Theodor Fontane: "Effi Briest"alte /neue Rechtschreibung Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
Neunundzwanzigstes Kapitel
Sprung zu Absatz01n Am Abend desselben Tages traf Innstetten wieder in Berlin ein. Er war mit dem Wagen, den er innerhalb der Dünen an dem Querwege zurückgelassen hatte, direkt nach der Bahnstation gefahren, ohne Kessin noch einmal zu berühren, dabei den beiden Sekundanten die Meldung an die Behörden überlassend. Unterwegs (er war allein im Kupee) hing er, alles noch mal überdenkend, dem Geschehenen nach; es waren dieselben Gedanken wie zwei Tage zuvor, nur dass sie jetzt den umgekehrten Gang gingen und mit der Überzeugtheit von seinem Recht und seiner Pflicht anfingen, um mit Zweifeln daran aufzuhören. »Schuld, wenn sie überhaupt was ist, ist nicht an Ort und Stunde gebunden und kann nicht hinfällig werden von heute auf morgen. Schuld verlangt Sühne; das hat einen Sinn. Aber Verjährung ist etwas Halbes, etwas Schwächliches, zum mindesten was Prosaisches.« Und er richtete sich an dieser Vorstellung auf und wiederholte sich's, dass es gekommen sei, wie's habe kommen müssen. Aber im selben Augenblicke, wo dies für ihn feststand, warf er's auch wieder um. »Es muss eine Verjährung geben, Verjährung ist das einzig Vernünftige; ob es nebenher auch noch prosaisch ist, ist gleichgültig; das Vernünftige ist meist prosaisch. Ich bin jetzt fünfundvierzig. Wenn ich die Briefe fünfundzwanzig Jahre später gefunden hätte, so war ich siebzig. Dann hätte Wüllersdorf gesagt: 'Innstetten, seien Sie kein Narr.' Und wenn es Wüllersdorf nicht gesagt hätte, so hätt es Buddenbrook gesagt, und wenn auch der nicht, so ich selbst. Dies ist mir klar. Treibt man etwas auf die Spitze, so übertreibt man und hat die Lächerlichkeit. Kein Zweifel. Aber wo fängt es an? Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen noch ein Duell und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren oder vielleicht schon bei zehnundeinhalb heißt es Unsinn. Die Grenze, die Grenze. Wo ist sie? War sie da? War sie schon überschritten? Wenn ich mir seinen letzten Blick vergegenwärtige, resigniert und in seinem Elend doch noch ein Lächeln, so hieß der Blick: 'Innstetten, Prinzipienreiterei ... Sie konnten es mir ersparen und sich selber auch.' Und er hatte vielleicht Recht. Mir klingt so was in der Seele. Ja, wenn ich voll tödlichem Hass gewesen wäre, wenn mir hier ein tiefes Rachegefühl gesessen hätte ... Rache ist nichts Schönes, aber was Menschliches und hat ein natürlich menschliches Recht. So aber war alles einer Vorstellung, einem Begriff zu Liebe, war eine gemachte Geschichte, halbe Komödie. Und diese Komödie muss ich nun fortsetzen und muss Effi wegschicken und sie ruinieren und mich mit ... Ich musste die Briefe verbrennen und die Welt durfte nie davon erfahren. Und wenn sie dann kam, ahnungslos, so musst ich ihr sagen: 'Da ist dein Platz', und musste mich innerlich von ihr scheiden. Nicht vor der Welt. Es gibt so viele Leben, die keine sind, und so viele Ehen, die keine sind ... dann war das Glück hin, aber ich hätte das Auge mit seinem Frageblick und mit seiner stummen leisen Anklage nicht vor mir.«
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Sprung zu Absatz
Sprung zu Absatz02n Kurz vor zehn hielt Innstetten vor seiner Wohnung. Er stieg die Treppen hinauf und zog die Glocke; Johanna kam und öffnete.
Sprung zu Absatz03n »Wie steht es mit Annie?«
Sprung zu Absatz04n »Gut, gnäd'ger Herr. Sie schläft noch nicht ... Wenn der gnäd'ge Herr ...«
Sprung zu Absatz05n »Nein, nein, das regt sie bloß auf. Ich sehe sie lieber morgen früh. Bringen Sie mir ein Glas Tee, Johanna. Wer war hier?«
Sprung zu Absatz06n »Nur der Doktor.«
Sprung zu Absatz07n Und nun war Innstetten wieder allein. Er ging auf und ab, wie er's zu tun liebte. »Sie wissen schon alles; Roswitha ist dumm, aber Johanna ist eine kluge Person. Und wenn sie's nicht mit Bestimmtheit wissen, so haben sie sich's zurechtgelegt und wissen es doch. Es ist merkwürdig, was alles zum Zeichen wird und Geschichten ausplaudert, als wäre jeder mit dabei gewesen.«
Sprung zu Absatz08n Johanna brachte den Tee. Innstetten trank. Er war nach der Überanstrengung todmüde und schlief ein.
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Sprung zu Absatz09n Innstetten war zu guter Zeit auf. Er sah Annie, sprach ein paar Worte mit ihr, lobte sie, dass sie eine gute Kranke sei, und ging dann aufs Ministerium, um seinem Chef von allem Vorgefallenen Meldung zu machen. Der Minister war sehr gnädig. »Ja, Innstetten, wohl dem, der aus allem, was das Leben uns bringen kann, heil herauskommt; Sie hat's getroffen.« Er fand alles, was geschehen, in der Ordnung und überließ Innstetten das Weitere.
Sprung zu Absatz10n Erst spät nachmittags war Innstetten wieder in seiner Wohnung, in der er ein paar Zeilen von Wüllersdorf vorfand. »Heute früh wieder eingetroffen. Eine Welt von Dingen erlebt; Schmerzliches, Rührendes, Gieshübler an der Spitze. Der liebenswürdigste Pucklige, den ich je gesehen. Von Ihnen sprach er nicht allzu viel, aber die Frau, die Frau! Er konnte sich nicht beruhigen, und zuletzt brach der kleine Mann in Tränen aus. Was alles vorkommt. Es wäre zu wünschen, dass es mehr Gieshübler gäbe. Es gibt aber mehr andere. Und dann die Szene im Hause des Majors ... furchtbar. Kein Wort davon. Man hat wieder mal gelernt: aufpassen. Ich sehe Sie morgen. Ihr W.«
Sprung zu Absatz11n Innstetten war ganz erschüttert, als er gelesen. Er setzte sich und schrieb seinerseits ein paar Briefe. Als er damit zu Ende war, klingelte er: »Johanna, die Briefe in den Kasten.«
Sprung zu Absatz12n Johanna nahm die Briefe und wollte gehen.
Sprung zu Absatz13n »... Und dann, Johanna, noch eins: die Frau kommt nicht wieder. Sie werden von anderen erfahren, warum nicht. Annie darf nichts wissen, wenigstens jetzt nicht. Das arme Kind. Sie müssen es ihr allmählich beibringen, dass sie keine Mutter mehr hat. Ich kann es nicht. Aber machen Sie's gescheit. Und dass Roswitha nicht alles verdirbt.«
Sprung zu Absatzn Johanna stand einen Augenblick ganz wie benommen da. Dann ging sie auf Innstetten zu und küsste ihm die Hand.
Sprung zu Absatz14n Als sie wieder draußen in der Küche war, war sie von Stolz und Überlegenheit ganz erfüllt, ja beinahe von Glück. Der gnädige Herr hatte ihr nicht nur alles gesagt, sondern am Schlusse auch noch hinzugesetzt »und dass Roswitha nicht alles verdirbt«. Das war die Hauptsache, und ohne dass es ihr an gutem Herzen und selbst an Teilnahme mit der Frau gefehlt hätte, beschäftigte sie doch über jedes andere hinaus der Triumph einer gewissen Intimitätsstellung zum gnädigen Herrn.
Sprung zu Absatz15n Unter gewöhnlichen Umständen wäre ihr denn auch die Herauskehrung und Geltendmachung dieses Triumphes ein Leichtes gewesen, aber heute traf sich's so wenig günstig für sie, dass ihre Rivalin, ohne Vertrauensperson gewesen zu sein, sich doch als die Eingeweihtere zeigen sollte. Der Portier unten hatte nämlich so ziemlich um dieselbe Zeit, wo dies spielte, Roswitha in seine kleine Stube hineingerufen und ihr gleich beim Eintreten ein Zeitungsblatt zum Lesen zugeschoben. »Da, Roswitha, das ist was für Sie; Sie können es mir nachher wieder runterbringen. Es ist bloß das Fremdenblatt: aber Lene ist schon hin und holt das Kleine Journal. Da wird wohl schon mehr drin stehen; die wissen immer alles. Hören Sie, Roswitha, wer so was gedacht hätte.«
Sprung zu Absatz16n Roswitha, sonst nicht allzu neugierig, hatte sich doch nach dieser Ansprache so rasch wie möglich die Hintertreppe hinaufbegeben und war mit dem Lesen gerade fertig, als Johanna dazukam.
Sprung zu Absatz17n Diese legte die Briefe, die ihr Innstetten eben gegeben, auf den Tisch, überflog die Adressen oder tat wenigstens so (denn sie wusste längst, an wen sie gerichtet waren) und sagte mit gut erkünstelter Ruhe: »Einer ist nach Hohen-Cremmen.«
Sprung zu Absatz18n »Das kann ich mir denken«, sagte Roswitha.
Sprung zu Absatz19n Johanna war nicht wenig erstaunt über diese Bemerkung. »Der Herr schreibt sonst nie nach Hohen-Cremmen.«
Sprung zu Absatz20n »Ja, sonst. Aber jetzt ... Denken Sie sich, das hat mir eben der Portier unten gegeben.«
Sprung zu Absatz21n Johanna nahm das Blatt und las nun halblaut eine mit einem dicken Tintenstrich markierte Stelle: »Wie wir kurz vor Redaktionsschluss von gut unterrichteter Seite her vernehmen, hat gestern früh in dem Badeorte Kessin in Hinterpommern ein Duell zwischen dem Ministerialrat v. I. (Keithstraße) und dem Major von Crampas stattgefunden. Major von Crampas fiel. Es heißt, dass Beziehungen zwischen ihm und der Rätin, einer schönen und noch sehr jungen Frau, bestanden haben sollen.«
Sprung zu Absatz22n »Was solche Blätter auch alles schreiben«, sagte Johanna, die verstimmt war, ihre Neuigkeit überholt zu sehen. »Ja«, sagte Roswitha. »Und das lesen nun die Menschen und verschimpfieren mir meine liebe, arme Frau. Und der arme Major. Nun ist er tot.«
Sprung zu Absatz23n »Ja, Roswitha, was denken Sie sich eigentlich? Soll er nicht tot sein? Oder soll lieber unser gnädiger Herr tot sein?«
Sprung zu Absatz24n »Nein, Johanna, unser gnäd'ger Herr, der soll auch leben, alles soll leben. Ich bin nicht für totschießen und kann nicht mal das Knallen hören. Aber bedenken Sie doch, Johanna, das ist ja nun schon eine halbe Ewigkeit her, und die Briefe, die mir gleich so sonderbar aussahen, weil sie die rote Strippe hatten und drei- oder viermal umwickelt und dann eingeknotet und keine Schleife - die sahen ja schon ganz gelb aus, so lange ist es her. Wir sind ja nun schon über sechs Jahre hier, und wie kann man wegen solcher alten Geschichten ...«
Sprung zu Absatz25n »Ach, Roswitha, Sie reden, wie Sie's verstehen. Und bei Licht besehen, sind Sie schuld. Von den Briefen kommt es her. Warum kamen Sie mit dem Stemmeisen und brachen den Nähtisch auf, was man nie darf; man darf kein Schloss aufbrechen, was ein anderer zugeschlossen hat.«
Sprung zu Absatz26n »Aber, Johanna, das ist doch wirklich zu schlecht von Ihnen, mir so was auf den Kopf zuzusagen, und Sie wissen doch, dass Sie schuld sind und dass Sie wie närrisch in die Küche stürzten und mir sagten, der Nähtisch müsse aufgemacht werden, da wäre die Bandage drin, und da bin ich mit dem Stemmeisen gekommen, und nun soll ich schuld sein. Nein, ich sage ...«
Sprung zu Absatz27n »Nun, ich will es nicht gesagt haben, Roswitha. Nur Sie sollen mir nicht kommen und sagen: der arme Major. Was heißt der arme Major! Der ganze arme Major taugte nichts; wer solchen rotblonden Schnurrbart hat und immer wribbelt, der taugt nie was und richtet bloß Schaden an. Und wenn man immer in vornehmen Häusern gedient hat ... aber das haben Sie nicht, Roswitha, das fehlt Ihnen eben ... dann weiß man auch, was sich passt und schickt und was Ehre ist, und weiß auch, dass, wenn so was vorkommt, dann geht es nicht anders, und dann kommt das, was man eine Forderung nennt, und dann wird einer totgeschossen.«
Sprung zu Absatz28n »Ach, das weiß ich auch; ich bin nicht so dumm, wie Sie mich immer machen wollen. Aber wenn es so lange her ist ...«
Sprung zu Absatz29n »Ja, Roswitha, mit Ihrem ewigen 'So lange her'; daran sieht man ja eben, dass Sie nichts davon verstehen. Sie erzählen immer die alte Geschichte von Ihrem Vater mit dem glühenden Eisen und wie er damit auf Sie losgekommen, und jedes Mal, wenn ich einen glühenden Bolzen eintue, muss ich auch wirklich immer an Ihren Vater denken und sehe immer, wie er Sie wegen des Kindes, das ja nun tot ist, tot machen will. Ja, Roswitha, davon sprechen Sie in einem fort, und es fehlt bloß noch, dass Sie Anniechen auch die Geschichte erzählen, und wenn Anniechen eingesegnet wird, dann wird sie's auch gewiss erfahren und vielleicht denselben Tag noch; und das ärgert mich, dass Sie das alles erlebt haben, und Ihr Vater war doch bloß ein Dorfschmied und hat Pferde beschlagen oder einen Radreifen gelegt, und nun kommen Sie und verlangen von unserm gnäd'gen Herrn, dass er sich das alles ruhig gefallen lässt, bloß weil es so lange her ist. Was heißt lange her? Sechs Jahre ist nicht lange her. Und unsre gnäd'ge Frau - die aber nicht wiederkommt, der gnäd'ge Herr hat es mir eben gesagt - unsre gnäd'ge Frau wird erst sechsundzwanzig, und im August ist ihr Geburtstag, und da kommen Sie mir mit 'lange her'. Und wenn sie sechsunddreißig wäre, ich sage Ihnen, bis sechsunddreißig muss man erst recht aufpassen, und wenn der gnäd'ge Herr nichts getan hätte, dann hätten ihn die vornehmen Leute 'geschnitten'. Aber das Wort kennen Sie gar nicht, Roswitha, davon wissen Sie nichts.«
Sprung zu Absatz30n »Nein, davon weiß ich nichts, will auch nicht; aber das weiß ich, Johanna, dass Sie in den gnäd'gen Herrn verliebt sind.«
Sprung zu Absatz31n Johanna schlug eine krampfhafte Lache auf.
Sprung zu Absatz32n »Ja, lachen Sie nur. Ich seh es schon lange. Sie haben so was. Und ein Glück, dass unser gnäd'ger Herr keine Augen dafür hat ... Die arme Frau, die arme Frau.«
Sprung zu Absatz33n Johanna lag daran, Frieden zu schließen. »Lassen Sie's gut sein, Roswitha. Sie haben wieder Ihren Koller; aber ich weiß schon, den haben alle vom Lande.«
Sprung zu Absatz34n »Kann schon sein.«
Sprung zu Absatz35n »Ich will jetzt nur die Briefe forttragen und unten sehen, ob der Portier vielleicht schon die andere Zeitung hat. Ich habe doch recht verstanden, dass er Lene danach geschickt hat? Und es muss auch mehr darin stehen; das hier ist ja so gut wie gar nichts.«