Es war in den ersten Tagen des Monates April, im Jahre 1829 - so erzählte mir mein Freund -, als Geschäfte von Wichtigkeit mein persönliches Erscheinen in Marienburg erforderlich machten; ich mußte mich also zu einer Reise dahin entschließen, so gern ich sie auch bis zur schönern Jahreszeit aufgeschoben hätte, denn wer selten reiset, macht so eine Partie lieber bei schönem Wetter; allein die Notwendigkeit der Sache machte, daß ich meine Reise beschleunigen mußte.
Ein gemietetes Reitpferd stand um vier Uhr nachmittags vor meiner Türe; ich ließ den Braunen nicht lange warten, schwang mich hinauf, und nach wenigen Minuten hatte ich Danzig im Rücken.
Mein Weg längs der Chausee ging gut, und das einzige Hindernis, welches ich zu bekämpfen hatte, war das kalte, unangenehme, regnigte Wetter.
Durchfroren und durchnäßt kam ich bei ziemlicher Dunkelheit in Dirschau an, stieg im erstgelegenen Gasthof ab, um ein wenig zu ruhen, meinem sich einfindenden Appetit durch einen Imbiß zu begegnen und durch einen erwärmenden Trunk meine Glieder zu erfrischen; fragte unter anderm den Wirt, wie es mit der Weichsel stände, und bekam zur Antwort: "Schlecht; Ihr Hinüberkommen wird nicht allein beschwerlich, sondern auch gefährlich sein"; doch ich durfte mich nicht abschrecken lassen, weil ich nach meinem Bestimmungsorte mußte, und womöglich wollte ich dort noch an demselben Abend eintreffen; ich bezahlte dem Wirte meine Rechnung und eilte weiter; aber angekommen an der Weichsel, wurde ich von den Fährknechten zu meinem Schrecken unterrichtet, daß das heutige Hinüberkommen für keinen Preis ausführbar sei, wenn ich nicht mit Gewalt in die Arme des Todes eilen wolle; auch sähe ich zum Teil die Unmöglichkeit der Sache wohl selber ein; doch wurde mir der Vorschlag gemacht, daß ich bis zur Güttländer Fähre reiten solle, weil dort das Hinüberschaffen vielleicht noch zu bewerkstelligen sein würde. Ich ließ mir dieses nicht zweimal sagen, griff in die Zügel, lenkte um, und fort ging's zur Güttländer Fähre. -
Dunkler und dunkler wurde es rings um mich, nur hin und wieder drang das Leuchten eines Sternes durch die Nebelwolken, fremd war mir die in schwarze Schatten gehüllte Gegend, kein menschliches Wesen erblickte ich, und nur das Brausen des Sturmes und das Geprassel des durch das Wasser immer höher gehobenen und geborstenen Eises waren meine schaurigen Begleiter. - Da plötzlich höre ich dicht hinter mir das rasche Trappeln eines Pferdes und freudig, in dem Wahne, einen Gesellschafter nahe zu haben, blicke ich mich erwartungsvoll um und sehe - nichts -, wohl aber trabt es immer schärfer und näher, mein Brauner schnaubt und stampft, kaum vermochte mein spitziger Sporn ihn vorwärts zu treiben, und ein kalter Schauer überlief meinen ganzen Körper; doch beruhigte ich mich, da mein sonderbarer Begleiter verschwunden zu sein schien; als ich ihn aber plötzlich wieder, ohne ihn zu sehen, vor mir hersprengen hörte, war es, als wollten mir meine Glieder die Dienste versagen, ein Fieberfrost durchrieselte mich, und mein Pferd wurde höchst unruhig; was aber die Unheimlichkeit noch mehr vermehrte, war: daß dieses unbegreifliche Wesen mir plötzlich und pfeilschnell vorüber zu sausen schien - so hörte sich das ungewöhnliche Geräusch wenigstens an, welches sich wieder allmählich verlor, um aber, wie es schien, mit erneuter Schnelligkeit zurückzukehren; es wieder hören, dicht hinter mir haben, die anscheinende Gestalt eines: weißen Pferdes, mit einem schwarzen, menschenähnlichen Gebilde darauf sitzend, mir im fliegenden Galopp vorbeireiten zu sehen, war eins; mein Brauner machte einen Seitensprung, und es fehlte nicht viel, so wären wir beide den Damm, ohne es zu wollen, hinabgestürzt.
Ich habe die letzten Feldzüge mitgemacht, feindliche Kugeln töteten neben mir meine besten Kameraden, vom Kanonendonner bebte die Erde, doch mich machte nichts erbeben; aber hier auf dem Weichseldamme, ich gestehe es zu meiner Schande, zitterte ich an allen Gliedern. -
Da hörte ich in der Fernde das Bellen eines Hundes und wurde das Blinken eines Lichtes gewahr. Ha! dachte ich, da werden sich auch Menschen befinden, wie du einer bist; schnell ritt ich dem Lichtscheine entgegen und kam an eine sogenannte Wachtbude; ich stieg ab und fragte die darin versammelte Menge, ob ich bei ihnen die Nacht über verweilen könnte - denn für heute war ich des Reisens satt -, und meine Frage wurde mit Ja beantwortet.
Froh, ein schützendes Obdach gefunden zu haben, brachte ich zuerst mein Pferd in Sicherheit, setzte mich dann ruhig in eine Ecke, pflegte mich, so gut es sich tun ließ und hörte die Gespräche der Landleute, die hier auf Eiswache ware, mit an; ließ aber wohlbedachtig, um mich nicht Neckereien preiszugeben, nichts von meinem überstandenen Abenteuer merken.
Da war's, als rauschte irgendetwas dem Fenster vorbei. Mit einem Schreckensausruf sprangen mehrere Männer auf, und einer von ihnen sagte: "Es muß irgendwo große Gefahr sein, denn der Reiter auf dem Schimmel läßt sich sehen", und der größte Teil eilte hinaus.
Der Reiter nun befremdete mich nicht, wohl aber die gemachte Bemerkung, weshalb ich den neben mir sitzenden alten Mann ersuchte, mir hierüber eine genügende Erklärung zu geben, worauf ich folgende Auskunft erhielt:
"Vor vielen Jahren, da sich auch unsere Vorfahren hier einst versammelt hatten, um auf den gefahrdrohenden Eisgang genau achtzuhaben, bekleidete ein entschlossener, einsichtsvoller und allgemein beliebter Mann aus ihrer Mitte das Amt eines Deichgeschworenen. An einem jener verhängnisvollen Tage entstand eine Stopfung des Eises, mit jeder Minute stieg das Wasser und die Gefahr; der erwähnte Deichgeschworene, der einen prächtigen Schimmel ritt, sprengte auf und nieder, überzeugte sich überall selbst von der Gefahr und gab zu deren Abwehr die richtigsten und angemessensten Befehle; dennoch unterlagen die Kräfte der schwachen Menschen der schrecklichen Gewalt der Natur, das Wasser fand durch den Damm einen Durchweg, und schrecklich war die Verheerung, die es anrichtete. Mit niedergeschlagenem Mute kam der Deichgeschworene in gestrecktem Galopp beim Deichbruche an, durch den sich das Wasser mit furchtbarer Gewalt und brausendem Getöse auf die so ergiebigen Fluren ergoß; laut klagte er sich an, auf diese Seite nicht genug achtgegeben zu haben, sah darauf still und unbewegt dieses Schrecken der Natur einige Augenblicke an; dann schien ihn die Verzweiflung in vollem Maße zu ergreifen, er drückt seinem Schimmel die Sporen in die Seiten, ein Sprung - und Roß und Reiter verschwinden in dem Abgrund. - Noch scheinen beide nicht Ruhe gefunden zu haben, denn sobald Gefahr vorhanden ist, lassen sie sich noch immer sehen." -
Ich setzte am andern Morgen meine Reise weiter fort, sah den Reiter nicht wieder, wohl aber die schreckliche Verheerung, die das Wasser im obengenannten Jahre angerichtet hatte.
Hiermit schloß mein Freund, beteuerte die Wahrheit der Sache und schien durch mein Kopfschütteln verdrießlich werden zu wollen.
Es ist davon auszugehen, dass sich Storm tatsächlich bloß aus der Erinnerung auf diese Geschichte bezieht. Er hat sich wiederholt
darüber geäußert, dass er sich an die Geschichte erinnere, nach ihr gesucht, die Quelle für sie aber nicht habe finden können.
Weiteres siehe unter ENTSTEHUNG.
Hans Momsen, geboren 1735 in Fahretoft und gestorben in Fahretoft 1811, gehört zu den merkwürdigsten Männern, die unser
Vaterland aufzuweisen gehabt und nach ihrem Tode den Nachkommen darzustellen hat; während sie leben thun sie es selber.
Was ist er gewesen? Ein Landmann und eines Landmannes Sohn, der als ein solcher sich zu einem Mathematiker und zu einem Künstler gemacht hat.
Er hat sich dazu gemacht, das ist in einem so genauen Wortsinn zu nehmen, wie bei nicht Vielen, die auch etwas aus sich oder sich zu etwas gemacht haben.
Die Schule des Orts kann sich Momsens als ihres Zöglings nicht rühmen, im Gegentheil, sein Schullehrer hatte gar kein Wohlgefallen daran, daß
der Schüler schön ritzen und pricken konnte, wie seine Risse und Figuren genannt wurden. Das Haus hob ihn auch so wenig, daß der Vater
vielmehr höchst unzufrieden damit war, wenn der Sohn zeichnete, goß, löthete, drechselte. Und Privatstunden hat Momsen nicht eine einzige
gehabt; wer sollte sie ihm geben in Fahretoft? Doch der Schmid daselbst war sein Freund.
Wie meistens die ersten Anreize, die dem Geist eine Richtung geben, im Verborgenen gelegen sind, also bei Momsen auch, indessen, was ihn insonderheit
für die Mathematik ein- und hingenommen hat, darüber findet sich eine Nachricht. Sein Vater, der etwas vom Landmessen verstand, zeichnete einmal
die Figur eines gemessenen Stück Landes. Der Sohn sah zu und fragte den zeichnenden und berechnenden Vater einmal, warum dieß eben so und
nicht anders wäre. Die Frage schien dem Vater nicht übel, er konnte sie aber nicht beantworten, die Theorie ging ihm ab, und sagte: Suche auf dem
Boden unter meinen Büchern da eins heraus, das Euklid betitelt ist, das wird dir sagen, was du verlangst. Er fand den Euklid, aber der war in einer Sprache
geschrieben, die er nicht verstand, in holländischer. Mit Hülfe einer holländischen Fibel und einer holländischen Bibel ward er aber bald der
Sprache mächtig, dagegen die Figuren machten ihm ziemlich lange zu schaffen. Wo er ging und stand, trug er seinen Euklid bei sich, und studirte ihn so
fleißig, daß er in seinem vierzehnten Jahr ihn doch völlig inne hatte. Daneben trieb er viele andre Dinge, bauete kleine Mühlen,
Schiffe, arbeitete in Stahl, Messing, Kupfer und Blei. Dem Vater gefiel das wenig und um die Grillen, wie ers nannte, dem Sohn recht gründlich
auszutreiben, schickte er ihn nach der Confirmation, im Sommer 1752, an den Deich, wo er von Ostern bis Martini den ganzen Tag Erde schieben mußte.
Allein hier auch setzte er seine Studien fort in den Zwischenstunden, und eine Nacht um die andere wandte er für seine wissenschaftlichen und mechanischen
Arbeiten an. Im Winter darauf war er fleißig besonders in Verfertigung verschiedener Instrumente, Meßketten, Boussolen, Bestecke u. a. m.,
die alle sich durch Genauigkeit und Schönheit auszeichneten. [...] Auch Uhren vielerlei Art hat er gemacht, auch eine mit einem Glockenspiel und eine Seeuhr,
in spätem Jahren auch eine niedliche Orgel. Er spielte selbst einen vierstimmigen Choral, bediente sich aber der Ziffern, da er in seinen
spätern Jahren die Noten nicht mehr lernen mochte; die Theorie der Musik kannte er gründlich. Wie er früh die holländische Sprache
gelernt hatte, so lernte er später und so nach gerade, wie er zu den Büchern in andern Sprachen kam, Dänisch, Französisch, Englisch
und, versteht sich auch Latein, er hat sogar ein kleines Werk über Astronomie zu seinem Vergnügen aus dem Lateinischen ins Deutsche
übersetzt. Geographie, Geschichte, Naturlehre, Anthropologie, diese Wissenschaften waren Momsen unbekannt eben nicht, auch las er in seinem
Alter mit Vergnügen englische Bücher über die Religion, doch bewegte sein Geist sich vornehmlich in der Astronomie, Geometrie,
Trigonometrie, Algebra, Hydraulik, Optik, Gnomonik, Mechanik und Navigation. [...]
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Rembrandt: Der verlorene Sohn (1669)
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