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0bwohl sich zu dem ersten der Kinder nichts feststellen läßt, gibt die Konstellation eines anderen seiner Romane jedoch Anlaß zu fragen, ob es anders als das zweite nicht überlebt haben und irgendwo in seiner Nähe groß geworden sein könnte. Es handelt sich um den Stechlin und darin um die zehnjährige Agnes, die uneheliche Tochter von Karline, einer Plätterin. Von der Fontane-Literatur bislang unbeachtet, ist dieses Kind nämlich zugleich die Tochter des alten Stechlin, und da dieses Kindschaftsverhältnis innerhalb des Romans in dem gleichen Maße mit Bedeutung belegt wie versteckt wird, stellt sich die Frage, ob Fontane nicht auch darin etwas ihn persönlich Berührendes hat zum Ausdruck bringen wollen.
Wie bekannt, holt sich der erkrankte Dubslav das Mädchen in seinen letzten Lebenswochen ins Haus, weil er von einer früheren Begegnung her an ihm hängt und außerdem seiner Schwester, der Domina von Kloster Wutz, auf diese Weise das Bleiben an seiner Seite verleiden kann. Sie argwöhnt nämlich, daß es sich um sein eigenes Kind handeln könnte, und findet sein Verhalten entsprechend anstößig. "Wie kommst du |S.225:|zu dem Kind?", fragt sie ihn wiederholt, bemerkt etwas von 'Klapperstorch' und erklärt, daß sich sein Sohn Woldemar über diesen Umgang kaum freuen würde. Und beendet werden ihre Vorhaltungen mit dem Wortwechsel: "Und dir trau ich ganz und gar nicht, und der Karline natürlich erst recht nicht, wenn es auch vielleicht schon eine Weile her ist." Darauf Dubslav: "Sagen wir 'vielleicht'." Dazu sie: "Du willst das wegwitzeln, das ist so deine Art. Aber unser Kloster ist nicht so aus der Welt, daß wir nicht auch Bescheid wüßten."45) Das läßt einen Zweifel nicht zu, ist aber merkwürdigerweise von der Sekundärliteratur bislang stets nur in dem Sinn gedeutet worden, daß die Domina ihren Bruder zu Unrecht verdächtigt und damit nur sich selbst eine Blöße geben soll. "Adelheid schreckt nicht davor zurück, anzudeuten, daß auch Dubslav als Vater von Agnes in Frage komme", schreibt Manfred Allenhöfer, obwohl er die Bedeutung, die Agnes als "soziales Vermächtnis" für Dubslav hat, ganz richtig erkennt.46) Ist jedoch die Annahme einer grundlosen Bezichtigung gerechtfertigt? Einen solchen Verdacht durch eine Romanfigur aussprechen zu lassen, ohne ihn, wenn er falsch sein soll, durch deutliche Hinweise zu entkräften, wäre schon merkwürdig genug - denn wie soll der Leser erkennen, daß an der Sache nichts dran ist? In diesem Falle fehlt es aber nicht nur an einer solchen Entkräftung, es gibt sogar eindeutige Signale, daß die Domina keineswegs etwas Falsches vermutet oder unterstellt. Mit anderen Worten: der Roman muß an dieser Stelle wirklich anders als bisher gelesen und zumal sein Schluß vor diesem Hintergrund neu interpretiert werden. Das Thema des oder der unehelichen Kinder taucht im Stechlin schon früh, nämlich erstmals bereits im dritten Kapitel auf. Es ist an der von Dubslav arrangierten abendlichen Tafel, daß das Gespräch darauf kommt - oder darauf kommen könnte, wenn Dubslav selbst dies nicht verhindern würde. Der betreffende Satz - es ist nur ein einziger - lautet im ganzen: |
Rex, der, wenn er dienstlich oder außerdienstlich aufs Land kam, immer eine Neigung spürte, sozialen Fragen nachzuhängen und beispielsweise jedesmal mit Vorliebe darauf aus war, an das Zahlenverhältnis der in und außer der Ehe geborenen Kinder alle möglichen, teils dem Gemeinwohl, teils der Sittlichkeit zugute kommenden Betrachtungen zu knüpfen, hatte sich auch heute wieder in einem mit Pastor Lorenzen angeknüpften Zwiegespräch seinem Lieblingsthema zugewandt, war aber, weil Dubslav durch eine Zwischenfrage den Faden abschnitt, in die Lage gekommen, sich vorübergehend statt mit Lorenzen mit Katzler beschäftigen zu müssen, von dem er zufällig in Erfahrung gebracht hatte, daß er früher Feldjäger gewesen sei. Das gab einen guten Gesprächsstoff ... |
Rex spricht mit Lorenzen über uneheliche Kinder und Dubslav schneidet ihm längs über den Tisch hinweg durch eine Zwischenfrage den Faden ab - was könnte ihm an einem solchen Gespräch unangenehm sein? Prüderie ist es doch gewiß nicht, und der freisinnige Lorenzen wäre auch der letzte, den er vor einem solchen Thema in Schutz nehmen müßte. Also ist es ihm wohl peinlich, dieses Thema in seinem Hause und noch dazu mit dem bestinformierten Mann der Gemeinde erörtert zu sehen - schließlich sitzt sein Sohn Woldemar direkt zwischen Rex und Lorenzen. |
"So, so, Karlinens. Is sie denn noch in Berlin? Und wird er sie denn heiraten? Ich meine den Rentsch in Globsow." "Ne, he will joa nich." "Is aber doch von ihm?" "Joa, se segt so. Awers he seggt, he wihr et nich." Der alte Dubslav lachte. "Na hört, Buschen, ich kann's ihm eigentlich nich verdenken. Der Rentsch ist ja doch ein ganz schwarzer Kerl. Und nun seht Euch mal das Kind an." "Dat hebb ick ehr ook all seggt. Un Karline weet et ook nich so recht un lacht man ümmer. Un se brukt em ook nich." "Geht es ihr denn so gut?" "Joa; man kann et binah seggen. ..." |
Daß das Kind nicht von Rentsch ist, hat Dubslav offenbar schon angenommen, und auch die Tatsache, daß Karline keine Existenzsorgen hat, überrascht ihn nicht weiter. Sie "lacht man ümmer" und braucht keinen Mann, d.h. für das Kind ist gesorgt und in gewissen Grenzen auch wohl für sie.A) Sollte dieses Kind, das Dubslav in der Stunde seines Lebensrückblicks wie eine Offenbarung gegenübertritt, also nicht von ihm sein? Daß die Szene eine atmosphärisch besondere ist, ist unverkennbar, und auch in der Kapitelfolge ist sie markiert: am Schluß des 23. Kapitels stehend, bildet sie von den 46 Kapiteln genau die Mitte. Nicht zuletzt aber gibt es noch ein inhaltliches Element, das einen Hinweis dieser Art enthält: die Enzianstauden in der Hand des Kindes. Enzianstauden in Brandenburg?B) Heimisch sind sie dort nicht, der Enzian ist eine Hochgebirgspflanze, wie Fontane als Apotheker wegen der Heilbedeutung der Enzianwurzel - aber auch sonst natürlich - fraglos gewußt hat.48) Ebenso aber kannte er den heilkundlich üblichen Namen dieser Pflanze: Gentiana - stammverwandt mit griechisch genos, lateinisch gens, genus usw., also mit dem Wort für Sippe, Geschlecht, Abstammung, Herkunft.49) Die sonderbar fremde, geradezu falsche Beigabe der Enzianstauden, die das Kind wie ein Zeichen vor sich herträgt, soll also wirklich |S.227:|ein Zeichen sein: das Kind gehört zu ihm, zu seinem Geschlecht, mag auch die Beziehung zu dessen Mutter 'vielleicht', wie er seiner Schwester gegenüber kokett bemerkt, seit längerem beendet sein. Daß die Schwester dann allein durch Agnes' Aufnahme dazu bewogen werden kann, sein Haus zu verlassen, ist ebenfalls wieder bezeichnend, insofern nämlich Dubslav diese Wirkung von vornherein berechnen kann und vorhersieht. Er weiß also, was seine Schwester an der Aufnahme des Kindes empören wird - und sie sagt ihm seine Vaterschaft dann ja auch auf den Kopf zu. Er bestreitet sie auch nicht, sondern gebraucht nur Ausflüchte, d.h. zwischen ihm und ihr ist die Sache klar. Deshalb behält er Agnes auch bei sich, als sie abgereist ist, immer wieder betonend, wie tröstlich ihm ihr Anblick sei. Und schließlich, als er sich klar wird, was er dem Kind an Langeweile damit wohl zumutet, folgt auch noch das Geständnis: "Und alles bloß, weil ich alter Sünder ein freundliches Gesicht sehn will."50) Dann aber erteilt der 'alte Sünder' - und was, wenn nicht seine Vaterschaft könnte diesen Ausdruck für ihn rechtfertigen! - Agnes eine Art Segen, bei dem das Kind vor ihm niederkniet und ihm die Hände küßt - wie zum Dank für die halb ausgesprochene Versicherung, daß er auch für die Zeit nach seinem Tod Vorsorge für sie getroffen habe.51) Warum ist ihm - Dubslav - dieses Kind so wichtig? Immer naheliegend ist natürlich der Hinweis auf Fontanes Sympathien für den 'vierten Stand' und seine Überzeugung, daß die Gesellschaft nur 'von unten' her sich erneuern und gesünderen Verhältnissen Platz machen kann.52) Darüber hinaus hat die Zuneigung zu Agnes aber auch eine familiengeschichtliche bzw. genetische Seite, und sie wird ebenfalls in der Handlung zum Ausdruck gebracht. Es geht darum, daß sein einziger Sohn Woldemar keine Nachkommen haben wird, die Familie von Stechlin also mit ihm ausstirbt. Ableiten läßt sich das daraus, daß beim Einzug des jungen Paares in Schloß Stechlin seit der Heirat Ende Februar sieben Monate vergangen sind, ohne daß über sich ankündigenden Nachwuchs ein Wort verloren wird. Die einzige Aussage zur Kinderfrage ist die, daß man sich der jungen Agnes annehmen müsse, wie Armgard von sich aus verspricht.53) Das Einzugsdatum aber ist der 21. September, Herbstanfang, und es gibt einen so offensichtlichen Zeitsprung auf diesen Tag hin, daß an seiner symbolischen Bedeutung kein Zweifel sein kann. Den Schluß des Romans aber bildet der bekannte Satz: "Es ist nicht nötig, daß die Stechline weiterleben, aber es lebe der Stechlin." Wie wichtig Fontane dieser Aspekt, also die Nichtfortpflanzung der Familie, war, zeigt sich noch deutlicher an den Vorfassungen des Schlusses. Die früheste in diese Richtung weisende Ausgestaltung lautet: |
Ein Jahr war um. ... Melusine kam auf Besuch. Sie wechselte Briefe mit Lorenz. In einem Briefe hieß es: Ich erfahre, daß meine Schwester in ein Bad soll. Ich bin ganz dagegen, was Sie, der Sie mich kennen, nicht allzu überraschen wird. ... Ich habe kein Familiengefühl, und die Frage nach dem Fortbestand der Stechline beschäftigt mich sehr wenig. Mich beschäftigt nur, ob die richtigen Menschen an der richtigen Stelle sind... |
|S.228:| In diesem Fall soll das Ausbleiben von Nachwuchs also noch - wie bei Käthe von Rienäcker in Irrungen Wirrungen - mit einer Badekur behoben werden, was aber als verfehlt bereits mit einbezogen wird. Dies wird dann in einem zweiten Entwurf verkürzt zu der Form: |
...das Eintreffen Woldemars und der jungen Frau in Stechlin wird nur ganz kurz (wenige Zeilen) erzählt, und dann schließt ein Brief Melusinens an Lorenz: Ich liebe meinen Schwager, und meine Schwester liebe ich mehr als mich selbst. Aber trotzdem, die Frage des Fortbestandes der Stechline beschäftigt mich wenig. Sind keine da, so sind andre da. Dies alles interessiert mich nicht. Mich interessiert nur, daß Leute da sind, die wissen, was in der Welt los ist.54) |
Wegen der Kinderlosigkeit von Woldemars Ehe - übrigens auch von Dubslav vorausgesehen55) - kann folglich nur über Agnes das Stechlinsche Erbe weitergegeben werden, und ohne Frage wird eben dies in ihrer Person auch erhofft. Wiederholt drückt Dubslav sein Wohlgefallen an der schon erkennbaren erotischen Anziehungskraft des Mädchens aus und läßt sich auch durch die bedenklichen Bemerkungen anderer darin nicht beirren. "Sie dreht sich schon wie 'ne Puppe, und dazu das lange blonde Zoddelhaar", sagt er vergnügt zu seinem Diener, dessen Einwand, daß sie in Gefahr sei, "wie die Karline" zu werden, er nicht hören will. "Vielleicht wird sie auch 'ne Nonne", bescheidet er ihn nur mit dem ironischen Gegenteil.56) Bereits bei der ersten Begegnung aber macht er der Großmutter gegenüber die angesichts einer Zehnjährigen eigentlich schon unerhörte Bemerkung: "Aber Ihr müßt aufpassen, sonst habt Ihr 'nen Urenkel, Ihr wißt nicht wie."57) |
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