Erste Vigilie
Die Einteilung der Novelle in zwölf Vigilien, d.h. 'Nachtwachen', hat gleich mehrere Bezugspunkte. Zunächst ist es der Erzähler,
der - wie er später erklärt - seine Geschichte Nacht um Nacht niederschreibt. Es gibt aber auch ein schon zu dieser Zeit berühmtes
Vorbild für das Erzählen in Nachtwachen, die 1804 anonym erschienenen "Nachtwachen des Bonaventura". Hier
erzählt ein Nachtwächter von seinen dienstlichen Rundgängen und verbindet dies mit pessimistisch-düsteren
Betrachtungen über die Menschen und ihre Schicksale. Dieses Werk gehört allerdings noch der Frühromantik an, das
Schaurige und Unheimliche überwiegt. Bei Hoffmann wird diese dunkle Seite der Romantik schon ironisiert , d.h. zu mehr nur
amüsant-spukhaften Effekten genutzt. Auch das Erzählen in Vigilien ist ein solches ironisches Umgehen mit dem Motiv der
'Nachtseiten' der menschlichen Existenz. Hoffmann zählt man deshalb auch nicht mehr zur Frühromantik wie Wackenroder,
Tieck oder Novalis, sondern zur Hoch- oder Spätromantik.
Wer sich hinter 'Bonaventura' verbarg, war lange Zeit ungewiss, nahezu alle namhaften Autoren dieser Zeit einschließlich Hoffmanns
wurden für die Verfasser der "Nachtwachen" gehalten. Erst 1973 konnte Jost Schillemeit nachweisen, dass es der
Unterhaltungs-Schriftsteller August Klingemann (1777-1831) war.
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Die Unglücksfälle des Studenten Anselmus.
Der Name Anselmus steht in einer hintergründigen Beziehung zu Hoffmanns großer Liebe Julia Marc. Der Namenstag des
heiligen Anselm ist der 18. März - und eben dies war auch der Geburtstag von Julia Marc
(siehe unter
ENTSTEHUNG).
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... aber indem der junge Mensch hinausschoss, rief ihm die Alte nach: "Ja renne - renne nur zu,
Satanskind - ins Kristall bald dein Fall - ins Kristall!" - Die gellende, krächzende Stimme des Weibes
hatte etwas Entsetzliches, sodass die Spaziergänger verwundert stillstanden ...
Noch bevor der Student Anselmus näher vorgestellt wird, kündigt sich mit der rätselhaft-unheimlichen Rede der Marktfrau eine
Bedrohung durch eine dunkle Macht für ihn an. Das ist einerseits eine Einstimmung in den Märchencharakter der Geschichte,
andererseits aber auch Ausdruck für das Lebensgefühl dieser Zeit, d.h. der Epoche der Romantik (1795-1830). Anders als die Klassik,
die auf Vernunft, Freiheit und Selbstbestimmung setzte, sieht die Romantik den Menschen vielfach von übersinnlichen und
unbeherrschbaren Mächten umgeben. Schicksal, Wunder, Glück, Zufall oder das Wirken Gottes - an all das glaubt der Romantiker mehr
als an den menschlichen Willen oder das überlegte Handeln.
Der französische Soziologe Henri Brunschwig hat das auf die großen gesellschaftlichen Umbrüche zurückgeführt,
die die Generation der zwischen 1770 und 1780 Geborenen - eben die 'romantische' Generation - über Jahrzehnte hin erlebte.
Die rasch anwachsende Bevölkerung führte zu ernsthaften Sorgen, ob es für alle Verdienstmöglichkeiten geben würde, ja mehr,
ob überhaupt alle würden ernährt werden können. Es folgten die napoleonischen Kriege mit dem Zusammenbruch Preußens
1806, der ja auch E.T.A. Hoffmann um Amt und Einkommen brachte (siehe unter
ENTSTEHUNG).
Neue Staaten entstanden, alte Rechtsordnungen zerbrachen, die aufklärerische Idee von der Planbarkeit des Lebens
schien keine Gültigkeit mehr zu besitzen. So wuchs die Bereitschaft, an über- und außerirdische Mächte zu
glauben, seine Hoffnung auf sie zu setzen oder wenigstens mit dem Gedanken an sie zu spielen - und eben das führen die
Erzählungen E.T.A.Hoffmanns vor und sind darin für das Publikum dieser Zeit anziehend.
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"Dass ich niemals Bohnenkönig geworden, dass ich im Paar oder Unpaar immer falsch geraten, dass mein Butterbrot immer auf
die fette Seite gefallen ..."
Mit der langen Aufzählung banaler Missgeschicke entwirft Hoffmann das ironische Porträt des romantischen Sonderlings, der immer
ungeschickt, untüchtig und erfolglos ist, aber doch gegenüber seinem Gegenteil, dem Philister, den richtigeren, besseren, 'höheren'
Menschentyp darstellt. Ein gutes Jahrzehnt später wird Eichendorff mit seinem 'Taugenichts' den bleibenden Musterfall für einen solchen
romantischen Tagträumer liefern.