Ja Frau; dann sah ich weiter nichts; ich hörte nur die großen Wasser, die in unsren Koog hinabstürzten, und lief - denn mir war plötzlich die Angst ins Gemüt gefahren - auf dem Deich zur Stadt hinunter, um nur mein eigen bisschen Leben aus dieser schreckbaren Einsamkeit zu retten. Aber - und er dämpfte seine Stimme und Frau Vollina neigte ihren runden Kopf zu seinen Lippen - das Schrecklichste sah ich gestern Abend; ich war bei hellem Mondschein auf den Deich hinaus, bis gerad vor Jeverssand - - das weiße Pferdsgerippe, das fort war, so lang der Schimmel in des Deichgrafs Stall gestanden - es liegt wieder dort! Geht nur hin und sehet selbst!'
Aber Frau Vollina stieß einen Schrei aus: 'Herr Gott und Jesus, seid uns gnädig!'
- - Das«, sagte nach einer Weile der Schulmeister, »ist das Ende von Hauke Haiens Geschichte, wenn Sie sich dieselbe im Dorfe wollen erzählen lassen. Und so ist es immer weiter gegangen, und der arme Deichgraf, der tüchtigsten einer, die wir hier gehabt haben, ist allmählich zu einer Schreckgestalt erniedrigt worden: bei Hochfluten müssen seine verstäubten Atome sich zu einem Scheinbild wiederum zusammenfinden; das muss auf seinem Schimmel über die Deiche galoppiren und, wenn Unheil kommen soll, sich in den alten Bruch hinabstürzen. Credat judaeus Apella! [Das möge der Judäer Apelles glauben!] pflegten wir auf der Universität zu sagen.«
Meines eignen Abenteuers gedenkend, wollte ich für den Gespensterglauben einen bescheidenen Vorbehalt erbitten; aber mein Gastfreund fiel mir in die Rede: »Ja, ja, werter Herr«, sagte er, »Sie wollen einwenden, Sie haben ihn selbst gesehen! Was Sie gesehen haben, weiß ich nicht: es könnte auch ein Leibhaftiger, das heißt, ein Mensch gewesen sein; dort draußen auf dem Sophienhof, der Besitzer hat einen Bruder bei sich, einen alten wunderlichen Junggesellen; die Leute halten ihn für einen Narren, er selbst treibt Astronomie und hält sich für einen großen Wetterkundigen. Der hat ein hager Angesicht und ein paar tiefliegende Augen und reitet am liebsten im fliegenden Sturm auf den Deichen hin und wieder. Ob er einen Schimmel hat, weiß ich nicht zu sagen; unmöglich ist das nicht. Aber - einerlei, mag reiten, wer da will, nur den Deichgraf Hauke Haien lasst mir aus dem Spiel; der hat wie kaum ein Andrer seine Ruh' verdient!«
Benutzte Literatur: Laage, Der ursprüngliche Schluss 
                  , 1981
Durch die Streichung dieser schon in Druck gegebenen Abschnitte hat Storm in zwei entscheidenden Punkten die eigentlich beabsichtigte Lüftung des Geheimnisses um den Schimmelreiter wieder zurückgenommen:
1. Der Bericht des Knechtes über das Ende Hauke Haiens, d.h. dass dieser auf dem Deich buchstäblich vom Teufel geholt worden sei, ist so ersichtlich eine Fantasie, dass damit auch die früheren Andeutungen eines Paktes mit dem Teufel unglaubwürdig geworden wären.
2. Die Mitteilung von dem wunderlichen Junggesellen auf dem Sophienhof, der am liebsten bei Sturm auf den Deichen herumreitet, ließe auch von der Spukerscheinung nichts übrig.
So weit wollte Storm mit der Aufklärung aber nicht gehen, d.h. die irrationalen Momente sind ein gewollter Bestandteil dieser Novelle und sollten bei ihrer Behandlung nicht außer Acht gelassen oder gar aus ihr herausinterpretiert werden.