[Siebenter Teil]
Sieben Monden mögen es etwa sein, genau am Tage nach dem Begräbnis meiner Frau; und von Kohlhaasenbrück, wie
Euch vielleicht bekannt sein wird, war ich aufgebrochen ...
Wenn es im
ZWEITEN TEIL heißt, Kohlhaas habe nach der Beerdigung noch drei
Tage in Kohlhaasenbrück auf die Erfüllung des Ultimatums an den Junker von Tronka gewartet, so ist dieser Widerspruch
lediglich ein Versehen. Es ist abwegig, aus solchen und anderen kleinen Ungenauigkeiten zu folgern, wir hätten es hier mit einem nicht
zuverlässigen, absichtlich sich widersprechenden Erzähler zu tun oder Kohlhaas selbst sage in der ganzen Zigeunerin-Geschichte
nicht die Wahrheit.
... als der Kurfürst von Sachsen und der Kurfürst von Brandenburg in Jüterbog ...
eine Zusammenkunft hielten; und da sie sich gegen Abend ihren Wünschen gemäß vereinigt hatten, so gingen sie in
freundschaftlichem Gespräch durch die Straßen der Stadt ...
Es ist eigentlich unrichtig, dass Kohlhaas die Zigeunerin-Geschichte so erzählt, als habe er die beiden Kurfürsten in Jüterbog
längere Zeit beobachtet, wo er doch den sächsischen Kurfürsten jetzt nicht einmal erkennt.
Aber es wirkt diese Geschichte ohnehin nur wie ein unpassender Zusatz, weshalb sie in den Erklärungen zu der Novelle
oftmals auch beiseite gelassen wird. Was Kleist mit ihr bezweckt, lässt sich aber durchaus verstehen, so sehr man immer der
Meinung sein kann, dass es sich um eine erzählerische Entgleisung handelt. So beanstandete 1821 schon Ludwig Tieck, dass
Kleist seine Leser im letzten Viertel der Novelle durch eine Traumwelt führe,
"die sich mit der vorigen, die wir durch ihn so genau haben kennen lernen, gar nicht vereinbaren will. Diese wunderbare Zigeunerin
[...] erinnert an so manches schwache Produkt unserer Tage und an die gewöhnten Bedürfnisse der Lesewelt, daß wir uns nicht ohne
eine gewisse Wehmut davon überzeugen, daß selbst so hervorragende Autoren wie Kleist (der sonst nichts mit diesen Krankheiten
des Tages gemein hat), dennoch der Zeit, die sie hervorgerufen hat, ihren Tribut abtragen müssen."
Die Annahme Tiecks, dass es sich hier nur um ein Zugeständnis an die Leser, nämlich deren Bedienung mit einer romantischen Mystifikation
handle, trifft allerdings den Kern nicht. Kleist hatte mit dem prophetischen Zettel, den er kaum anders als über eine solche mysteriöse
Konstruktion in die Handlung einbringen konnte, durchaus etwas Eigenes, ganz ihn selbst Angehendes im Sinn.
... versicherte ihn, dass ... nichts auf der Welt notwendiger wäre, als dem Kohlhaas diesen Umstand zu verschweigen, indem ... alle
Reichtümer, die er besäße, nicht hinreichen würden, ihn aus den Händen dieses grimmigen, in seiner Rachsucht
unersättlichen Kerls zu erkaufen.
Dass der Kämmerer schon von Kohlhaasens dem Kurfürsten geltender 'Rachsucht' weiß, ist eigentlich unverständlich oder
wäre nur mit seinem eigenen schlechten Gewissen zu erklären, denn so deutlich hat sich dessen Groll noch gar nicht gezeigt.
Offenbar bereitet Kleist als Erzähler die weitere Entwicklung des Geschehens mit dieser Einschätzung eher vor.
... der Rosshändler sagte, eingedenk der unedelmütigen und unfürstlichen Behandlung, die er in Dresden ... hatte erfahren
müssen ...
Dies ist die einzige Begründung, die es für den geradezu vernichtenden Hass von Kohlhaas gegen den sächsischen
Kurfürsten gibt. Kann man diesen Hass - aus der Sicht nur von Kohlhaas - verstehen? Hat der sächsische Kurfürst
unedelmütiger an ihm gehandelt als der brandenburgische, der eine an ihn gerichtete Bittschrift mit einer Strafandrohung
zurückgewiesen hat? (Dass es nur der Erzkanzler Graf von Kallheim war - siehe
ABSATZ 1 -
weiß Kohlhaas nicht.) Ja, hat nicht in Dresden eher Kohlhaas selbst es an der letzten Entschlossenheit fehlen lassen, von dem ihm
gewährten 'freien Geleit' den richtigen Gebrauch zu machen?
Dessen ungeachtet kommt es dem Jagdjunker gegenüber zu einem Hassausbruch gegen diesen Kurfürsten, wie er
sich zügelloser nicht denken lässt:
"Wenn Euer Landesherr käme und spräche, ich will mich mit dem ganzen Tross ... vernichten - vernichten, versteht Ihr, welches
allerdings der größeste Wunsch ist, den meine Seele hegt, so würde ich ihm doch den Zettel noch ... verweigern und sprechen: 'Du
kannst mich auf das Schafott bringen, ich aber kann dir weh tun, und ich will's!'"
Was, wenn nicht Kleists eigener Hass, könnte aus diesem Vergeltungs-Bedürfnis sprechen? Gemeint aber sind damit
alle die fürstlichen, adligen und sogar bürgerlichen Kreise, die ihn nicht hatten aufkommen lassen, und schon hier steht dahinter die
Gewissheit, dass ihn - Kleist - die erlittenen Zurücksetzungen das Leben kosten werden.