Zweites Kapitel
Ich bin im Jahre 1553 geboren und habe meinen Vater nicht gekannt, der wenige Jahre später auf den Wällen von St. Quentin fiel.
St. Quentin = Stadt in Nordfrankreich, die sich 1557 gegen eine spanische Invasion verteidigte, aber unterlag. Die Verteidigung leitete der Admiral Gaspard de
Coligny (siehe unten), der damals noch als Katholik im Dienst des französischen Königs stand. Er wurde von den Spaniern gefangen genommen,
kam aber gegen eine Lösegeldzahlung frei und trat bald darauf zum Protestantismus über. Fortan führte er in den
innerfranzösischen Glaubenskriegen die Protestanten (Hugenotten) an.
Mein Vater hatte sich besonders den Herzog Ulrich von Württemberg verpflichtet ...
Ulrich von Württemberg (1487-1550) wurde wegen seines wüsten Lebenswandels und widerrechtlicher Kriegshandlungen vom Kaiser
seiner Herzogswürde enthoben und floh in die damals württembergische Grafschaft Mömpelgard (frz. Montbéliard), 80 Kilometer
westlich von Basel (siehe die Karte zu den
SCHAUPLÄTZEN). Nach seinem Übertritt zum Protestantismus gewann er 1534 mit protestantischer Hilfe Württemberg zurück und
führte dort den Protestantismus ein.
... er nahm Dienst in Frankreich, das damals die Pikardie gegen England und Spanien verteidigen musste.
Pikardie = ehemals Provinz von Nordfrankreich an der Grenze zu den Niederlanden.
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... aber er hatte ... die Überzeugung geschöpft, dass es mit der Welt zu Ende gehe und es deshalb nicht rätlich und ein eitles
Werk sei, am Vorabend dieser durchgreifenden Krise eine neue Kirche zu gründen ... nur seine Verborgenheit schützte ihn vor dem
gestrengen Arm des geistlichen Regimentes.
Schadaus Ohm (Oheim, Onkel) ist im protestantisch gewordenen Bern Katholik geblieben, weil er angesichts des bevorstehenden Weltunterganges
keinen Sinn darin sieht, sich einer 'neuen Kirche' - also der evangelischen - zuzuwenden. Das könnte ihn in seiner kämpferisch protestantischen
Umgebung sogar der Verfolgung aussetzen.
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Mein Umgang waren die Bauernjungen des benachbarten Dorfes und dessen Pfarrer, ein strenger Calvinist, durch den mich mein Ohm mit
Selbstverleugnung in der Landesreligion unterrichten ließ.
Calvinist = Anhänger der Lehre Johannes Calvins (1509-1564), des strengsten der protestantischen Reformatoren. Calvin errichtete
in Genf eine Glaubensherrschaft, die auf alle protestantischen Gemeinden der Schweiz abfärbte. Sie verlangte ein Leben strikt nach den christlichen
Geboten, schaffte alle kirchlichen Zeremonien ab, die in der Bibel nicht genannt waren, erlaubte z.B. nur biblische Vornamen, untersagte Theater und Tanz
und ahndete jeden Glaubenszweifel mit Ausweisung oder gar der Todesstrafe. Vor allem aber war nach der Lehre Calvins den Menschen von Gott
vorherbestimmt, wer erlöst und wer verdammt werden würde (Prädestination), und somit jede Selbstbestimmung ausgeschlossen.
Entsprechend streng wurde unter seiner Führung in Genf regiert.
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Meine Denkkraft übte sich mit Genuss an der herben Konsequenz der calvinistischen Lehre ...
Gemeint ist die Prädestinationslehre, nach der nichts ohne Gottes Willen geschieht und folglich alles so kommt, wie es nach Gottes
Ratschluss kommen muss. Die 'herbe Konsequenz' dieser Lehre liegt darin, dass man auch sein Unglück, seine Erfolglosigkeit, sein Scheitern
als gottgewollt ansehen muss und deshalb Mitleid oder Nachsicht von seinen Mitmenschen eigentlich nicht verlangen kann.
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... denn er war in seiner Jugend als Student in Genf mit auf die Wälle und ins Feld gezogen.
Genf konnte erst dadurch zu einer Republik innerhalb der Schweizer Eidgenossenschaft werden, dass es die Herrschaft der Grafen von Savoyen
abschüttelte. Zwischen 1519 und 1536 kam es deshalb immer wieder zu Kämpfen.
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Der Name des großen Coligny erfüllte damals die ganze Welt.
Gaspard de Coligny (1519-1572) war "unstreitig einer der größten Männer seiner Zeit", fasst Meyers
Konversationslexikon von 1905 das Urteil über den französischen Heerführer zusammen. In den Kriegen gegen Spanien erwarb er
sich schon als junger Mann solche Verdienste, dass ihn der französische König mit 33 Jahren zum 'Admiral von Frankreich' ernannte.
1559 trat er jedoch zum Protestantismus über und wurde damit in dem von Glaubenskriegen zerrissenen Frankreich ein Gegner des
Königshauses. Fortan führte er die Hugenotten gegen die Katholiken in die Schlacht und konnte 1570 im Frieden St. Germain ihre Stellung
wesentlich verbessern. Von seinem weiteren Schicksal liest man in der Novelle selbst.
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Gaspard de Coligny
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... als es im Jahre 1567 galt die Waffen zu ergreifen, um Genf gegen einen Handstreich Albas zu sichern ...
Fernando de Toledo, Herzog von Alba (1507-1582), spanischer Feldherr und Statthalter Spaniens in den Niederlanden, war wegen seines
harten Vorgehens gegen die Protestanten dort berüchtigt. Seine Hinrichtung des Grafen Egmont im Jahre 1568 gab dem
Unabhängigkeitswillen der Holländer erst recht Auftrieb und führte schließlich zur Vertreibung der spanischen
Besatzer. Alba hat wohl nicht wirklich versucht, auf dem Weg nach den Niederlanden im Jahre 1567 Genf einzunehmen, aber es wurde vermutet
und deshalb bei seiner Annäherung die Verteidigung vorbereitet.
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Im Jahre 1570 gab das Pazifikationsedikt von St. Germain en Laye den Hugenotten in Frankreich Zutritt zu allen Ämtern und
Coligny, nach Paris gerufen, beriet mit dem König ... den Plan eines Feldzugs gegen Alba zur Befreiung der Niederlande.
Nachdem Coligny im Juni 1570 die katholische Armee bei Arnay-le-Duc (Burgund) geschlagen hatte, war der König zum
Friedensschluss mit ihm bereit und sicherte den Hugenotten im Frieden von St. Germain Gleichberechtigung in Frankreich zu. Coligny
ging daraufhin nach Paris und versuchte den jungen Karl IX. dafür zu gewinnen, die Spanier aus den Niederlanden zu vertreiben.
Hugenotten, der Name der französischen Protestanten, leitet sich von 'Eidgenossen' ab, weil der Protestantismus
über die Schweiz nach Frankreich gelangt war.
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... dass man diesen, dem in Erinnerung des seligen Schadau, seines Schwagers, der Herzog Christoph sonderlich gewogen sei ...
Herzog Christoph von Württemberg (1515 - 28. Dezember 1568) folgte seinem Vater Ulrich als Landesherr von Württemberg, kann
deshalb zur Zeit der Handlung - 1572 - allerdings nicht mehr gelebt haben.
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Unter meinen jugendlichen Bewunderungen nahm neben dem großen Admiral sein jüngerer Bruder Dandelot die
erste Stelle ein, dessen weltkundige, stolze Brautfahrt meine Einbildungskraft entzündete.
Dandelot de Coligny (1521-1569) kämpfte ebenfalls im Heer des französischen Königs und wurde 1555 Generaloberst. Auf einer
Reise nach Deutschland begeisterte er sich für die Reformation und trat zum Protestantismus über. Der König ließ ihn dafür
ein Jahr lang in Melun inhaftieren, doch Dandelot blieb bei seiner Entscheidung. Wieder in Freiheit, stellte er sich dem Heer der Hugenotten zur
Verfügung, siegte in mehreren Kämpfen und starb 1569 an einem Fieber.
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Die Brüder Coligny
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Seine Flamme, ein lothringisches Fräulein, hatte er vor den Augen seiner katholischen Todfeinde, der Guisen, aus ihrer Stadt Nancy
weggeführt ...
Die Brautfahrt Dandelots in das von Katholiken beherrschte Nancy wird in einer der Quellen Meyers, Jules Michelets 'Geschichte Frankreichs im
16. Jahrhundert', ausführlich erzählt (siehe unter
QUELLEN).
Guisen = (sprich 'Gwiesen') ein lothringisches Geschlecht, dessen Name sich von der Stadt Guise herleitet, die ein Herzogtum war. Die
Herzöge von Guise - katholisch - waren die mächtigsten Widersacher der Hugenotten. So wie Coligny die protestantische Partei
anführte, führten die Herzöge von Guise, 'die Guisen', die katholische Partei an.
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Uns gegenüber saß der Sohn des Schultheißen, eines vornehmen Spezereihändlers ...
Schultheiß = Gemeindevorsteher, hier 'Bürgermeister'.
Spezereien = Gewürze, damals eine Handelsware mit hohen Gewinnspannen.
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"Rebellen!", schrie ich und stürzte ein Glas feurigen Cortaillod hinunter.
Cortaillot = Rotwein aus dem gleichnamigen Ort am Westufer des Neuenburger Sees.
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"... wird es sich vielleicht weisen, dass die aufrührerischen Bauern der Waldstätte gegen Österreich schwer im
Unrecht und offener Rebellion schuldig waren."
Die Gründungssage der Schweiz macht aus der Erhebung der drei Urkantone (Uri, Schwyz und Unterwalden) um 1300 gegen Österreich
eine Heldentat. Man könnte in ihr aber auch einen Akt des Verrats und des Aufruhrs sehen - so gewissermaßen Meyers Widerrede gegen
die vaterländische Beschönigung dieses Ereignisses.
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Ohne langes Besinnen packte ich meinen Mantelsack ...
Mantelsack = eine Reisetasche aus Tuch, die sich am Sattel befestigen ließ.