[Vorrede zum Zweiten Band]
... es ereignet sich nichts mehr unter ihnen, was der beschaulichen Aufzeichnung würdig wäre, und es ist daher an der Zeit, in ihrer
Vergangenheit und den guten lustigen Tagen der Stadt noch eine kleine Nachernte zu halten ...
Wie schon in der Vorrede zum ersten Band der 'Leute von Seldwyla' stellt Keller fest, dass sich die Gegenwart mit ihren prosaischen Verhältnissen
für eine poetische Behandlung nicht mehr eigne. Konnte früher der 'Realist' wenigstens ausnahmsweise noch poesiegeeignete Konstellationen in der
Wirklichkeit entdecken (siehe unter GESTALTUNG zu
"Romeo und Julia auf dem Dorfe"), so
gelingt jetzt nicht einmal mehr das. Nur von den Ausnahmefällen der Vergangenheit lässt sich Kellers Meinung nach noch
poetisch-realistisch erzählen. Dem Vorhalt, dass seine Geschichten
nicht realistisch seien, sah er sich allerdings trotzdem
ausgesetzt (siehe unter GESTALTUNG zum
4. Teil).
[Erster Teil]

"Kleider machen Leute" ist eine durch und durch didaktische Erzählung, d.h. sie will belehren und eine 'Moral' vermitteln. Doch
welche Moral? Geht es um die Täuschbarkeit der Menschen durch Äußerlichkeiten wie ein gutes Aussehen und vornehme
Kleidung? Oder geht es um die Verführbarkeit der Menschen zur Unredlichkeit, wenn sie durch zufällige Umstände einen Vorteil
davon haben? Also 'Kleider machen Leute' oder 'Gelegenheit macht Diebe'?

Auch eine flüchtige Lektüre wird ergeben, dass Keller beides im Sinn hat, also mal mehr die eine, mal mehr die andere Schwäche
aufs Korn nimmt. Das erschwert es dem Leser, sich mit einer der Seiten zu identifizieren, und so ist die Geschichte zumal bei Schülern
nicht unbedingt beliebt. Doch was für den Sympathiewert ein Nachteil ist, ist für die nähere Befassung mit dem Text ein Vorteil.
Der Abstand, in den man zu dem erzählten Geschehen immer wieder gerät, erleichtert es auch, die Erzählweise selbst
zu beobachten, und das lohnt sich mehr, als dem Autor bloß seine Urteile nachzusprechen oder noch einmal zu erklären, was der Text
deutlich genug selbst schon erklärt.

Es soll also hauptsächlich auf den gleichsam springenden Erzähler-Standort geachtet
werden. Er zeigt sich nicht bloß an den wechselnden negativen Bewertungen mal Strapinskis, mal der Goldacher, sondern auch an der Art
und Weise, wie Keller mit seinen positiven Urteilen umgeht. Wo immer ihm sein Wohlwollen zu deutlich gerät, fällt er sich mit einer trockenen
Bemerkung gleichsam selbst ins Wort und nimmt auf diese Weise auch dem Leser die Meinung, dass irgend etwas rundum in Ordnung sein könnte.
Derselbe nahm das Anerbieten dankbar und bescheiden an, worauf der Wagen rasch mit ihm von dannen rollte ...
Die Bewertung Strapinskis fällt zunächst ganz positiv aus, er ist in allem ein anständiger Mensch, der seine Stellung in der Welt
richtig einschätzt und sich bescheiden mit ihr zufrieden gibt.
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Den einzigen Tag, wo wir keinen Gast erwarten und nichts da ist, muss ein solcher Herr kommen! Und der Kutscher hat ein Wappen auf
den Knöpfen, und der Wagen ist wie der eines Herzogs!
Der Wirt und nach ihm nahezu alle Goldacher lassen sich durch Äußerlichkeiten täuschen und werden darin unentwegt
lächerlich gemacht. Selbst die deutlichsten Signale, dass dieser Reisende kein
vornehmer Mann ist, werden auf Grund von dessen Kleidung übersehen oder missdeutet, die Schilderung ihres Verhaltens wird zu
einer einzigen Satire auf die falschen gesellschaftlichen Maßstäbe.
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Doch verwickelte er sich jetzt in die erste selbsttätige Lüge, weil er in dem verschlossenen Raume ein wenig verweilte, und er betrat hiermit
den abschüssigen Weg des Bösen.
Der Übergang vom passiven Hinnehmen der Verwechslung zu ihrer aktiven Ausnutzung könnte deutlicher nicht markiert werden: Strapinski
wird erstmals schuldig durch ein kurzes und durch die entsprechende Verrichtung nicht notwendiges Verweilen auf der Toilette. So schmal kann die Grenze
sein, soll das besagen, die Ehrlichkeit von Unehrlichkeit scheidet.
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Da beging der Schneider den zweiten selbsttätigen Fehler, indem er aus Gehorsam Ja statt Nein sagte, und alsobald verfügte sich der
Waagwirt persönlich in den Keller ...
Zwar wird die Tugend des Gehorsams noch entschuldigend zugunsten Strapinskis angeführt, aber mit seinem Ja hat er eine weitere, noch schwerere
Verfehlung begangen: er hat, wissend, dass er nicht bezahlen kann, etwas bestellt.
[Zweiter Teil]
Nur Melcher Böhni, der Buchhalter, als ein geborener Zweifler, rieb sich vergnügt die Hände und sagte zu sich selbst: "Ich sehe es
kommen, dass es wieder einen Goldacher Putsch gibt ..."
Melcher Böhni, der einzige, der sich nicht blenden lässt, wird keineswegs dafür gelobt, wie eigentlich zu erwarten wäre, sondern
als 'geborener Zweifler' und wegen seiner Schadenfreude eher noch mehr abgelehnt als die nur naiven Goldacher.
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... während er bisher nichts getan hatte, ... begann er nun unwillkürlich etwas gesuchter zu sprechen und mischte allerhand polnische
Brocken in die Rede, kurz, das Schneiderblütchen fing in der Nähe des Frauenzimmers an, seine Sprünge zu machen und seinen
Reiter davonzutragen.
Mit der weiteren Anpassung an die ihm zugeschriebene Rolle fällt auch das Urteil über Strapinski abfälliger aus. Sein
Schneiderblut - lächerlich verkleinert zu 'Schneiderblütchen' - fängt an, 'seinen Reiter davonzutragen', was bedeuten soll, dass
er sich Nettchen gegenüber, dieser stutzerhaft gekleideten Kleinstädterin, nicht mehr in der Hand hat. Dass es sich bei ihr um eine
- vorerst jedenfalls - so banale 'Nettigkeit' handelt, setzt ihn nur noch mehr herab.
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Aber dennoch empfand er dies Glück und sagte sich zum Voraus: Ach, einmal wirst du doch in deinem Leben etwas vorgestellt und neben
einem solchen höheren Wesen gesessen haben.
Nettchen als 'höheres Wesen' anzusehen bedeutet auch wiederum eine ihn verkleinernde Verkennung.
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... er hatte einst einige Wochen im Polnischen gearbeitet und wusste einige polnische Worte, sogar ein Volksliedchen auswendig, ohne ihres
Inhalts bewusst zu sein, gleich einem Papagei.
Der Vergleich mit einem Papagei lässt von dem vormalig bescheidenen, sympathischen jungen Mann kaum mehr etwas übrig.
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... und Nettchen sagte gerührt: "Ach, das Nationale ist immer so schön!"
Nicht nur die Beifall klatschenden Herren, auch und besonders Nettchen blamiert sich mit ihrer Zustimmung.
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Doch der Herr Graf fiel ihm ebenso erschrocken in den Arm und sagte bewegt: "Lassen Sie, es darf nicht sein! Man muss meine Spur
verlieren für einige Zeit", setzte er hinzu, selbst betreten über diese Erfindung.
Der 'Herr Graf' ist eine ironische Herabsetzung Strapinskis, doch dass er 'selbst betreten' ist über seine Erfindung, lässt
wieder etwas von seiner ursprünglichen sympathischen Bescheidenheit erkennen.
[Dritter Teil]
Diese Leute waren nichts weniger als lächerlich oder einfältig, sondern umsichtige Geschäftsmänner, mehr schlau als
vernagelt; allein da ihre wohlbesorgte Stadt klein war und es ihnen manchmal langweilig darin vorkam, waren sie stets begierig auf eine Abwechslung ...
Fast als täten ihm seine Herabsetzungen leid, nimmt Keller ein Gutteil davon hier wieder zurück, indem er sachlich erklärt, wie es zu der
Fehleinschätzung der Goldacher kommt.
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... und Strapinski schritt mit gutem Anstand und doch bescheiden hinaus, seinen Mantel sittsam zusammennehmend. Das Schicksal machte ihn
mit jeder Minute größer.
Nicht nur die Goldacher, auch Strapinski erscheint nunmehr weniger lächerlich. Er weiß nach und nach die Rolle auszufüllen, in die
man ihn hineingedrängt hat, gewinnt also wirklich an Statur, auch wenn der Begriff 'Schicksal' für diesen Vorgang etwas ironisch
klingt.
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Alles dieses machte einen wunderbaren Eindruck auf Strapinski; er glaubte, sich in einer andern Welt zu befinden. Denn als er die Aufschriften
der Häuser las, dergleichen er noch nicht gesehen ...
Auch sein naives Staunen über das Erscheinungsbild von Goldach gibt Strapinski etwas von seiner Unschuld zurück, auch wenn es
nicht ganz logisch ist, dass er sich so wundert. Goldach soll ja ebenso wie Seldwyla eine für die Schweiz typische Stadt sein, d.h.
Hausbenennungen dieser Art sollten sich hier wie dort finden. Erklärend könnte man allenfalls anführen, dass er erst jetzt, wo
er nicht mehr als Arbeitssuchender unterwegs ist, auf diese Benennungen aufmerksam wird. Aber natürlich will Keller vor allem selbst
diese Eigentümlichkeit der Schweizer Städte (in Berlin z.B. gab es dergleichen überhaupt nicht) karikaturistisch verdeutlichen.
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Mit jedem Tage wandelte er sich, gleich einem Regenbogen, der zusehends bunter wird an der vorbrechenden Sonne. Er lernte in Stunden,
in Augenblicken, was andere nicht in Jahren, da es in ihm gesteckt hatte wie das Farbenwesen im Regentropfen.
Ein zweites Mal werden Strapinskis Fähigkeiten lobend hervorgehoben. Damit erscheint es nachgerade richtig, dass ihm diese Chance, sich zu
einem vollkommeneren Menschen zu entwickeln, eingeräumt wird.
[Vierter Teil]
... und es ist mit Tadel hervorzuheben, dass es ebenso viel die Furcht vor der Schande, als armer Schneider entdeckt zu werden und
dazustehen, als das ehrliche Gewissen war, was ihm den Schlaf raubte.
Mit der moralisierenden Bemerkung soll wohl mehr der Form genügt als ein wirklicher Tadel ausgesprochen werden, denn das
'ehrliche Gewissen' ist von der 'Furcht vor Schande' ja nicht deutlich zu trennen. Im Weiteren überwiegt auch die Hervorhebung von Strapinskis
guten Vorsätzen, und es ist nur seiner Liebe zu Nettchen zuzuschreiben, wenn er sie nicht auf dem direktesten Wege verwirklicht.
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Wie konnte er diesem Wesen nun eine solche Entwicklung bereiten? Wie konnte er das Schicksal, das ihn gewaltsam so erhöht hatte, so
frevelhaft Lügen strafen und sich selbst beschämen?
Aus der zuvor übertrieben mit Schmuck behängten Kleinstädterin wird nun 'dieses Wesen', das Strapinski nicht zu enttäuschen
wagt - es soll ersichtlich die Liebesszene, auf die die Geschichte zusteuert, von den früheren Abträglichkeiten nicht mehr berührt werden.
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... und sein Mantel umschlug die schlanke, stolze, schneeweiße Gestalt des Mädchens wie mit schwarzen Adlerflügeln; es
war ein wahrhaft schönes Bild, das seine Berechtigung ganz allein in sich selbst zu tragen schien.
Der Satz zeigt wiederum Zwiespalt an, in dem sich Keller dem Geschehen gegenüber befindet. Nettchen ist jetzt eine 'stolze, schneeweiße Gestalt',
die von Strapinski 'wie mit schwarzen Adlerflügeln' umarmt wird, aber zu diesem 'wahrhaft schönen Bild' wird nur trocken bemerkt, dass
es 'seine Berechtigung ganz allein in sich selbst zu tragen schien'. So kann nur jemand sprechen, der sich jedes Mitempfinden versagt und
es auch dem Leser nicht zugestehen will.
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Strapinski aber verlor in diesem Abenteuer seinen Verstand und gewann das Glück, das öfter den Unverständigen hold ist.
Auch dieser Satz verbindet einander widersprechende Vorstellungen. Eigentlich ist als Aussage zu erwarten, dass Strapinski, weil er in dieser Situation
seinen Verstand verliert, es ewig zu bereuen hat. Dass er mit Nettchen 'das Glück' gewinnt, ist - den Erzähler beim Wort genommen - bis zu diesem
Moment nicht zu vermuten. Aber man merkt natürlich an der demonstrativ ironischen Formulierung, dass ihm das Paar sympathisch ist und
sich die früheren abträglichen Bemerkungen über die beiden erledigt haben.
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Aus einem duftig bereiften Walde heraus brach ein Wirrwarr von bunten Farben und Gestalten und entwickelte sich zu einem Schlittenzug,
welcher hoch am weißen Feldrande sich auf den blauen Himmel zeichnete ...
Schon deutsche Zeitgenossen Kellers haben das Unwahrscheinliche dieses Aufzuges beanstandet, der mit einem Schlitten-Korso, eigens angefertigten
mehrere Meter hohen Figuren und einstudierten Scharaden zu weiter nichts dient, als einen Schneider zu blamieren, der
sich der Hochstapelei schuldig gemacht hat. Keller hat sich Theodor Storm gegenüber damit verteidigt, dass solche Auszüge in der
Schweiz nicht einmal als etwas Besonderes auffielen, weil es jeder erlebt hat (Brief vom 25.6.1878).
An eine solche Alltäglichkeit möchte man allerdings doch nicht glauben, zumal Keller eine Schwäche für solche 'Schnurren', wie er es nannte,
in einem anderen Zusammenhang freimütig eingestanden hat. In einem Brief an Paul Heyse vom 27. Juli 1881 schreibt er:
Es existiert seit Ewigkeit eine ungeschriebene Komödie in mir, ... deren derbe Szenen ad hoc sich gebärden und in meine
fromme Märchenwelt hereinragen. Bei allem Bewußtsein ihrer Ungehörigkeit ist es mir alsdann, sobald sie unerwartet da sind, nicht
mehr möglich, sie zu tilgen. Ich glaube, wenn ich einmal das Monstrum von Komödie wirklich hervorgebracht hätte, so wäre ich von dem
Übel befreit. ... Die Unwahrscheinlichkeit betreffend, ... so ist sie in allen Fällen die gleiche. Im stillen nenne ich dergleichen die Reichsunmittelbarkeit
der Poesie, d.h. das Recht, zu jeder Zeit, auch im Zeitalter des Fracks und der Eisenbahnen, an das Parabelhafte, das Fabelmäßige ohne
weiteres anzuknüpfen, ein Recht, das man sich nach meiner Meinung durch keine Kulturwandlungen nehmen lassen soll.

Eine solche fabelhaft-unwahrscheinliche Konstruktion liegt auch hier vor, weil einerseits diese Entlarvungs-Aktion viel zu bombastisch ausfällt, als
dass man sie noch für glaubhaft halten könnte, und weil andererseits sowohl Strapinski wie auch die Goldacher auf der Stelle hätten begreifen
müssen, was mit ihr bezweckt wird. Aber natürlich rechnet man einer so willentlich märchenhaften Erfindung das nicht vor.
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"... der wie ein Raphael aussieht und unsern Dienstmägden, auch der Pfarrerstochter so wohl gefiel, die freilich ein bisschen
übergeschnappt ist!"
Dass man entweder Dienstmagd oder 'ein bisschen übergeschnappt' sein muss, um an einem solchen Schönling Gefallen zu finden,
ist die letzte kleine Bosheit, die sich der Erzähler Strapinski sowie auch Nettchen gegenüber erlaubt. Im Weiteren wird ihr Liebesverhältnis
nicht mehr infrage gestellt.
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Da stand er langsam auf und ging mit schweren Schritten hinweg, die Augen auf den Boden gerichtet, während große Tränen aus
denselben fielen.
Strapinski erscheint mit dieser Demaskierung jetzt weit mehr gestraft, als er es verdient, obwohl nur das eintritt, was ihm
für seinen 'abschüssigen Weg des Bösen' vorhergesagt wird (siehe
Erster Teil).
[Fünfter Teil]
... und nun war er ein Betrüger geworden dadurch, dass die Torheit der Welt ihn in einem unbewachten und sozusagen wehrlosen
Augenblicke überfallen und ihn zu ihrem Spielgesellen gemacht hatte.
Der Erzähler wirbt nun geradezu um Verständnis für das Handeln Strapinskis und entschuldigt ihn überdies durch
seine ehrliche Reue. Denn anders als betrügerische Landesfürsten, Priester, Professoren, Künstler oder Kaufleute, die allesamt
Schlimmeres verbrechen und nicht bereuen, ist Strapinski über seine Verfehlung so unglücklich, dass er am liebsten sterben möchte.
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Da man aber, wenn man weint, fast immer zugleich auch die Nase schnäuzen muss, so sah sie sich doch genötigt, das
Taschentuch zu nehmen, und tat einen tüchtigen Schnäuz, worauf sie stolz und zornig um sich blickte.
Um die Rührung nicht überhand nehmen zu lassen, wendet sich Keller in einer für ihn typischen Weise einer ernüchternden
Äußerlichkeit zu, die in diesem Falle auch tatsächlich eine Wendung in Nettchens Verhalten mit sich bringt.
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Und doch war gleichzeitig ihre Seele wie in tiefer, schwerer, unglücklicher Vergessenheit befangen. Was sind Glück und Leben!
Von was hängen sie ab? ... Solche mehr geträumte als gedachte Fragen umfingen die Seele Nettchens ...
Das zunächst als ziemlich einfältig dargestellte Nettchen hat nunmehr eine 'Seele', die tiefer Gedanken und Empfindungen fähig ist,
und so vorbereitet wird auch ihr großmütiges und besonnenes Handeln begreiflich.
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... der schlanke Leib und die geschmeidigen Glieder, wohl geschnürt und bekleidet, alles sagte noch in der Erstarrung, am Rande
des Unterganges, im Verlorensein: Kleider machen Leute!
An dieser Stelle wird besonders deutlich, was auch zuvor schon immer mitläuft: dass es - entgegen dem wiederholten Sprichwort - nicht nur die
Kleider sind, die Strapinskis gesellschaftlichen Erfolg ausmachen, sondern auch sein schönes Gesicht, sein Wuchs, sein gefälliges Auftreten.
Keller, dem das alles fehlte, will sich offenbar nicht völlig eingestehen, dass die Natur ebenso sehr an der Zuteilung gesellschaftlicher Chancen
beteiligt ist wie die Kleidung. Eine Generation später wird Thomas Mann dies in seinen "Bekenntnissen des Hochstaplers Felix Krull"
(erschienen 1955, konzipiert schon ab 1910) zum Kernpunkt einer ganz ähnlichen Geschichte machen. Für Felix Krull gilt, dass er in jeder
Kleidung gefällt, und seine Überzeugung ist, dass sich der wahre Adel des Menschen erst im Zustand der Nacktheit zeigt.
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"Trinken Sie dies", sagte Nettchen, die sich wieder gesetzt hatte, "es wird Ihnen gesund sein!"
An der Sie-Anrede wird der Abstand deutlich, den Nettchen für ihr 'Verhör' zu Strapinski herstellt, sie möchte ihm nicht
vorzeitig anzeigen, dass sie ihm verzeihen könnte.
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"Ja, jetzt ist es mir klar und deutlich vor Augen, wie es gekommen wäre! Ich wäre mit dir in die weite Welt gegangen ..."
In seiner Vorstellung noch immer ihr Bräutigam, fällt Strapinski zurück in das Du, das zugleich Nettchen gegenüber ein Liebesbekenntnis ist.
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"Meine Mutter war, ehe sie sich verheiratet hatte, in Diensten einer benachbarten Gutsherrin und mit derselben auf Reisen und in
großen Städten gewesen ..."
Mit der hier nachgetragenen Jugendgeschichte wird zusätzlich um Verständnis für Strapinskis Neigung zum 'Höheren'
geworben, sodass die früheren Vorwürfe gegen ihn endgültig hinfällig werden.
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In der Tat hatten sich die zunächst den Schläfen und über der Stirne liegenden Locken Nettchens leise bewegt ... Die allzeit etwas
kokette Mutter Natur hatte hier eines ihrer Geheimnisse angewendet, um den schwierigen Handel zu Ende zu führen.
Der 'schwierige Handel' ist wiederum eine solche sachliche Wendung, wie sie Keller der Gefahr überhandnehmender
Sentimentalität entgegenzusetzen pflegt.
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So feierte sie erst jetzt ihre rechte Verlobung aus tief entschlossener Seele, indem sie in süßer Leidenschaft ein Schicksal
auf sich nahm und Treue hielt.
Auf diesen pathetischen Satz folgt unmittelbar anschließend die Erklärung, dass sie 'keineswegs so blöde war, ihr Schicksal nicht
auch ein wenig zu lenken zu wollen'. Auch hier nimmt Keller von einer rein positiven Wertung sofort wieder etwas zurück.
[Sechster Teil]
Dabei wurde er rund und stattlich und sah beinah gar nicht mehr träumerisch aus; er wurde von Jahr zu Jahr geschäftserfahrener ...
dass sich sein Vermögen verdoppelte und er nach zehn oder zwölf Jahren mit ebenso vielen Kindern, die inzwischen Nettchen, die
Strapinska, geboren hatte, ... nach Goldach übersiedelte und daselbst ein angesehener Mann ward.
Nachdem sich bereits in der Zusammenfassung des weiteren Geschehens ein unsentimentaler Ton durchsetzt, kehrt Keller mit diesem
Schluss zu derselben kühlen und fast schon sarkastischen Behandlung des Falles zurück, die am Anfang vorherrscht. Nach
einem Dutzend Ehejahren und ebenso vielen Kindern ist Nettchen nur noch 'die Strapinska', was für den Schweizer Horizont natürlich
etwas herabsetzend Polnisches hat. Der unfreiwillige Junggeselle Gottfried Keller spricht sich damit tröstend zu, dass es keinen Sinn hat, nach
irgendwelchen Nettchens Ausschau zu halten, weil ja doch bald Strapinskas aus ihnen werden.