[Erster Teil]
... die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtgefühl
aber machte ihn zum Räuber und Mörder.
Dieses vorausgeschickte Gesamturteil soll einerseits Spannung erzeugen, zeigt andererseits aber auch schon die
Tendenz an, mit der Michael Kohhaas hier behandelt werden wird: nämlich nachsichtig oder sogar ihn entschuldigend. Dass die
Welt sein Andenken ohne seine Untaten 'würde haben segnen müssen', trifft ja eigentlich nicht zu, da dieses Andenken
überhaupt nur besteht, weil er zum
'Räuber und Mörder' geworden ist. Wird einem solchen Menschen Gutes nachgesagt und dieses Gute für mindestens
ebenso erinnerungswürdig erklärt wie seine Untaten, so wertet ihn das auf oder lässt gar durchblicken, dass sein
Tun für gar nicht so verwerflich zu halten ist.
Entsprechend dieser Vorausbewertung wird sich immer wieder zeigen, dass der Erzähler seine demonstrativ negativen Urteile
entweder an Nebensächlichkeiten festmacht oder sie zu den geschilderten Sachverhalten nicht passen, sie also im Grunde nicht ernst
gemeint sind. An des Erzählers Sympathie für Kohlhaas kommt nie Zweifel auf - und wie auch, da Kleist seinen eigenen
Kampf um Gerechtigkeit und seine Wut, dass sie ihm nicht zuteil wird, auf seinen Protagonisten überträgt.
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Der Rosskamm versicherte, dass er siebzehn Mal in seinem Leben ohne einen solchen Schein über die Grenze gezogen sei; dass er
alle landesherrlichen Verfügungen, die sein Gewerbe angingen, genau kennte ...
Dies ist ein erster - wahrscheinlich gar nicht beabsichtigter - Hinweis auf die schon beschädigte Weltwahrnehmung, die Kohlhaas
kennzeichnet. Wer hält sich siebzehn problemlose Grenzübertritte vor Augen, um sich beim achtzehnten über eine Abweichung zu
ärgern und sich auf seine genaue Kenntnis aller landesherrlichen Verfügungen zu berufen? So jemand wartet nur
darauf, dass ihm Unrecht geschieht, er hat schon eine große Wut gegen alles in sich angesammelt, was seine Freiheit einschränkt. Auch
die vorhergehende ironische Bemerkung über den Passschein
... dass man ihm aber nur beschreiben möchte, was dies für ein Ding des Herrn sei, so werde er vielleicht zufälligerweise damit
versehen sein ...
macht diese seine Einstellung deutlich. Kohlhaas ist ein Mensch, der eine grundsätzlich
geregelte
und überdies gerecht geregelte Welt voraussetzt, eine Welt, in der man nur aufgrund von vernunftgeleiteten Bestimmungen in seiner Freiheit
eingeschränkt werden darf. Mit anderen Worten: Kohlhaas ist kein Mensch des 16. Jahrhunderts, der an ständische Ungleichheit
von Geburt an gewöhnt wäre, sondern sein Selbstverständnis hat schon die Aufklärung durchlaufen und wertet jeden
Verstoß gegen das ihm nicht Einsichtige als einen Angriff auf die Weltordnung. Dass man mit solchen Verstößen ständig
rechnen muss, weiß er aber und reagiert deshalb sofort misstrauisch, wenn es 'etwas Neues gibt'.
Es ist wichtig, sich dies klar zu machen, weil von Fall zu Fall der Eindruck erweckt wird, als stehe Kohlhaas der Welt eigentlich arglos
gegenüber und gerate erst aufs Äußerste gereizt zu ihr in Widerspruch. Kennzeichnend für ihn ist vielmehr die ständige
Bereitschaft zum Losschlagen, gezügelt nur durch den Vorsatz, den Zeitpunkt der unbezweifelbarsten Berechtigung dafür abzuwarten.
Schon auch die Formulierung, er habe ein wenig betreten, also verlegen, auf die Forderung nach einem Passschein reagiert, ist in diesem
Sinne irreführend, da sich sofort die ironische Bemerkung über das merkwürdige 'Ding des Herrn', das ihm da abverlangt werde,
anschließt. Wer so reagieren kann, ist nicht verlegen, er ist
überlegen, weil er im Grunde schon weiß,
dass er die Welt wieder auf einer Ungerechtigkeit ertappen wird.
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... wo er von den Räten ... erfuhr, was ihm allerdings sein erster Glaube schon gesagt hatte, dass die Geschichte von dem Passschein ein
Märchen sei. Kohlhaas, dem die missvergnügten Räte auf sein Ansuchen einen schriftlichen Schein über den Ungrund
derselben gaben, lächelte über den Witz des dürren Junkers ...
Die bürokratisch eingerichtete Welt geht hier so weit, dass man sich sogar eine behördliche Bescheinigung über das Nichtvorhandensein
einer Bestimmung ausstellen lassen kann - etwas, wozu selbst heute kaum je eine Behörde bereit sein wird. Ein schier unbegrenztes Vertrauen
in die Geregeltheit aller Verhältnisse spricht sich darin aus, völlig verschieden von den Zuständen des 16. Jahrhunderts, aber auch für
Kleist Zeit nur das Wörtlichnehmen einer Vision, die die Aufklärung für den Staat der Zukunft an den Horizont geworfen hatte.
Wieso aber lächelt Kohlhaas über die Anmaßung des Junkers? Sollte er nicht aufgebracht sein, dass er die Pferde, die er eigentlich
hatte verkaufen wollen, in der Tronkenburg hatte zurücklassen müssen? Während sich das Gefühl des Lesers längst
empört, zeigt Kleist seinen Kohlhaas auf eine schon unmenschliche Weise gleichmütig - natürlich in der Absicht, seinen Mal um Mal
zurückgehaltenen Zorn am Ende nur um so berechtigter losbrechen zu lassen.
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Denn ein richtiges, mit der gebrechlichen Einrichtung der Welt schon bekanntes Gefühl machte ihn trotz der erlittenen Beleidigungen geneigt,
... den Verlust der Pferde ... zu verschmerzen.
Auch diese Zurückhaltung überschreitet die Grenze des von Kohlhaas Hinnehmbaren. Denn selbst wenn sich sein Knecht
irgendwelcher Versäumnisse schuldig gemacht hätte, müsste der Junker die widerrechtlich eingezogenen Pferde so versorgt
haben, dass er sie unbeschadet zurückgeben kann. Alles andere müsste ihn nach Kohlhaasens Rechtsbegriffen zu Schadensersatz
verpflichten, d.h. es wird Kohlhaas erneut in einer geradezu unnatürlichen Duldsamkeit gezeigt.
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Mit diesen Worten setzte er sich in den Lehnstuhl, und die Hausfrau, die sich über seine Gelassenheit sehr freute, ging und holte den Knecht.
Kohlhaasens Frau hat anscheinend schon andere Erfahrungen gemacht, was das 'Rechtgefühl' ihres Mannes angeht, und sollte deshalb von der
Gelassenheit, die er zeigt, eher beunruhigt sein.
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Denn sie sagte, dass noch mancher andre Reisende, vielleicht minder duldsam als er, über jene Burg ziehen würde, dass es ein Werk
Gottes wäre, Unordnungen gleich diesen Einhalt zu tun ...
Das ist die einzige Stelle, an der die Durchsetzung des Rechtes mit dem Nutzen der Allgemeinheit begründet wird, eine Position, die auch
abzuwägen erlauben würde, von welchem Punkt an der Schaden den Nutzen überwiegt. Kohlhaas jedoch argumentiert so nicht,
für ihn geht es darum, die 'Ordnung der Welt' wieder herzustellen.
[Zweiter Teil]
... der einzige Fall, in welchem seine von der Welt wohlerzogene Seele auf nichts, das ihrem Gefühl völlig entsprach,
gefasst war.
Gemeint ist: der einzige Fall, für den er in seiner Wohlerzogenheit nichts, was seinem Gefühl völlig entsprach, zu tun
gewusst hätte. Die Rücklieferung der Pferde wäre einerseits eine Geste des Einlenkens gewesen, die er kaum hätte
zurückweisen können, sie hätte ihm zugleich aber das Festhalten an weiteren Forderungen wesentlich erschwert, wenn nicht
unmöglich gemacht. Zu einer Zerstörung der Tronkenburg loszuziehen, weil die in seinen Stall zurückgeführten Pferde
zu mager sind, wäre auch nach seinem
Rechtgefühl kaum infrage gekommen.
... und mitten durch den Schmerz, die Welt in einer so ungeheuren Unordnung zu erblicken, zuckte die innerliche Zufriedenheit empor,
seine eigne Brust nunmehr in Ordnung zu sehen.
Der fortgesetzte Missbrauch seiner Pferde, der nicht das geringste Schuldbewusstsein aufseiten des Junkers erkennen lässt, gibt Kohlhaas
die Gewissheit, dass er gegen die 'ungeheure Unordnung der Welt' selbst vorgehen muss, ja dass er sogar dazu berufen ist, rechtliche Zustände
in ihr wieder herzustellen. Sein missionarisches Selbstverständnis, im Weiteren immer wieder hervorgehoben, erklärt sich genau aus diesem
Moment. Dass der Erzähler dieses Selbstverständnis wiederholt verurteilt, sollte nicht wörtlich genommen werden - die dafür
gewählten Ausdrücke sind in ihrer Negativität so übertrieben, dass man sie nicht für ernst gemeint halten kann. Es ist das
Sendungsbewusstsein des Dichters Kleist, das sich in diesem Anspruch der Wiederherstellung des Rechtes 'der Welt' ausdrückt, ein bisschen
ironisch gesehen, aber nicht wirklich verurteilt.
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Kohlhaas dachte: "So möge mir Gott nie vergeben, wie ich dem Junker vergebe!" ...
Diese Stelle hat unverständlicherweise zu Erörterungen darüber geführt, was gemeint sei, da Kohlhaas dem Junker
tatsächlich ja nicht vergebe. Diese Annahme ist jedoch falsch. Kohlhaas will dem Junker tatsächlich vergeben, nämlich für den Fall,
dass die von seiner Frau dem brandenburgischen Hof zugestellte Bittschrift Erfolg hätte. Er würde sich dann mit der Rückerstattung der
Pferde zufrieden geben und den Junker nicht weiter zur Rechenschaft ziehen. Er selbst möchte sich jedoch - bei einer solchen Schwere
der Schuld, wie sie dem Junker anzulasten ist - nicht einmal von Gott so gnädig behandelt wissen.
... warf er sich noch einmal vor ihrem nun verödeten Bette nieder und übernahm sodann das Geschäft der Rache.
In der gleichsam sich selbst widersprechenden Wortverbindung von 'Geschäft' und 'Rache' drückt sich das unerbittlich Kalte
von Kohlhaasens Vergeltungswillen aus. Darin liegt auch der Unterschied zur mittelalterlichen Fehde, deren Ziel immer nur war, Druck
auszuüben, um ein bestimmtes rechtliches Zugeständnis zu erlangen, die also keine Rache war, sondern eine Art Erpressung.
Er setzte sich nieder und verfasste einen Rechtsschluss, in welchem er den Junker Wenzel von Tronka kraft der ihm angeborenen Macht
verdammte ...
In der 'angeborenen Macht' spricht sich erstmals das mysteriöse Sendungsbewusstsein von Kleists Michael Kohlhaas aus, eine Zutat auch
gegenüber der historischen Gestalt, die sich in den Quellen nicht findet. Offensichtlich trägt Kleist etwas von seinem eigenen
Selbstverständnis in diese Gestalt hinein, an späteren Stellen nicht frei von Selbstironie, hier jedoch noch ohne Bewertung nur mitgeteilt.
[Dritter Teil]
Kohlhaas, der beim Eintritt in den Saal einen Junker Hans von Tronka ... bei der Brust fasste und in den Winkel des Saals schleuderte,
dass er sein Hirn an den Steinen verspritzte, fragte ..., wo der Junker Wenzel von Tronka sei.
Mit dieser Gewalttat setzt sich Kohlhaas im Grunde ins Unrecht. Wenn es sein Ziel ist, den Junker Wenzel von Tronka zu ergreifen und samt
der Rappen nach Kohlhaasenbrück zu bringen, um ihn dort - notfalls mit der Peitsche - dazu zu zwingen, diese wieder dick zu füttern,
so ist diese Tat nicht zu rechtfertigen. Er dürfte des Junkers Gefolge einsperren, bei Gegenwehr auch töten, aber nicht
willkürlich alle, die ihm in der Tronkenburg über den Weg laufen, als Mitschuldige umbringen.
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... nannte er sich "einen reichs- und weltfreien, Gott allein unterworfenen Herrn", eine Schwärmerei krankhafter und
missgeschaffener Art ...
Die sonderbar starken Worte, die Kleist zur Verurteilung der Selbsterhöhung von Kohlhaas wählt, sind nicht frei von einem ironischen Unterton,
da dieser Zug an Kohlhaas neben seinen Metzeleien und Brandstiftungen ja eher nebensächlich ist. Es schwingt fast ein Wohlwollen darin mit, so als
sollten wir hören: so ganz falsch ist es nicht, was Kohlhaas von sich denkt, aber muss er es so laut sagen? Es ist Kleist, der sein
Selbstverständnis als eines souveränen, nur sich und seiner dichterischen Mission verpflichteten Menschen darin ausdrückt, dies
ist die einzige Erklärung, die es für diesen ganz unhistorischen, in keiner der Quellen auch nur angedeuteten Wesenszug von
Kohlhaas gibt.
Er nannte sich in dem Mandat ... einen Statthalter Michaels des Erzengels, der gekommen sei, ... mit Feuer und Schwert die Arglist, in welcher
die ganze Welt versunken sei, zu bestrafen ... das Mandat war mit einer Art von Verrückung unterzeichnet: "Gegeben auf dem Sitz unserer
provisorischen Weltregierung, dem Erzschlosse zu Lützen."
Hier fällt die Verurteilung Kohlhaasens eher milde aus - nur 'eine Art von Verrückung' ist an ihm zu bemerken. Wenn man bedenkt,
welche Gotteslästerung, den gewöhnlichen Maßstab angelegt, seine Erklärung bedeutet, könnte
man sich ganz andere Abrechnungen mit ihm vorstellen. Da jedoch alles, was er sonst sagt und tut, gut überlegt
wirkt, soll dieses Selbstverständnis wohl nicht ganz abwegig sein, nur vielleicht ein bisschen zu viel Pathos
in die Mission hineinlegen, die er tatsächlich hat.
[Vierter Teil]
Kohlhaas antwortete: "Kann sein!", indem er ans Fenster trat, "kann sein auch nicht! ..."
In dieser Äußerung spricht sich ein nahezu unglaublicher Rechtsfanatismus aus. Wenn man bedenkt, was Kohlhaas an Opfern
seiner beiden Pferde wegen in Kauf genommen hat, sollte man nicht für möglich halten, dass er sich für seinen Protestweg
ein zweites Mal entscheiden würde. Was ihm fehlt, von Kleist aber ersichtlich unbeanstandet bleibt, das ist die Fähigkeit, ein
Unrecht zugunsten anderer Güter auf sich beruhen zu lassen. Sicherlich hängt von Menschen wie ihm zuletzt der Rechtsfortschritt
ab, aber ein Abwägen gegen den Preis, den dieser Fortschritt hat, sollte vernünftigerweise noch stattfinden. Keine Gesellschaft
muss es mit dem Recht so eilig haben, dass auf dem Wege seiner Durchsetzung nur Trümmer zurückbleiben.
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Der Kurfürst erhielt diesen Brief eben, als der Prinz Christiern von Meißen, ... der Großkanzler des Tribunals, Graf Wrede,
Graf Kallheim, Präsident der Staatskanzlei, und die beiden Herren Hinz und Kunz von Tronka, dieser Kämmerer, jener Mundschenk,
... gegenwärtig waren.
Die Standpunkte Luthers und der kurfürstlichen Berater geben das gesamte Spektrum der Möglichkeiten wieder, das es im
Umgang mit Kohlhaas gibt. Wegen der gedrängten Darlegung ist es sinnvoll, sich diese Standpunkte in eigenen Worten zu
verdeutlichen oder als Aufgabe im Unterricht verdeutlichen zu lassen.
Luther argumentiert staatsrechtlich. Ein prozessualer Ausgleich mit
Kohlhaas sei für den Kurfürsten
deshalb kein Verzicht auf seine Souveränität, weil man diesen als brandenburgischen und nicht als
sächsischen Untertanen anzusehen habe. Kohlhaas könne folglich wie ein ausländischer Feind behandelt werden,
mit dem man nach einem Waffenstillstand Friedensverhandlungen führe.
Da Luther Kohlhaas zuvor umgekehrt als sächsischen Untertanen in Anspruch genommen hat, stellt sich die Frage, ob er
uns hier als ein brillanter Jurist dargestellt werden soll, der dem sächsischen Kurfürsten den entscheidenden Hinweis gibt,
wie er ohne Autoritätsverlust aus dem Konflikt herauskommen kann. Ausschließen lässt sich das nicht, leidet
allerdings daran, dass sich diese taktische Meisterleistung in der Novelle mit keinem Wort gewürdigt findet. So muss man
eher wohl annehmen, dass Kleist den Ausländer-Status von Kohlhaas hier als Argument selbst erst entdeckt und ohne
Rücksicht auf Luthers vorherige Position umstandslos eingeführt hat. Andernfalls müsste ja sogar der Kurfürst, der
Luthers öffentliche Abmahnung gegen Kohlhaas kennen sollte, den Widerspruch zwischen seinem früheren und seinem jetzigen
Standpunkt bemerken.
Kunz, der Kämmerer, argumentiert mit dem gefährdeten Ansehen des Kurfürsten, wenn er Kohlhaas als
Kriegsgegner anerkennte. Kohlhaas hätte niemals die Waffen wegen dieser Pferdesache ergreifen dürfen, es würde
einen dauernden Makel für den Kurfürsten bedeuten, wenn er mit ihm verhandle. Dann sei es sogar besser, die Forderung
von Kohlhaas nach Rückgabe und Dickfütterung der Rappen ohne Umstände zu erfüllen, auch wenn sie nach wie vor
nicht rechtens sei.
Wrede, der Großkanzler, spottet zunächst über die Besorgnis des Kämmerers um den Ruf des
Kurfürsten, um welchen er sich besser schon bei der ersten Klage von Kohlhaas gesorgt hätte. Er gibt damit
zu verstehen, dass der Kämmerer das Verhandeln mit Kohlhaas nur ablehnt, weil dann seine Verhinderung des Prozesses gegen die Tronkas
zur Sprache kommen würde. Darüber hinaus argumentiert er mit der Macht und dem Zulauf, den Kohlhaas hat. Der kriegsähnliche
Zustand könne nur noch durch ein 'schlichtes Rechttun' beendet werden. Der Kurfürst müsse das Unrecht gegen Kohlhaas
beseitigen und so deutlich machen, dass er nicht daran beteiligt war.
Prinz Christiern von Meißen argumentiert mit den
Brandstiftungen und Morden von Kohlhaas, die längst
die Möglichkeit, ihm zu seinem Recht zu verhelfen, ausschlössen. Die 'Ordnung des Staats' sei nur wieder herzustellen,
wenn man einen Kriegszug gegen ihn organisiere und ihn vernichte. Die Zustimmung des Kämmerers zu seinem Vorschlag weist er
allerdings zurück. Ein solcher Feldzug würde einschließen, dass diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden
würden, die den Staat in diese Lage gebracht hätten. Die Niederschlagung des von Kohlhaas in Dresden angestrengten Prozesses
müsse als auslösendes Vergehen auf das Strengste bestraft werden.
Graf Kallheim weist darauf hin, dass nicht nur die Herren Hinz und Kunz den
jetzigen Zustand herbeigeführt hätten, sondern auch die Anführer der leichtfertigen Feldzüge, die man gegen Kohlhaas
unternommen habe. Würde man die Verursacher der
jetzigen Situation zur Rechenschaft ziehen wollen, müssten weitere hohe Beamte angeklagt werden (oder gar der Kurfürst selbst? - das
spricht der Graf nicht aus), also komme man so aus der Geschichte nicht heraus.
Hinz, der Mundschenk, empfiehlt, Kohlhaas zwar in der
Sache seiner Rappen freies Geleit nach Dresden
zuzusichern, ihn aber wegen des Landfriedensbruches dort festzusetzen und ihm den Prozess zu machen. Der Prinz von Meißen
und der Großkanzler Wrede werfen sich wegen dieser Täuschungsabsicht einen Blick zu, der den Kurfürsten davon
abhält, den Vorschlag aufzunehmen. Aber auch eine gewaltsame Lösung zieht dieser nicht Erwägung. Die Notwendigkeit,
seine Freunde Hinz und Kunz dann wegen der Prozess-Unterdrückung unter Anklage stellen zu müssen,
hatte seinem für Freundschaft sehr empfänglichen Herzen die Lust benommen, den Heereszug gegen den Kohlhaas ...
auszuführen,
wie es ironisch heißt. In Absprache mit Wrede, dem Großkanzler, wird vielmehr Kohlhaas,
dem Rosshändler aus dem Brandenburgischen, unter der Bedingung, binnen drei Tagen nach Sicht die Waffen ...
niederzulegen, behufs einer erneuerten Untersuchung seiner Sache freies Geleit nach Dresden
zugesichert. Damit folgt der Kurfürst im Prinzip dem Vorschlag Luthers, Kohlhaas als Ausländer anzusehen, dem
zur Durchsetzung seiner Ansprüche gegen den Junker von Tronka eine bedingte Straffreiheit wegen seiner Fehdehandlungen
gewährt wird.
[Fünfter Teil]
... verließ er das Schloss zu Lützen und ging unerkannt mit dem Rest seines kleinen Vermögens ... nach Dresden.
Die gesamte nachfolgende Entwicklung des Geschehens bis zu Kohlhaasens Hinrichtung wird von Kleist den historischen
Vorgängen hinzugefügt. Der Textmenge nach ist das mehr als die Hälfte der Novelle, der erzählten Zeit nach kaum weniger -
was hat Kleist bewogen, so weit über die geschichtlichen Vorgaben hinauszugehen? Die Antwort ist leicht zu finden: Er wollte den
eigentlich gescheiterten Kohlhaas am Ende triumphieren lassen, ohne dabei an dem Ausgang, seiner Hinrichtung, etwas zu ändern.
Zu diesem Zweck wird ihm ein zweiter, weit größerer Widersacher als der Junker von Tronka gegenübergestellt, der
sächsische Kurfürst, und der Kampf gegen ihn lässt den gegen den Junker immer mehr zurücktreten. Im Grunde
erzählt Kleist in diesem zweiten Teil die Kohlhaas-Geschichte noch einmal, nur mit einem von dessen Seite her anderen Streitziel.
Kohlhaas kämpft jetzt nicht mehr darum, Recht zu bekommen oder sonst ein Zugeständnis zu erlangen, sondern er will den
Kurfürsten, der ihm hinsichtlich des 'freien Geleits' sein Wort gebrochen hat, nur noch peinigen, ihm durch das Verschweigen eines
bestimmten Wissens den größtmöglichen seelischen Schmerz zufügen.
Weil es der sächsische Kurfürst ist,
auf den sich der Hass von Kohlhaas richtet, hat man einen politischen Hintergrund für diese zweite Kampf-Ansage vermutet:
Sachsen war im Jahre 1806 auf die Seite des Kleist verhassten Napoleon getreten, während Preußen auf die Stunde der
Erhebung gegen diesen wartete. Kann dies jedoch die umfangreiche Erweiterung des historischen Kohlhaas-Stoffes erklären?
Ja, kann man dieses Motiv überhaupt hier erschließen, wo doch der sächsische Kurfürst, der 1806 dem Rheinbund
beitrat und dafür von Napoleon die Königswürde erhielt (Friedrich August III.), gerade
kein Nachkomme des Kurfürsten war,
der zur Zeit von Kohlhaas in Sachsen die Macht hatte, sondern ein Nachkomme von dessen Gegner?
Will man sich hier nicht auf ein 'Sachse ist Sachse'
zurückziehen, so kann man nur folgern, dass es auf das Sächsische an diesem Kurfürsten nicht ankommt. Vielmehr scheint er nur
allgemein ein Repräsentant fürstlicher Macht zu sein, und eine solche Macht soll gedemütigt, sie soll durch Kohlhaas der
äußersten seelischen Marter ausgesetzt werden. Das aber bedeutet: es ist das Ich Kleists, das hinter
diesem Verletzungs- und Rachebedürfnis steht, es ist
seine Vorstellung davon, wie er es den Mächtigen,
die ihn nicht anerkannt haben, heimzahlen wird.
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Inzwischen war auch der Junker seiner Haft in Wittenberg entlassen ...
Kleist hat offenbar vergessen, dass der Junker, also Wenzel von Tronka, bereits nach den Wittenberger Brandstiftungen aus dieser Stadt
weggebracht worden ist. Kohlhaas belagert deshalb ja die Pleißenburg, wo man den Junker vermutet, bis die Nachricht kommt, er befinde
sich in Dresden (siehe
DRITTER TEIL).
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Der Rosshändler, dessen Wille durch den Vorfall, der sich auf dem Markt zugetragen, in der Tat gebrochen war, wartete auch nur
dem Rat des Großkanzlers gemäß auf eine Eröffnung vonseiten des Junkers oder seiner Angehörigen, um ihnen mit
völliger Bereitwilligkeit und Vergebung alles Geschehenen entgegenzukommen ...
Der in Dresden ohnehin schon wie verwandelte Kohlhaas wird mit dieser schlichten Mitteilung von allen Hassgefühlen gegen den Junker von
Tronka freigesprochen - eine Wendung so jenseits aller Wahrscheinlichkeit, dass man sieht, wie schon hier der Übergang zu einer neuen
Gegnerschaft vorbereitet wird. Eigentlich hätte Kohlhaas beim Anblick seiner heruntergebrachten Pferde erneut in Wut gegen den Junker
geraten sollen oder, wenn er ihre tatsächliche Wertlosigkeit in diesem Moment begriff, sich jedenfalls daran erinnern müssen, dass
von seinem juristischen Kampf um diese Pferde sein gesamtes Schicksal jetzt abhing. Jede Andeutung, dass es ihm um die Pferde selbst gar nicht
gegangen sei, sondern nur um ein rechtliches Prinzip, würde in einem Gerichtsverfahren seinen Untergang bedeutet haben. Wegen zweier
Pferde ganze Städte in Brand zu stecken war problematisch genug, es eines Prinzips wegen getan zu haben konnte ihm niemals nachgesehen
werden.
Tatsächlich jedoch scheint Kohlhaas vollauf damit zufrieden zu sein, dass man ihn in Dresden so ebenbürtig behandelt, gerade
wie jemand, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Auch hier möchte man eher an die Selbstwahrnehmung von Kleist als an die eines Michael
Kohlhaas denken.
[Sechster Teil]
Kohlhaas wünschte Dresden auf einige Tage zu verlassen ... ein Entschluss, zu welchem vielleicht auch noch
Gründe anderer Art mitwirkten, die wir jedem, der in seiner Brust Bescheid weiß, zu erraten überlassen wollen.
Kleist will damit wohl andeuteten, dass Kohlhaas zu entkommen überlegt - auch vielleicht, weil ihm der respektable Empfang,
der ihm in Dresden zuteil geworden ist, als Genugtuung ausreicht und ihm die Durchsetzung seiner Rechtsansprüche nichts mehr bedeutet.
Sein Verzicht auf diese Ansprüche hätte jedoch keineswegs auch einen Verzicht der Gegenseite, nämlich auf Ersatz des
von ihm angerichteten Schadens, zur Folge gehabt,
und so liegt es in der Tat für ihn nahe, die Flucht in Erwägung zu ziehen.
Denn nichts missgönnte er der Regierung, mit der er zu tun hatte, mehr als den Schein der Gerechtigkeit, während sie in der Tat
die Amnestie, die sie ihm angelobt hatte, an ihm brach ...
Auf den zu zerstörenden 'Schein der Gerechtigkeit' legt Kohlhaas hier wohl gerade deshalb so viel Wert, weil er selbst diesen Schein noch
wahrt (nämlich mit der Bitte um einen kurzen Urlaub, auch wenn er vielleicht nicht zurückzukehren überlegt), während die
Gegenseite ihren schon vollzogenen Wortbruch weiterhin zu bemänteln versucht. An Ehrenhaftigkeit oder wenigstens dem Schein der Ehrenhaftigkeit
will er sich von der Hofgesellschaft nicht übertreffen lassen.
... und ob er schon einsah, dass er sich ... die Flucht, durch die Schritte, die er getan, sehr erschwert hatte, so lobte er sein Verfahren gleichwohl,
weil er sich nunmehr auch seinerseits von der Verbindlichkeit, den Artikeln der Amnestie nachzukommen, befreit sah.
Auch hier zeigt sich wieder, dass es für Kohlhaas hauptsächlich darum geht, 'im Recht' zu sein. Selbst die Tatsache, dass er sich die
Möglichkeit zu fliehen, die er offensichtlich erwogen hat, durch sein rechtsbedenkliches Vorgehen selbst genommen hat, kann ihn nicht
erschüttern. Jeder andere in diesem Fall würde sich angesichts der Hinterhältigkeit der anderen Seite einen Narren
nennen, den 'Schein der Gerechtigkeit' so lange aufrechterhalten zu haben. Nicht Kohlhaas - ihm ist das Im-Recht-geblieben-Sein wichtiger
als sein Leben.
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Der Kurfürst weigerte sich standhaft, auf den Grund bloß dieses Briefes dem Kohlhaas das freie Geleit, das er ihm angelobt,
zu brechen ...
Hier wird dem Kurfürsten noch eine ehrenhafte Haltung bescheinigt, rätselhafterweise eigentlich, wenn man bedenkt, welche Genugtuung es
dann für Kohlhaas bedeutet, ihm 'weh zu tun'.
... doch da bei der Stimmung der Gemüter auch selbst dieser Schritt noch einer gleichgültigen Auslegung fähig war und er sich
vollkommen überzeugt hatte, dass nichts auf der Welt ihn aus dem Handel, in dem er verwickelt war, retten konnte ...
Kohlhaas scheint fast schon zu vermuten, dass das ihm überbrachte Flucht-Angebot eine Falle ist, hält es aber für aussichtslos, den
Kampf um sein Recht noch fortzusetzen. Seine Gewissheit, dass nichts auf der Welt ihn aus dem entstandenen 'Handel' retten kann, schließt
eigentlich auch das Eingeständnis eines verfehlten Vorgehens in der Pferde-Angelegenheit ein. Jedenfalls resigniert Kohlhaas mehr, als dass er
dem Kurfürsten wegen des gebrochenen Wortes zürnt.
[Siebenter Teil]
Sieben Monden mögen es etwa sein, genau am Tage nach dem Begräbnis meiner Frau; und von Kohlhaasenbrück, wie
Euch vielleicht bekannt sein wird, war ich aufgebrochen ...
Wenn es im
ZWEITEN TEIL heißt, Kohlhaas habe nach der Beerdigung noch drei
Tage in Kohlhaasenbrück auf die Erfüllung des Ultimatums an den Junker von Tronka gewartet, so ist dieser Widerspruch
lediglich ein Versehen. Es ist abwegig, aus solchen und anderen kleinen Ungenauigkeiten zu folgern, wir hätten es hier mit einem nicht
zuverlässigen, absichtlich sich widersprechenden Erzähler zu tun oder Kohlhaas selbst sage in der ganzen Zigeunerin-Geschichte
nicht die Wahrheit.
... als der Kurfürst von Sachsen und der Kurfürst von Brandenburg in Jüterbog ...
eine Zusammenkunft hielten; und da sie sich gegen Abend ihren Wünschen gemäß vereinigt hatten, so gingen sie in
freundschaftlichem Gespräch durch die Straßen der Stadt ...
Es ist eigentlich unrichtig, dass Kohlhaas die Zigeunerin-Geschichte so erzählt, als habe er die beiden Kurfürsten in Jüterbog
längere Zeit beobachtet, wo er doch den sächsischen Kurfürsten jetzt nicht einmal erkennt.
Aber es wirkt diese Geschichte ohnehin nur wie ein unpassender Zusatz, weshalb sie in den Erklärungen zu der Novelle
oftmals auch beiseite gelassen wird. Was Kleist mit ihr bezweckt, lässt sich aber durchaus verstehen, so sehr man immer der
Meinung sein kann, dass es sich um eine erzählerische Entgleisung handelt. So beanstandete 1821 schon Ludwig Tieck, dass
Kleist seine Leser im letzten Viertel der Novelle durch eine Traumwelt führe,
"die sich mit der vorigen, die wir durch ihn so genau haben kennen lernen, gar nicht vereinbaren will. Diese wunderbare Zigeunerin
[...] erinnert an so manches schwache Produkt unserer Tage und an die gewöhnten Bedürfnisse der Lesewelt, daß wir uns nicht ohne
eine gewisse Wehmut davon überzeugen, daß selbst so hervorragende Autoren wie Kleist (der sonst nichts mit diesen Krankheiten
des Tages gemein hat), dennoch der Zeit, die sie hervorgerufen hat, ihren Tribut abtragen müssen."
Die Annahme Tiecks, dass es sich hier nur um ein Zugeständnis an die Leser, nämlich deren Bedienung mit einer romantischen Mystifikation
handle, trifft allerdings den Kern nicht. Kleist hatte mit dem prophetischen Zettel, den er kaum anders als über eine solche mysteriöse
Konstruktion in die Handlung einbringen konnte, durchaus etwas Eigenes, ganz ihn selbst Angehendes im Sinn.
... versicherte ihn, dass ... nichts auf der Welt notwendiger wäre, als dem Kohlhaas diesen Umstand zu verschweigen, indem ... alle
Reichtümer, die er besäße, nicht hinreichen würden, ihn aus den Händen dieses grimmigen, in seiner Rachsucht
unersättlichen Kerls zu erkaufen.
Dass der Kämmerer schon von Kohlhaasens dem Kurfürsten geltender 'Rachsucht' weiß, ist eigentlich unverständlich oder
wäre nur mit seinem eigenen schlechten Gewissen zu erklären, denn so deutlich hat sich dessen Groll noch gar nicht gezeigt.
Offenbar bereitet Kleist als Erzähler die weitere Entwicklung des Geschehens mit dieser Einschätzung eher vor.
... der Rosshändler sagte, eingedenk der unedelmütigen und unfürstlichen Behandlung, die er in Dresden ... hatte erfahren
müssen ...
Dies ist die einzige Begründung, die es für den geradezu vernichtenden Hass von Kohlhaas gegen den sächsischen
Kurfürsten gibt. Kann man diesen Hass - aus der Sicht nur von Kohlhaas - verstehen? Hat der sächsische Kurfürst
unedelmütiger an ihm gehandelt als der brandenburgische, der eine an ihn gerichtete Bittschrift mit einer Strafandrohung
zurückgewiesen hat? (Dass es nur der Erzkanzler Graf von Kallheim war - siehe
ABSATZ 1 -
weiß Kohlhaas nicht.) Ja, hat nicht in Dresden eher Kohlhaas selbst es an der letzten Entschlossenheit fehlen lassen, von dem ihm
gewährten 'freien Geleit' den richtigen Gebrauch zu machen?
Dessen ungeachtet kommt es dem Jagdjunker gegenüber zu einem Hassausbruch gegen diesen Kurfürsten, wie er
sich zügelloser nicht denken lässt:
"Wenn Euer Landesherr käme und spräche, ich will mich mit dem ganzen Tross ... vernichten - vernichten, versteht Ihr, welches
allerdings der größeste Wunsch ist, den meine Seele hegt, so würde ich ihm doch den Zettel noch ... verweigern und sprechen: 'Du
kannst mich auf das Schafott bringen, ich aber kann dir weh tun, und ich will's!'"
Was, wenn nicht Kleists eigener Hass, könnte aus diesem Vergeltungs-Bedürfnis sprechen? Gemeint aber sind damit
alle die fürstlichen, adligen und sogar bürgerlichen Kreise, die ihn nicht hatten aufkommen lassen, und schon hier steht dahinter die
Gewissheit, dass ihn - Kleist - die erlittenen Zurücksetzungen das Leben kosten werden.
[Achter Teil]
Der Kurfürst, aus Gram und Ärger über alle diese missglückten Versuche, verfiel in eine neue Krankheit ...
Man könnte sich fragen, warum es den Kurfürsten bis fast zur Selbstvernichtung danach verlangt, diesen Zettel zu erhalten,
umso mehr, als auch seine Umgebung ihn nicht versteht. Wenn er wirklich darin lesen kann, was unabwendbar eintreten wird,
könnte er sich nicht ebenso entscheiden, das gerade nicht wissen zu wollen? Eine solche Frage zu stellen hat jedoch keinen Sinn.
Es ist dies ein Märchen-Element, so wie die ganze Zigeunerin-Geschichte Märchenzüge hat. Die Begierde des Kurfürsten
hinsichtlich dieses Zettels ist nur wichtig für Michael Kohlhaas, weil ihm damit ein Mittel an die Hand gegeben ist, sich zu
rächen.
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... so traf es sich, dass hier etwas geschehen war, das wir zwar berichten, die Freiheit aber, daran zu zweifeln, ... zugestehen müssen: der
Kämmerer hatte den ungeheuersten Missgriff begangen und in dem alten Trödelweib ... die geheimnisreiche Zigeunerin selbst getroffen ...
Der Einschub des Erzählers ist schon fast 'romantische Ironie', d.h. ein Erzählmoment, das auf das Arrangierte der Geschichte in
der Geschichte selbst hinweist. Zu Kleists Erzählweise passt dieses Moment allerdings so wenig, dass es hier nicht wirklich so zu
verstehen ist. Vielmehr soll die Wendung ins Märchenhafte damit glaubhafter gemacht werden: Der Erzähler muss zwar pflichtgemäß
berichten, was sich zugetragen hat, findet
es aber selbst so unwahrscheinlich, dass er es dem Leser nicht verdenken will, wenn er an der Tatsächlichkeit der Vorgänge
zweifelt. Die wahre romantische Ironie, wie man sie bei E.T.A. Hoffmann beispielsweise findet, bezieht den Leser augenzwinkernd in die
Erfundenheit des Erzählten ein (siehe unter
E.T.A. HOFFMANN).
Der Rosshändler, der eine sonderbare Ähnlichkeit zwischen ihr und seinem verstorbenen Weibe Lisbeth bemerkte ...
Die hier sich ankündigende Mystifikation der Zigeunerin läuft darauf hinaus, dass sie die aus dem Jenseits wiedergekehrte Frau
von Michael Kohlhaas, Elisabeth, ist. Sie muss es dann auch schon auf dem Marktplatz von Jüterbog sein, wo Kohlhaas sie ja
erst nach der Beerdigung seiner Frau zum ersten Mal trifft. Da seine Frau ihn noch auf dem Sterbebett gemahnt hat, seinen Feinden zu
vergeben, besagt die Beihilfe der Zigeunerin zu der jetzt anstehenden Vollendung seiner Rache nichts anderes, als dass seine Frau die
Vernichtung des Kurfürsten billigt, er ihren Segen dazu hat.
Kohlhaas, der über die Macht jauchzte, die ihm gegeben war, seines Feindes Ferse in dem Augenblick, da sie ihn in den Staub trat,
tödlich zu verwunden, antwortete: »Nicht um die Welt, Mütterchen, nicht um die Welt!«
Die Ferse des Feindes, die Kohlhaas in den Staub tritt, soll die des sächsischen Kurfürsten sein? Er ist an Kohlhaasens Hinrichtung
gar nicht beteiligt, will ihn sogar befreien - wie kann er aus seiner Sicht so beurteilt werden? Mit der Logik des Geschehens hat dieser
Triumph endgültig nichts mehr zu tun, d.h. es ist eben nicht Kohlhaas, der sich hier seinem Feind oder seinen Feinden überlegen
weiß, sondern es ist Kleist.
"Wer mir sein Wort einmal gebrochen", sprach er, "mit dem wechsle ich keins mehr; und nur deine Forderung,
bestimmt und unzweideutig, trennt mich, gutes Mütterchen, von dem Blatt, durch welches mir für alles, was ich erlitten, auf
so wunderbare Weise Genugtuung geworden ist." Die Frau, indem sie das Kind auf den Boden setzte, sagte, dass er in mancherlei
Hinsicht recht hätte und dass er tun und lassen könnte, was er wollte!
Mit der Bitte an die Zigeunerin, sie möge ihm sagen, ob er den Zettel zu seiner Rettung oder zu seiner Rache gebrauchen solle, fragt Kohlhaas
noch einmal gewissermaßen seine Frau nach dem rechten Weg. Statt der Antwort, die er - 'bestimmt und unzweideutig' - von ihr erwartet,
überlässt sie ihm die Entscheidung jedoch selbst. Dabei gewinnt der Zettel plötzlich eine ganz andere Bedeutung.
Er wäre zwar auch wohl noch geeignet, Kohlhaas das Leben zu retten, weil der sächsische Kurfürst ihn dafür
befreien und in Sicherheit bringen will, aber er hat jetzt auch für Kohlhaas selbst einen Wert: er verschafft ihm
für alle seine Leiden auf 'wunderbare Weise Genugtuung'. Wie jedoch könnte das ein Zettel
mit einer Prophezeiung, die ihn gar nicht betrifft? Offenbar enthält dieser Zettel etwas, das über die Angaben zum
Machtverlust der kurfürstlichen Linie weit hinausgeht, eine Botschaft, ein Wissen, das Kohlhaas bzw. Kleist selbst angeht.
Das aber kann, da es ihn für ein ganzes erlittenes Leben entschädigt, eigentlich nur das Wissen um die
Dauerhaftigkeit seines Ansehens, also seines dichterischen Werkes sein. Kleist könnte dieses Werk 'hergeben' oder
hergegeben haben, um zu überleben oder sich ein Leben in gesicherten Bahnen zu erkaufen, doch das kommt nicht
infrage und wäre nie infrage gekommen. Selbst noch seinen Tod, hier schon wie ein Selbstopfer ins Auge gefasst, nimmt
er für diese Gewissheit in Kauf.
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Die Absicht, in der er kömmt, brauche ich dir nicht zu sagen; er will die Kapsel, sobald du verscharrt bist, ausgraben und den Zettel, der
darin befindlich ist, eröffnen lassen. - Deine Elisabeth.«
Mit dem Namen wird nicht nur die Identität der Zigeunerin mit Kohlhaasens Frau noch einmal angezeigt, es enthält auch ihre Warnung die
letzte Zustimmung dazu, dass er sein Wissen, sein 'Werk' nicht verrät. Ob der Frau im Leben Kleists eine bestimmte Person zuzuordnen ist,
ist nicht zu entscheiden, sie mag für alle Menschen stehen, die er sich nahe weiß.
... er nahm den Zettel heraus, entsiegelte ihn und überlas ihn, und das Auge unverwandt auf den Mann mit blauen und weißen
Federbüschen gerichtet, der bereits süßen Hoffnungen Raum zu geben anfing, steckte er ihn in den Mund und verschlang ihn.
Der Mann mit blauen und weißen Federbüschen sank bei diesem Anblick ohnmächtig in Krämpfen nieder.
Was Kohlhaasens - oder eben Kleists - Triumph in diesem Moment ausmacht, was er seinen Feinden im Vorausblick auf seinen Tod hier sagt,
hat Helga Gallas in ihrer Studie zu dieser Novelle so formuliert:
"Ihr versagt mir die Anerkennung, ihr schickt mir meine Schriftstücke zurück, ihr bringt mich um ein Recht. Ihr könnt
mich demütigen, ein unnützes Glied der Gesellschaft schimpfen, einen Größenwahnsinnigen, Querulanten, Hypochonder,
pathologischen Fall, einen verkrachten Junker, ihr könnt mich auf das Schafott bringen - ich aber sage Euch, ich erhalte Genugtuung
für die erlittene Kränkung ... ich bin größer als ihr alle, ich werde unsterblich sein, ich werde Goethe die Krone vom
Kopfe reißen - im Wort."

Was für Kohlhaas das Weiterleben seiner Söhne, der Ritterschlag für sie, eine über Jahrhunderte fortbestehende
Nachkommenschaft ist, das ist für Kleist die Gewissheit, nach seinem Tod mit seinem Werk alle diejenigen zu beschämen, die an ihn
nicht geglaubt, ihn behindert, ihn im Stich gelassen haben. Und eben diese Selbstvergewisserung nur ist es, die Kleist seinen Michael Kohlhaas
in der zweiten Hälfte der Novelle diesen zusätzlichen - unhistorischen - Weg bis zur Hinrichtung gehen lässt.
So gut die Novelle so zu erklären ist - kann der zwiespältige Eindruck, den sie wegen des immer wieder durchscheinenden
Autor-Bewusstseins insgesamt hinterlässt, damit aufgehoben werden? Wilhelm Dilthey hat 1860 zu seiner Kleist-Lektüre
angemerkt, dass er sich in diesem "Labyrinth der verworrensten Gemütsstimmung" wie verloren gefühlt habe:
"Sieht man so in diesen Novellen alles Tollste mit kalter Alltäglichkeit auftreten, schreckliche Begebnisse ohne einen Ton der Mitempfindung,
ohne einen Kontrast, als müßte das so sein und wäre überall so, die seltsamsten Charaktere ohne jede leise Ironie des Darstellers, als
wäre die Welt ein Tollhaus, vor uns hingestellt: so begreift man kaum, wie dieser Mensch das Leben so lange ertrug."
Auch wenn die Gefahr distanzloser Einfühlung in die Weltsicht des Michael Kohlhaas in der Schule kaum bestehen wird: man sollte nicht vergessen,
dass am Ende dieser Weltsicht ein Selbstmord stand. Auf einen kritischen Abstand zu ihr zu achten ist deshalb auch erzieherisch notwendig.