
Am Abend desselben Tages traf Innstetten wieder in Berlin ein.
Er war mit dem Wagen, den er innerhalb der Dünen an dem Querwege
zurückgelassen hatte, direkt nach der Bahnstation gefahren,
ohne Kessin noch einmal zu berühren, dabei den beiden Sekundanten
die Meldung an die Behörden überlassend. Unterwegs (er
war allein im Kupee) hing er, alles noch mal überdenkend,
dem Geschehenen nach; es waren dieselben Gedanken wie zwei Tage
zuvor, nur dass sie jetzt den umgekehrten Gang gingen und
mit der Überzeugtheit von seinem Recht und seiner Pflicht
anfingen, um mit Zweifeln daran aufzuhören. »Schuld,
wenn sie überhaupt was ist, ist nicht an Ort und Stunde gebunden
und kann nicht hinfällig werden von heute auf morgen. Schuld
verlangt Sühne; das hat einen Sinn. Aber Verjährung
ist etwas Halbes, etwas Schwächliches, zum mindesten was
Prosaisches.« Und er richtete sich an dieser Vorstellung
auf und wiederholte sich's, dass es gekommen sei, wie's habe
kommen müssen. Aber im selben Augenblicke, wo dies für
ihn feststand, warf er's auch wieder um. »Es
muss
eine Verjährung geben, Verjährung ist das einzig
Vernünftige; ob es nebenher auch noch prosaisch ist, ist
gleichgültig; das Vernünftige ist meist prosaisch. Ich
bin jetzt fünfundvierzig. Wenn ich die Briefe fünfundzwanzig
Jahre später gefunden hätte, so war ich siebzig.
Dann hätte Wüllersdorf gesagt: 'Innstetten, seien Sie
kein Narr.' Und wenn es Wüllersdorf nicht gesagt hätte,
so hätt es Buddenbrook gesagt, und wenn auch
der nicht,
so ich selbst. Dies ist mir klar. Treibt man etwas auf die Spitze,
so übertreibt man und hat die Lächerlichkeit. Kein Zweifel.
Aber wo fängt es an? Wo liegt die Grenze? Zehn Jahre verlangen
noch ein Duell und da heißt es Ehre, und nach elf Jahren
oder vielleicht schon bei zehnundeinhalb heißt es Unsinn.
Die Grenze, die Grenze. Wo ist sie? War sie da? War sie schon
überschritten? Wenn ich mir seinen letzten Blick vergegenwärtige,
resigniert und in seinem Elend doch noch ein Lächeln, so
hieß der Blick: 'Innstetten, Prinzipienreiterei ... Sie
konnten es mir ersparen und sich selber auch.' Und er hatte vielleicht
Recht. Mir klingt so was in der Seele. Ja, wenn ich voll tödlichem
Hass gewesen wäre, wenn mir hier ein tiefes Rachegefühl
gesessen hätte ... Rache ist nichts Schönes, aber was
Menschliches und hat ein natürlich menschliches Recht. So
aber war alles einer Vorstellung, einem Begriff zu Liebe, war eine
gemachte Geschichte, halbe Komödie. Und diese Komödie
muss ich nun fortsetzen und muss Effi wegschicken und
sie ruinieren und mich mit ... Ich musste die Briefe verbrennen
und die Welt durfte nie davon erfahren. Und wenn sie dann kam,
ahnungslos, so musst ich ihr sagen: 'Da ist dein Platz',
und musste mich innerlich von ihr scheiden. Nicht vor der
Welt. Es gibt so viele Leben, die keine sind, und so viele Ehen,
die keine sind ... dann war das Glück hin, aber ich hätte
das Auge mit seinem Frageblick und mit seiner stummen leisen
Anklage nicht vor mir.«