Teil 2
Die Dresdner Kindsmutter
S. 217 bis 220


Wie nun aber der Dresdner Frau auf die Spur kommen? Es läßt sich nur so vorgehen, daß man alle zu Beginn des Jahres 1849 in Dresden verzeichneten unehelichen Geburten überprüft und dann abwägt, welche jener Frauen ihrer Herkunft sowie früheren wie späteren Eintragungen nach als Bekannte Fontanes überhaupt infrage kommen. Auf seinen Namen selbst in den Dresdner Kirchenbüchern zu hoffen ist jedenfalls müßig - fände er sich dort, wäre er längst entdeckt. Er steht in ihnen auch nicht, doch sind immerhin die Bücher selbst für diese Zeit alle vorhanden, so daß der Geburtsfall urkundlich jedenfalls nicht für unauffindbar zu halten ist.12)

Die Zahl der unehelichen Geburten zu jener Zeit in Dresden ist hoch, bei einem Drittel oder mehr der Kinder ist ein lateinisches "sp." - für 'spurius' gleich 'uneheliches Kind' - hinter dem Namen vermerkt. Das war nicht typisch, sondern erklärt sich daraus, daß zumal bei unehelichen Geburten die Mütter auch weit aus dem Umland in die Stadt zum Entbinden kamen. Für die weitaus größte Zahl dieser Kinder ist der Name des Vaters jedoch angegeben, d.h. eine amtliche Inanspruchnahme Fontanes für sie scheidet aus. Nur für Kinder, bei denen ein "Vater unbekannt" hinter dem Namen steht, kommt sie infrage. Das aber sind in den ersten beiden Monaten des Jahres 1849, bevor er die betreffende Nachricht erhält, noch nicht einmal zwanzig, und so ist die Verfolgung der Namen ihrer Mütter durch ein Dutzend Dresdner Kirchenbücher durchaus nicht undurchführbar.

Das Ergebnis stellt sich dann aber noch als bei weitem deutlicher dar, als vorauszusehen. Nur fünf der Frauen, die Anfang 1849 ein Kind mit 'Vater unbekannt' in Dres|S:218|den geboren haben, sind überhaupt Dresdnerinnen, während alle anderen aus kleinen Orten der Dresdner Umgebung stammen, von wo aus sie nur zum Entbinden in die Stadt gekommen waren. Zugleich ist es für sie wie für die Mehrzahl der Dresdnerinnen aber auch jeweils das erste Kind, d.h. es handelt sich um die sprichwörtlichen Verführungs- oder Mißbrauchsfälle, bei denen der Vatersname vermutlich mit einer Abfindungszahlung unterdrückt wurde. Damit aber kommen diese Frauen für Fontane gleich zweifach nicht infrage. Zum einen sieht man nicht, wie er in ihre Heimatorte jemals gekommen sein soll, und zum anderen nicht, wie er - noch dazu als Verlobter - ohne eine längere Werbung mit ihnen hätte intim werden können. Für die einzige Frau aber, für die beides nicht gilt, ergeben sich zugleich so viele weitere passende Indizien, daß sie auch ohne diese Vergleichsbewertung gut für eine Bekanntschaft infrage kommt.

Jene Frau ist die am 10. April 1812 in Dresden geborene Augusta Emilia Adelheid Freygang, Tochter eines Schankwirts, zweimal verheiratet und schon mit 36 Jahren, als sie von dem acht Jahre jüngeren Fontane - vermutlich - das Kind, eine Tochter, empfängt, zum zweiten Mal Witwe. Nach den Einträgen der Dresdner Kreuzkirche bekam sie im ganzen zehn Kinder, davon nachweislich fünf uneheliche und ihr letztes noch im Alter von 39 Jahren, so daß sie also sicherlich nicht unattraktiv gewesen ist. Gestorben erst nach 187513), war und blieb sie aber auch gesund, hat also trotz dieser Kinderzahl nicht schlecht gelebt. Und: Sie wohnte in unmittelbarer Nähe der Salomonis-Apotheke, in einer der kurzen Gassen, die vom Neumarkt hinunter zur Elbe führen. Dort, in der damaligen Kleinen Fischergasse, hatte ihr Vater seine Schankwirtschaft, und für das Milieu genügt zu sagen, daß die Gasse, als sie 1882 in Brühlsche Gasse umbenannt wurde, allein deshalb diesen neuen Namen bekam, weil der alte aus der Vergangenheit her ein fester Begriff für das Dresdner Dirnenviertel gewesen war.14)

Warum aber dann noch das Augenmerk auf die Nähe zur Salomonis-Apotheke? Da die Frau seinen Namen nicht oder nicht zuverlässig angeben konnte, ist die Frage, wie sie ihn dann in Berlin überhaupt hat ausfindig machen können. Hier aber ist das Nächstliegende, an seine vormalige Tätigkeit in der Salomonis-Apotheke zu denken, die von der Kleinen Fischergasse keine zwei Minuten entfernt lag. Sie lebte auch damals - 1842/43 - schon dort, und gelegentliche Blicke in diese Gasse sind dem 23jährigen Fontane wohl zuzutrauen. Und nicht nur das. Schon vielen Lesern seines Erinnerungsbuches Von Zwanzig bis Dreißig ist aufgefallen, in welcher Kürze, ja geradezu Verlegenheit er über jene Zeit dort sich äußert. Vor allem verliert er kein Wort darüber, wie und wo er gewohnt hat, und so könnte er hier durchaus eine Spur haben verbergen wollen. An seinen Freund Wilhelm Wolfsohn schreibt er Januar 1848: "Hast Du denn aus den Leipziger und Dresdner Tagen her ganz vergessen, daß ein konditionierender Giftmischer ähnlich wohnt wie der Salzhering in seiner Tonne?" Und er teilt ihm mit, daß er ihn in Berlin nicht beherbergen könne, weil er in einer 'Schandkneipe' untergebracht sei, wo er sein Zimmer noch mit zwei Schlafgenossen teilen müsse.15) Somit könnte es auch in Dresden ein Zimmer in oder über |S:219|einer Kneipe und mithin auch eins in den Gassen zur Elbe hin gewesen sein, und wo nicht, ist jedenfalls seine Bekanntschaft mit diesen Gassen nur zu wahrscheinlich. Damals gab es in der Kleinen Fischergasse fünf Schankwirtschaften, und in den Häusern - nur zwölf - wohnten allerlei Witwen, Dienstboten und sonstige 'kleine Leute', für die das Vermieten oder Überlassen von Zimmern sicherlich die Regel war.

Die Wirtstochter Auguste Freygang gehörte nicht eben von Anfang an zum 'Milieu', aber die Einträge der Kreuzkirche können ihren Bezug dazu auch nicht verleugnen. Ihr erstes Kind bringt sie mit zwanzig zur Welt, und Vater ist ein sechs Jahre älterer Schlossergeselle, Friedrich Leopold Klein, aus dem Eisenhüttenwerk im zehn Kilometer entfernten Freital. Sie heiratet ihn im Jahr darauf auch und bringt dabei ein zweites Kind (wiederum eine Tochter, die erste war bald gestorben) in die Kirche zum Taufen mit.16) Doch nicht das ist auffällig. Auffällig ist, daß die Taufe erst mehrere Wochen nach der Geburt des Kindes erfolgt, dieses Kind als ihr erstes eingetragen wird und die Doppelzeremonie wenig feierlich an einem Dienstag stattfindet.17) Das läßt den Verdacht aufkommen, daß das Kind gar nicht von ihm war, sondern er in die Vaterschaft und Heirat nur wegen der Abfindung, die sie dafür bekam, eingewilligt hatte. Denn auch bei den nachfolgenden Kindern gibt es Unregelmäßigkeiten. Das nächste in der Kreuzkirche registrierte Kind, wiederum eine Tochter, wird vier Jahre später geboren, ist der Angabe nach aber bereits ihr viertes. Von den Kindern zwei und drei und dann - bis 1842 - noch von einem fünften gibt es weder in Dresden, noch in Freital, noch in dessen näherer Umgebung eine Spur. Natürlich ist nicht auszuschließen, daß sie ganz woanders geboren worden sind, doch wegen der Lebensumstände dieser Menschen ist es nicht besonders wahrscheinlich. Wahrscheinlicher ist, daß es wiederum uneheliche Kinder waren und sie sie deshalb gar nicht registrieren ließ, nämlich um Peinlichkeiten bei der Namensbestimmung zu vermeiden. Als ihr Mann im Februar 1843 stirbt - mit nur 37 Jahren, Hüttenarbeiter hatten eine nur geringe Lebenserwartung - ist sie jedenfalls eine Witwe mit fünf Kindern, vier Töchtern und einem Sohn, und diese Zahl wird auch durch die nachfolgenden Eintragungen bestätigt.

Ein gutes Jahr nach dem Tod des Mannes meldet sie als Witwe Klein wiederum ein Kind, einen Sohn, in der Kreuzkirche an, der Vater ist ein Schlossergeselle, und weitere anderthalb Jahre später, im Februar 1847, bekommt sie eine Tochter, als deren Vater ein Eisenbahnarbeiter eingetragen wird. Dabei fällt auf, daß für diese Kinder stets mehrere ordentliche Taufpaten benannt werden, darunter auch ein 'Gutsbesitzer' aus dem nahen Übigau, so daß sie also keineswegs als sozial deklassiert anzusehen ist. Den Eisenbahnarbeiter, einen Friedrich Wilhelm Machold, heiratet sie zwei Monate nach der Geburt des Kindes auch, doch stirbt er bereits ein dreiviertel Jahr später.18) Danach bringt sie noch zwei weitere uneheliche Kinder zur Welt: am 16. Januar 1849 die vermutliche Tochter Theodor Fontanes, Emilie Henriette Machold getauft19), und zwei Jahre danach einen Sohn, dessen Vater wiederum ein Schlossergeselle ist. So werden es im ganzen zehn Kinder, gezeugt von fünf oder mehr verschiedenen Männern - und so scheint über ihren Lebenswandel alles gesagt. Aber es |S:220|wäre doch falsch, in ihr einfach eine Prostituierte zu sehen. Dann hätte sie es vermieden, so regelmäßig schwanger zu werden, oder sie hätte die Kinder nicht ausgetragen. So jedoch hat man den Eindruck, daß sie von diesen Kindern auch mit gelebt hat, und ebenso hat sie sie einzusetzen versucht, sich wieder zu verheiraten. Darüber hinaus besitzt sie einen nicht unrespektablen Bekanntenkreis, und allem Anschein nach legte sie auch Wert auf die Einhaltung bürgerlicher Formen. Nicht zuletzt aber hat sie für alle registrierten Kinder - bis auf das von 1849 - die Väter anzugeben gewußt, könnte also auch Fontane identifiziert haben. So unüberschaubar, daß sie nicht wußte, mit wem sie zu tun gehabt hatte, war ihr Bekanntenkreis offensichtlich nicht.

Was aber könnte Fontane zur Zeit der Zeugung des Kindes - im Frühjahr 1848 - nach Dresden geführt haben? Denn eigentlich lebte er damals ja in Berlin und stand dort eng gebunden im Dienst bei der Jungschen Apotheke.20) Der Tag der Geburt des Kindes, der 16. Januar 1849, gibt einen Hinweis. Rechnet man die gewöhnlichen 270 Tage für eine Schwangerschaft zurück, so müßte er um den 21. April 1848 herum bei jener Frau gewesen sein - und am 23. April 1848 war Ostern. Ein Osterbesuch in Dresden - das ließ sich mit seinem Apothekendienst wohl vereinbaren. Und einen Anlaß für einen solchen Besuch könnte er auch gehabt haben, nämlich daß sein Freund Wilhelm Wolfsohn, den er zuvor für zwei Monate in Berlin untergebracht hatte, am 25. März nach Dresden umgezogen war.21) In Von Zwanzig bis Dreißig sagt er von einem solchen Besuch natürlich nichts, aber es gibt für diesen Zeitraum in seinem Bericht eine Lücke. Das dritte Kapitel des "Achtzehnter März" überschriebenen Teiles schließt mit dem Umritt des Königs am 21. März 1848, das vierte beginnt mit seiner eigenen aktiven Mitwirkung an den Wahlen zur 'Konstituante' am 1. Mai22), so daß der Monat April unbehandelt bleibt. Ein Aufenthalt von nur wenigen Tagen also vermutlich in Dresden - man versteht, warum er zehn Monate später ob der Folgen aus allen Wolken fällt. "Wozu gibt es auch zwei Feiertage?" seufzt Botho in Irrungen Wirrungen einmal wegen der weit weniger zeitpünktlich zu verstehenden Sorgen, die sich aus der ersten Begegnung mit Lene entwickelt haben, "es wär uns beiden besser gewesen, der Ostermontag wäre diesmal ausgefallen".23) Fontane mit seinem Dresdner Malheur könnte - und das sogar mit mehr Recht - gut vor ihm auf diesen Seufzer verfallen sein.

 
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©Bernd W. Seiler, November 1998