[Achter Teil]
Der Kurfürst, aus Gram und Ärger über alle diese missglückten Versuche, verfiel in eine neue Krankheit ...
Man könnte sich fragen, warum es den Kurfürsten bis fast zur Selbstvernichtung danach verlangt, diesen Zettel zu erhalten,
umso mehr, als auch seine Umgebung ihn nicht versteht. Wenn er wirklich darin lesen kann, was unabwendbar eintreten wird,
könnte er sich nicht ebenso entscheiden, das gerade nicht wissen zu wollen? Eine solche Frage zu stellen hat jedoch keinen Sinn.
Es ist dies ein Märchen-Element, so wie die ganze Zigeunerin-Geschichte Märchenzüge hat. Die Begierde des Kurfürsten
hinsichtlich dieses Zettels ist nur wichtig für Michael Kohlhaas, weil ihm damit ein Mittel an die Hand gegeben ist, sich zu
rächen.
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... so traf es sich, dass hier etwas geschehen war, das wir zwar berichten, die Freiheit aber, daran zu zweifeln, ... zugestehen müssen: der
Kämmerer hatte den ungeheuersten Missgriff begangen und in dem alten Trödelweib ... die geheimnisreiche Zigeunerin selbst getroffen ...
Der Einschub des Erzählers ist schon fast 'romantische Ironie', d.h. ein Erzählmoment, das auf das Arrangierte der Geschichte in
der Geschichte selbst hinweist. Zu Kleists Erzählweise passt dieses Moment allerdings so wenig, dass es hier nicht wirklich so zu
verstehen ist. Vielmehr soll die Wendung ins Märchenhafte damit glaubhafter gemacht werden: Der Erzähler muss zwar pflichtgemäß
berichten, was sich zugetragen hat, findet
es aber selbst so unwahrscheinlich, dass er es dem Leser nicht verdenken will, wenn er an der Tatsächlichkeit der Vorgänge
zweifelt. Die wahre romantische Ironie, wie man sie bei E.T.A. Hoffmann beispielsweise findet, bezieht den Leser augenzwinkernd in die
Erfundenheit des Erzählten ein (siehe unter
E.T.A. HOFFMANN).
Der Rosshändler, der eine sonderbare Ähnlichkeit zwischen ihr und seinem verstorbenen Weibe Lisbeth bemerkte ...
Die hier sich ankündigende Mystifikation der Zigeunerin läuft darauf hinaus, dass sie die aus dem Jenseits wiedergekehrte Frau
von Michael Kohlhaas, Elisabeth, ist. Sie muss es dann auch schon auf dem Marktplatz von Jüterbog sein, wo Kohlhaas sie ja
erst nach der Beerdigung seiner Frau zum ersten Mal trifft. Da seine Frau ihn noch auf dem Sterbebett gemahnt hat, seinen Feinden zu
vergeben, besagt die Beihilfe der Zigeunerin zu der jetzt anstehenden Vollendung seiner Rache nichts anderes, als dass seine Frau die
Vernichtung des Kurfürsten billigt, er ihren Segen dazu hat.
Kohlhaas, der über die Macht jauchzte, die ihm gegeben war, seines Feindes Ferse in dem Augenblick, da sie ihn in den Staub trat,
tödlich zu verwunden, antwortete: »Nicht um die Welt, Mütterchen, nicht um die Welt!«
Die Ferse des Feindes, die Kohlhaas in den Staub tritt, soll die des sächsischen Kurfürsten sein? Er ist an Kohlhaasens Hinrichtung
gar nicht beteiligt, will ihn sogar befreien - wie kann er aus seiner Sicht so beurteilt werden? Mit der Logik des Geschehens hat dieser
Triumph endgültig nichts mehr zu tun, d.h. es ist eben nicht Kohlhaas, der sich hier seinem Feind oder seinen Feinden überlegen
weiß, sondern es ist Kleist.
"Wer mir sein Wort einmal gebrochen", sprach er, "mit dem wechsle ich keins mehr; und nur deine Forderung,
bestimmt und unzweideutig, trennt mich, gutes Mütterchen, von dem Blatt, durch welches mir für alles, was ich erlitten, auf
so wunderbare Weise Genugtuung geworden ist." Die Frau, indem sie das Kind auf den Boden setzte, sagte, dass er in mancherlei
Hinsicht recht hätte und dass er tun und lassen könnte, was er wollte!
Mit der Bitte an die Zigeunerin, sie möge ihm sagen, ob er den Zettel zu seiner Rettung oder zu seiner Rache gebrauchen solle, fragt Kohlhaas
noch einmal gewissermaßen seine Frau nach dem rechten Weg. Statt der Antwort, die er - 'bestimmt und unzweideutig' - von ihr erwartet,
überlässt sie ihm die Entscheidung jedoch selbst. Dabei gewinnt der Zettel plötzlich eine ganz andere Bedeutung.
Er wäre zwar auch wohl noch geeignet, Kohlhaas das Leben zu retten, weil der sächsische Kurfürst ihn dafür
befreien und in Sicherheit bringen will, aber er hat jetzt auch für Kohlhaas selbst einen Wert: er verschafft ihm
für alle seine Leiden auf 'wunderbare Weise Genugtuung'. Wie jedoch könnte das ein Zettel
mit einer Prophezeiung, die ihn gar nicht betrifft? Offenbar enthält dieser Zettel etwas, das über die Angaben zum
Machtverlust der kurfürstlichen Linie weit hinausgeht, eine Botschaft, ein Wissen, das Kohlhaas bzw. Kleist selbst angeht.
Das aber kann, da es ihn für ein ganzes erlittenes Leben entschädigt, eigentlich nur das Wissen um die
Dauerhaftigkeit seines Ansehens, also seines dichterischen Werkes sein. Kleist könnte dieses Werk 'hergeben' oder
hergegeben haben, um zu überleben oder sich ein Leben in gesicherten Bahnen zu erkaufen, doch das kommt nicht
infrage und wäre nie infrage gekommen. Selbst noch seinen Tod, hier schon wie ein Selbstopfer ins Auge gefasst, nimmt
er für diese Gewissheit in Kauf.
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Die Absicht, in der er kömmt, brauche ich dir nicht zu sagen; er will die Kapsel, sobald du verscharrt bist, ausgraben und den Zettel, der
darin befindlich ist, eröffnen lassen. - Deine Elisabeth.«
Mit dem Namen wird nicht nur die Identität der Zigeunerin mit Kohlhaasens Frau noch einmal angezeigt, es enthält auch ihre Warnung die
letzte Zustimmung dazu, dass er sein Wissen, sein 'Werk' nicht verrät. Ob der Frau im Leben Kleists eine bestimmte Person zuzuordnen ist,
ist nicht zu entscheiden, sie mag für alle Menschen stehen, die er sich nahe weiß.
... er nahm den Zettel heraus, entsiegelte ihn und überlas ihn, und das Auge unverwandt auf den Mann mit blauen und weißen
Federbüschen gerichtet, der bereits süßen Hoffnungen Raum zu geben anfing, steckte er ihn in den Mund und verschlang ihn.
Der Mann mit blauen und weißen Federbüschen sank bei diesem Anblick ohnmächtig in Krämpfen nieder.
Was Kohlhaasens - oder eben Kleists - Triumph in diesem Moment ausmacht, was er seinen Feinden im Vorausblick auf seinen Tod hier sagt,
hat Helga Gallas in ihrer Studie zu dieser Novelle so formuliert:
"Ihr versagt mir die Anerkennung, ihr schickt mir meine Schriftstücke zurück, ihr bringt mich um ein Recht. Ihr könnt
mich demütigen, ein unnützes Glied der Gesellschaft schimpfen, einen Größenwahnsinnigen, Querulanten, Hypochonder,
pathologischen Fall, einen verkrachten Junker, ihr könnt mich auf das Schafott bringen - ich aber sage Euch, ich erhalte Genugtuung
für die erlittene Kränkung ... ich bin größer als ihr alle, ich werde unsterblich sein, ich werde Goethe die Krone vom
Kopfe reißen - im Wort."

Was für Kohlhaas das Weiterleben seiner Söhne, der Ritterschlag für sie, eine über Jahrhunderte fortbestehende
Nachkommenschaft ist, das ist für Kleist die Gewissheit, nach seinem Tod mit seinem Werk alle diejenigen zu beschämen, die an ihn
nicht geglaubt, ihn behindert, ihn im Stich gelassen haben. Und eben diese Selbstvergewisserung nur ist es, die Kleist seinen Michael Kohlhaas
in der zweiten Hälfte der Novelle diesen zusätzlichen - unhistorischen - Weg bis zur Hinrichtung gehen lässt.
So gut die Novelle so zu erklären ist - kann der zwiespältige Eindruck, den sie wegen des immer wieder durchscheinenden
Autor-Bewusstseins insgesamt hinterlässt, damit aufgehoben werden? Wilhelm Dilthey hat 1860 zu seiner Kleist-Lektüre
angemerkt, dass er sich in diesem "Labyrinth der verworrensten Gemütsstimmung" wie verloren gefühlt habe:
"Sieht man so in diesen Novellen alles Tollste mit kalter Alltäglichkeit auftreten, schreckliche Begebnisse ohne einen Ton der Mitempfindung,
ohne einen Kontrast, als müßte das so sein und wäre überall so, die seltsamsten Charaktere ohne jede leise Ironie des Darstellers, als
wäre die Welt ein Tollhaus, vor uns hingestellt: so begreift man kaum, wie dieser Mensch das Leben so lange ertrug."
Auch wenn die Gefahr distanzloser Einfühlung in die Weltsicht des Michael Kohlhaas in der Schule kaum bestehen wird: man sollte nicht vergessen,
dass am Ende dieser Weltsicht ein Selbstmord stand. Auf einen kritischen Abstand zu ihr zu achten ist deshalb auch erzieherisch notwendig.