Teil 5
Fontanes Familie
S. 228 bis 230


Wenn nun aber Fontane dieser Aspekt der Weiterexistenz der Stechline über ein uneheliches Kind so erkennbar wichtig war, warum hat er ihn dann nicht deutlicher zum Ausdruck gebracht? Als erstes wird man hier natürlich an die Öffentliche Meinung denken, die für eine allzu deutliche Hervorhebung illegitimer Nachkommen wenig Verständnis aufgebracht hätte. Erinnert sei nur an die Schwierigkeiten, die es mit der Zeitschriften-Veröffentlichung von Stine oder mit Irrungen Wirrungen gab, in welchem Zusammenhang Fontane an seinen Sohn Theodor schrieb: "Empörend ist die Haltung einiger Zeitungen, deren illegitimer Kinderbestand weit über ein Dutzend hinausgeht (der Chefredakteur immer mit dem Löwenanteil), und die sich nun darin gefallen, mir 'gute Sitte' beizubringen. Arme Schächer!"58) Indessen bleibt gegen eine solche Erklärung doch einzuwenden, daß im Stechlin der Vaterschaftsfall weder so heikel - Dubslav ist ja verwitwet - noch als Handlungselement so um jeden Preis erforderlich war. Fontane hätte ihn also ebensogut deutlicher behandeln wie auf ihn verzichten können. So, wie der Roman rezipiert wurde, ist ja das Wesentliche, die Zuneigung eines Adligen zu einem Kind aus der Unterschicht, auch ohne dieses Element verstanden und angenommen worden. Warum also dieses Element gleichwohl, noch dazu, wo es von der sozialen Botschaft eher sogar etwas wegnimmt?

Will man darin nicht ein Geheimrezept Fontanes gegen die Degeneration des Adels sehen, bleibt nur zu folgern, daß ihm diese heimliche Vaterschaft aus ganz persönlichen Gründen unverzichtbar war. Das aber bedeutet auch: Verheimlicht wurde sie |S.229:|weniger vor der Öffentlichkeit als vor denjenigen, die diese persönliche Bedeutung erkennen oder ahnen konnten, also vor seiner eigenen engeren Umgebung und zumal vor seiner Familie. Bei der äußerst naheliegenden und dann ja auch vorgenommenen Identifizierung der Ansichten, Einstellungen und Erfahrungen des alten Stechlin mit seinen eigenen hätte sich sofort die Frage gestellt, ob nicht auch die Zuneigung zu einem solchen unehelichen Kind in seinem Leben eine Rolle gespielt hatte, und so mußte es gegenüber denen, die es für möglich halten konnten, verborgen werden. Agnes Dubslavs Tochter? Wie kommt ihr darauf? Ihr wollt Euch doch nicht die Borniertheit dieser Adelheid zu eigen machen usw. - bei der Art, wie er die Sache konstruiert hatte, war ihm aus dem Text heraus nicht leicht etwas zu beweisen. Und tatsächlich hat ja auch weder die damalige Kritik (die sich auch wohl gehütet hätte, hier einen Argwohn zu formulieren, der nur auf sie selbst zurückgefallen wäre) noch später die Literaturwissenschaft diesen Zusammenhang entdeckt oder - vorsichtiger gesagt - ihn ausgesprochen.

Da es ihn aber gibt und Fontane ihn so beflissen unkenntlich gemacht hat, wird an seinem Interesse wie an seiner Befangenheit in dieser Hinsicht auch etwas daran gewesen sein. Infrage käme dafür aber nur das erste, wahrscheinlich in Berlin geborene Kind, für das ja auch nur unter dieser Bedingung die Möglichkeit, es irgendwie im Auge zu behalten, bestanden hätte. Andererseits war das lange her, an die fünfzig Jahre, als er den Stechlin schrieb, und so wirkt es als Element einer Alterserfahrung doch wiederum wenig wahrscheinlich. Was aber sonst? - Es läßt sich auch an die Nachkommens-Situation unter seinen Kindern denken, die unter dem Gesichtspunkt des familiären Fortbestandes alles andere als befriedigend war. Von den vier Kindern, die aus seiner Ehe mit Emilie Rouanet-Kummer hervorgegangen bzw. übriggeblieben waren (drei waren nach der Geburt gestorben), hatte nur der zweite Sohn, Theodor, zu Fontanes Lebzeiten wiederum Kinder, einen Sohn und zwei Töchter, doch an ihnen war sein Interesse nicht allzu groß.59) Der Älteste, Georg, war ein Jahr nach seiner Heirat, ohne Kinder zu hinterlassen, gestorben, die Tochter Martha blieb bis zu Fontanes Tod unverheiratet, und auch der Jüngste, Friedrich, hat zu Fontanes Lebzeiten legitime Nachkommen nicht gehabt.

Wohl aber hatte er ein uneheliches Kind, einen 1892 geborenen Sohn, und später - 1901 - auch noch eine uneheliche Tochter, und so kommt auch für ihn der Aspekt der unehelichen Nachkommenschaft wiederum infrage. Wie erst seit kurzem durch eine umfangreiche biographische Darlegung von Helmuth Nürnberger aufgeklärt60), unterhielt jener, der Verleger Friedrich Fontane, ein Jahrzehnt lang ein eben solches Verhältnis zu einer Frau, wie man es Fontane selbst unterstellt oder wie es Günter Grass ihm angedichtet hat. Es handelte sich um die Tochter eines Maurermeisters, die Modistin Agnes Hett, die zu heiraten trotz der beiden Kinder, die er mit ihr hatte, für Friedrich Fontane offenbar nicht infrage kam. Zunächst nahm er noch zur Zeit jenes Verhältnisses - 1897 - die Rentierstochter Frieda Lehmann zur Frau, von der er jedoch im Jahr darauf wieder geschieden wurde.61) Sodann heiratete er ein Jahr nach der Geburt des zweiten Kindes die Kaufmannswitwe Dina Toerpisch, mit der er |S.230:|später ebenfalls noch ein Kind, einen Sohn, hatte. Für die Modistin arrangierte er eine 'Namensehe' (sie wurde sofort wieder geschieden), damit sie ferner nicht als ledige, sondern als geschiedene Frau gelten konnte. Über die lebenslangen Identitätsprobleme, die zumal ihr Sohn durch die nicht legitimierte Abkunft von Friedrich bzw. Theodor Fontane hatte, geben seine Aufzeichnungen betrübliche Auskunft.

Diesen Aufzeichnungen zufolge nun soll es Fontane selbst gewesen sein, der sich der Ehe seines Sohnes mit Agnes Hett widersetzt und sie dadurch verhindert hätte, und dies, obwohl er diese und das Kind sogar zu sich zu Besuch gebeten habe. Sehr überzeugend wirkt diese Familienüberlieferung freilich nicht, zum einen nicht, weil auch die Ehe mit Frieda Lehmann von Fontane mißbilligt wurde62) und jenen von einer Heirat nicht abhielt, zum anderen nicht, weil es auch nach Fontanes Tod und der Geburt des zweiten Kindes zu einer Ehe mit jener Frau nicht kam. Darüber hinaus geht jener uneheliche Sohn davon aus, daß die erste Ehe Friedrich Fontanes noch vor dem Verhältnis zu seiner Mutter geschlossen und wieder geschieden wurde, war sich der sogar zweimaligen Abwendung von ihr also gar nicht bewußt.63) Mithin könnte man eher umgekehrt - eben im Hinblick auf die uneheliche Agnes im Stechlin - vermuten, daß Fontane, als er von diesem Kind erfuhr, sich mit dem Gedanken illegitimer Nachkommen auch im Hinblick auf diesen Sohn noch einmal auseinanderzusetzen hatte und zu dem Standpunkt fand, daß ein namentliches Fortbestehen, wenn es nur die 'richtigen' Menschen waren, zuletzt nicht so wichtig war. Dies könnte ihm zumal für 'Friedel', wie er ihn nannte, wichtig gewesen sein, da ihm dieser neben der Tochter Martha im Alter am nächsten stand.

War es dies, was ihn der Agnes im Stechlin eine solche Rolle und Bedeutung geben ließ? Oder war es die Erinnerung an das lange zuvor geborene eigene uneheliche Kind? Oder war es nur allgemein der Gedanke einer Absage an den Abstammungs- oder Nachkommensstolz, den er dann freilich nur sonderbar heimlich und unausdrücklich zu äußern gewagt hätte? Es wird sich wohl nicht mehr klären lassen. Soviel aber läßt sich festhalten, daß ihm die Existenz solcher Kinder - und eben auch die eines eigenen oder eines Sohneskindes - weniger gleichgültig war, als es die einzig überlieferte Bemerkung aus dem Brief an Lepel zu erkennen gibt. Aber auch seine Berührung und Bekanntschaft mit dem Milieu, in dem solche Kinder aufwuchsen, hat er mit mehr persönlichem Anteil in sein Werk einbezogen, als bisher wahrgenommen worden ist. Wenn aber, wie anzunehmen, dieser Anteil zumal die Witwe Pittelkow betrifft, die weniger sein Geschöpf als eine Art Jugenderinnerung aus seinen Dresdner Tagen gewesen sein dürfte - unserer Sympathie für ihn wie für diese Gestalt wird es keinen Abtrag tun.

Eine stark gekürzte Darstellung des Dresdner Kindschafts-Falles erschien nach Veröffentlichung dieses Aufsatzes unter dem Titel Aber die Witwe Pittelkow! in der ZEIT Nr.46 /1998 (Volltext).

 
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©Bernd W. Seiler, November 1998