Teil 1
Die Forschungslage
S. 215 bis 217


Manche mögen noch immer für einen Scherz halten, was der knapp dreißigjährige und damals noch unverheiratete Theodor Fontane am 1. März 1849 an einen seiner Freunde schrieb, einen Scherz, weil es zu seiner sonstigen Redlichkeit und Umsicht so gar nicht zu passen scheint. Denke Dir", schrieb er an den zwei Jahre älteren Bernhard von Lepel,
'Enthüllungen No II'; zum zweiten Male unglückseliger Vater eines illegitimen Sprößlings. Abgesehn von dem moralischen Katzenjammer, ruf ich auch aus: "Kann ich Dukaten aus der Erde stampfen usw." Meine Kinder fressen mir die Haare vom Kopf, eh die Welt weiß, daß ich überhaupt welche habe. O horrible, o horrible, o most horrible! ruft Hamlets Geist und ich mit ihm. Das betreffende interessante Aktenstück (ein Brief aus Dresden) werd' ich Dir am Sonntage vorlegen, vorausgesetzt, daß Du für die Erzeugnisse meines penes nur halb so viel Interesse hast wie für die meiner Feder.1) 

Die besonderen Umstände, unter denen dieser Brief - erst 1960 - ans Licht kam, sprechen allerdings doch für seine Wahrheit. Von der Preußischen Staatsbibliothek 1929 aus dem Nachlaß Lepels erworben, hätte er eigentlich schon in den 1940 edierten Briefwechsel zwischen Fontane und Lepel gehört, doch der 75jährige Fontane-Sohn Friedrich wußte dies zu verhindern. Der Herausgeber konnte in einer Anmerkung lediglich den Hinweis unterbringen, daß Fontane damals dem Freund von 'illegitimer Nachkommenschaft' Mitteilung gemacht hatte.2) Das aber heißt auch: die legitime Nachkommenschaft war von der Wahrheitsgemäßheit jenes Bekenntnisses durchaus überzeugt, und so konnte erst mehr als ein halbes Jahrhundert nach Fontanes Tod, mit Erlöschen der Einspruchsrechte der Familie, der Brief veröffentlicht werden.

Daß sich in dem gesamten übrigen Nachlaß Fontanes, direkt aus dem Besitz der Familie von der Preußischen Staatsbibliothek übernommen, weiter kein Hinweis auf diese Kinder findet, kann deshalb nicht verwundern, doch bewegten sich die Vermutungen früh in eine bestimmte Richtung. Wegen der Auskunft Fontanes, die Vaterschaftsmitteilung habe ihn "aus Dresden" erreicht, drängte sich sofort die Frage auf, ob dann nicht beide Kinder aus derselben Verbindung stammten. Mit Dresden hatte er seit dem Frühjahr 1843, dem Ende seines Volontariats in der Salomonis-Apotheke, eigentlich keine Berührung mehr - konnte oder sollte dann nicht allein ein solches dort bereits bestehendes Verhältnis zu einem weiteren Kind daselbst geführt |S.216:|haben? Schon Hans-Heinrich Reuter in seiner Fontane-Biographie von 1968 behandelte diese Vermutung wie eine erwiesene Tatsache, erklärte, Fontane habe die Frau wahrscheinlich in seiner Apothekerzeit kennengelernt, und setzte die Geburt des ersten Kindes zwischen 1843 und 1845 an.3) Seither hat sich diese Version, da sie auch moralisch den scheinbar günstigsten Fall darstellt, weitgehend durchgesetzt, und nur ausnahmsweise noch wird man auf ihren hypothetischen Charakter aufmerksam gemacht.4)

So hat sie in einem gewissermaßen jüngsten Beitrag zu dem Thema auch Günter Grass in seinem Roman Ein weites Feld aufgegriffen und macht daraus eine ganze Geschichte. Demnach hätte Fontane in Dresden mit einer 18jährigen Gärtnerstochter angebändelt, die in der Salomonis-Apotheke immer Lebertran eingekauft habe. Bei Ruderbootfahrten auf der Elbe sei man sich nähergekommen, und abends habe er sie dann in ihrer in der Neustadt gelegenen Gärtnerei aufgesucht. Wegen der Geburt einer Tochter sei er auch nach seinem Wegzug von Dresden regelmäßig zu ihr gefahren, habe 1849 eine zweite Tochter mit ihr gehabt, die jedoch mit zwei Jahren an Diphterie gestorben sei, und habe erst mit seiner Heirat das Verhältnis beendet.5) Später habe er diese Erlebnisse in dem Roman Irrungen Wirrungen verwertet, so daß also Lene Nimptsch eine Art Porträt seiner Dresdner Liebschaft sei.6)

So weit, so unterhaltlich - doch wirklich "vorzüglich erfunden", wie es in der jüngsten Fontane-Biographie anerkennend heißt?7) Dies mitnichten, sondern eher geeignet, das Unwahrscheinliche dieser ganzen Annahme sichtbar zu machen. Zunächst: Botho von Rienäcker, der Liebhaber in Irrungen Wirrungen, ist um die dreißig, Baron und Offizier, und so läßt sich ein solches Verhältnis unschwer vorstellen. Doch der junge Fontane? Der war Anfang zwanzig, unscheinbar und ein Habenichts, nicht einmal die Bahnfahrt von Berlin oder Brandenburg aus nach Dresden hätte er sich regelmäßig leisten können. Und wie stellen wir uns das Verhältnis moralisch für ihn vor? Er hätte also einer jungen Frau, sonst unbescholten, zwei Kinder gemacht, ihr jahrelang seine Besuche abgestattet, an Heirat aber nicht gedacht? Und obendrein hätte er sich - das erste Kind zwei Jahre alt - auch noch mit der mittellosen Emilie Rouanet-Kummer verlobt, die er fünf Jahre auf eine Heirat warten lassen mußte? Ihm das anzudichten ist eigentlich unerhört, es erklärt ihn - bei aller Romantik - schon fast zu einem Lumpen und stellt im Grunde die schlimmste Variante dar, die sich überhaupt zu dieser Sache vorstellen läßt.8)

Was nun aber stattdessen? Tatsächlich enthält Fontanes Brief gleich mehrere Aussagen, die in eine ganz andere Richtung weisen. Die erste: Das Schreiben, das ihm aus Dresden zugestellt wird, ist ein "Aktenstück" mit einer Zahlungsaufforderung, und es trifft ihn völlig überraschend. Es ist mithin kein Schreiben der Frau selbst, von deren Schwangerschaft er keine Ahnung hatte, sondern kann der Rechtslage nach nur das Schreiben eines amtlich bestellten Vormunds sein, der - wie bei unehelichen Kinder üblich - den Vater aufzufinden und ihn zu Zahlungen heranzuziehen hatte.9) Wie kann man dann aber annehmen, daß er mit jener Frau seit Jahren in regelmäßiger Verbindung stand? Und zweitens: Wer schreibt "Denke Dir, Enthüllungen |S.217:|No II", wenn, wie unterstellt, 'Enthüllung No I' mehrere Jahre zurückliegt? Das Verhältnis zu Lepel war schon 1846 eng genug, daß er ihm von einem unehelichen Kind hätte Mitteilung machen können, aber niemand doch würde sich auf einen so weit zurückliegenden Zeitpunkt mit einer Folgeziffer beziehen. Und schließlich ist auch noch zu bedenken, daß Fontane mit keinem Wort die Möglichkeit oder gar das Verpflichtetsein zu einer Heirat berührt. Stattdessen spottet er bloß über eine "unglaubliche Leistungsfähigkeit, da wo sie füglicherweise zu entbehren wäre".10) Das läßt eher auf kurzzeitige, vielleicht sogar bezahlte Kontakte schließen, und da 'Enthüllung No I' nicht allzu lange zurückliegt, muß es sich dabei um eine andere Frau als die aus Dresden gehandelt haben.

Wer Fontane solche Beziehungswillkür nicht zutraut, sollte die Episode nachlesen, die er im Tagebuch seiner ersten Englandreise, also aus seinem 25. Lebensjahr, erzählt. Hier kommt er auf der Rückfahrt nach Berlin mit einer vorgeblich verheirateten, etwa acht Jahre älteren Frau ins Gespräch, die sich ihm alsbald als "äußerst poussierbar" darstellt. In der Hoffnung auf Intimitäten spendiert er ihr eine Limonade, bezahlt einen Gepäckträger und geleitet sie zuletzt mit einer Droschke bis zu ihrem Haus. Dort jedoch, da er sich ihr als 'Student' zu erkennen gibt, wird er umstandslos von ihr stehengelassen. "Ochse!" notiert er, nachdem er eine Ausgabe von zehn Silbergroschen zu ihren Gunsten zusammengezählt hat11) - und gibt so zugleich zu verstehen, daß ihm eine solche Fehlinvestition bis dahin weder passiert ist noch ein zweites Mal passieren soll.
 

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©Bernd W. Seiler, November 1998