Effi war den ganzen Tag draußen im Park, weil sie das Luftbedürfnis
hatte; der alte Friesacker Dr. Wiesike war auch einverstanden
damit, gab ihr aber in diesem Stücke doch zu viel Freiheit,
zu thun, was sie wolle, so daß sie sich während der
kalten Tage im Mai heftig erkältete: Sie wurde fiebrig, hustete
viel, und der Doktor, der sonst jeden dritten Tag herüber kam,
kam jetzt täglich und war in Verlegenheit, wie er der Sache
beikommen solle, denn die Schlaf- und Hustenmittel, nach denen
Effi verlangte, konnten ihr des Fiebers halber nicht gegeben werden.
»Doktor,« sagte der alte Briest, »was wird aus
der Geschichte? Sie kennen sie ja von klein auf, haben sie geholt.
Mir gefällt das alles nicht; sie nimmt sichtlich ab, und
die roten Flecke und der Glanz in den Augen, wenn sie mich mit
einemmale so fragend ansieht. Was meinen Sie? Was wird? Muß
sie sterben?«
»Oder wenigstens das Rezept dazu; Wässer werden ja jetzt
nachgemacht. Alle Wetter, Wiesike, das wär' ein Geschäft,
wenn wir hier so ein Sanatorium anlegen könnten: Friesack
als Vergessenheitsquelle. Nun, vorläufig wollen wir's mit
der Riviera versuchen. Mentone ist ja wohl Riviera? Die Kornpreise
sind zwar in diesem Augenblicke wieder schlecht, aber was sein
muß, muß sein. Ich werde mit meiner Frau darüber
sprechen.«
Das that er denn auch und fand sofort seiner Frau Zustimmung, deren
in letzter Zeit - wohl unter dem Eindruck zurückgezogenen
Lebens - stark erwachte Lust, auch mal den Süden zu sehen,
seinem Vorschlage zu Hülfe kam. Aber Effi selbst wollte nichts
davon wissen. »Wie gut ihr gegen mich seid. Und ich bin egoistisch
genug, ich würde das Opfer auch annehmen, wenn ich mir etwas
davon verspräche. Mir steht es aber fest, daß es mir
bloß schaden würde.«
»Nein. Ich bin so reizbar geworden; alles ärgert mich.
Nicht hier bei Euch. Ihr verwöhnt mich und räumt mir
alles aus dem Wege. Aber auf einer Reise, da geht das nicht, da
läßt sich das Unangenehme nicht so bei Seite thun; mit
dem Schaffner fängt es an, und mit dem Kellner hört
es auf. Wenn ich mir die suffisanten Gesichter bloß
vorstelle, so wird mir schon ganz heiß. Nein, nein, laßt
mich hier. Ich mag nicht mehr weg von Hohen-Cremmen, hier ist
meine Stelle. Der Heliotrop unten auf dem Rondell, um die Sonnenuhr
herum, ist mir lieber als Mentone.«
Nach diesem Gespräch ließ man den Plan wieder fallen,
und Wiesike, so viel er sich von Italien versprochen hatte, sagte:
»Das müssen wir respektieren, denn das sind keine Launen;
solche Kranken haben ein sehr feines Gefühl und wissen, mit
merkwürdiger Sicherheit, was ihnen hilft und was nicht. Und
was Frau Effi da gesagt hat von Schaffner und Kellner, das ist
doch auch eigentlich ganz richtig, und es giebt keine Luft, die
so viel Heilkraft hätte, den Hotelärger (wenn man sich
überhaupt darüber ärgert) zu balanzieren. Also
lassen wir sie hier; wenn es nicht das beste ist, so ist es gewiß
nicht das schlechteste.«
Das bestätigte sich denn auch. Effi erholte sich, nahm um
ein Geringes wieder zu (der alte Briest gehörte zu den Wiegefanatikern)
und verlor ein gut Teil ihrer Reizbarkeit. Dabei war aber ihr
Luftbedürfnis in einem beständigen Wachsen, und zumal
wenn Westwind ging und graues Gewölk am Himmel zog, verbrachte
sie viele Stunden im Freien. An solchen Tagen ging sie wohl auch
auf die Felder hinaus und ins Luch, oft eine halbe Meile weit,
und setzte sich, wenn sie müde geworden, auf einen Hürdenzaun
und sah, in Träume verloren, auf die Ranunkeln und roten
Ampferstauden, die sich im Winde bewegten.
»Natürlich,« lachte Effi. »Das kann man immer
noch. Aber weißt Du, Roswitha, wenn ich einen Hund hätte,
der mich begleitete. Papas Jagdhund hat gar kein Attachement für
mich, Jagdhunde sind so dumm, und er rührt sich immer erst,
wenn der Jäger oder der Gärtner die Flinte vom Riegel
nimmt. Ich muß jetzt oft an Rollo denken.«
»Ja,« sagte Roswitha, »so 'was wie Rollo haben sie
hier gar nicht. Aber damit will ich nichts gegen 'hier' gesagt
haben. Hohen-Cremmen ist sehr gut.«
Es war drei, vier Tage nach diesem Gespräche zwischen Effi
und Roswitha, daß Innstetten um eine Stunde früher
in sein Arbeitszimmer trat als gewöhnlich. Die Morgensonne,
die sehr hell schien, hatte ihn geweckt, und weil er fühlen
mochte, daß er nicht wieder einschlafen würde, war
er aufgestanden, um sich an eine Arbeit zu machen, die schon seit
geraumer Zeit der Erledigung harrte.
Nun war es eine Viertelstunde nach acht, und er klingelte. Johanna
brachte das Frühstückstablett, auf dem, neben der Kreuzzeitung
und der Norddeutschen Allgemeinen, auch noch zwei Briefe lagen.
Er überflog die Adressen und erkannte an der Handschrift,
daß der eine vom Minister war. Aber der andere? Der Poststempel
war nicht deutlich zu lesen, und das »Sr. Wohlgeboren Herrn
Baron von Innstetten« bezeugte eine glückliche Unvertrautheit
mit den landesüblichen Titulaturen. Dem entsprachen auch
die Schriftzüge von sehr primitivem Charakter. Aber die Wohnungsangabe
war wieder merkwürdig genau: W. Keithstraße IC, zwei
Treppen hoch.
Innstetten war Beamter genug, um den Brief von 'Exzellenz'
zuerst zu erbrechen. »Mein lieber Innstetten! Ich freue mich,
Ihnen mitteilen zu können, daß Seine Majestät
Ihre Ernennung zu unterzeichnen geruht haben und gratuliere Ihnen
aufrichtig dazu.« Innstetten war erfreut über die liebenswürdigen
Zeilen des Ministers, fast mehr als über die Ernennung selbst.
Denn was das Höherhinaufklimmen auf der Leiter anging, so
war er seit dem Morgen in Kessin, wo Crampas mit einem Blick,
den er immer vor Augen hatte, Abschied von ihm genommen, etwas
kritisch gegen derlei Dinge geworden. Er maß seitdem mit
anderem Maße, sah alles anders an. Auszeichnung, was war
es am Ende? Mehr als einmal hatte er, während der ihm immer
freudloser dahin fließenden Tage, einer halb vergessenen Ministerialanekdote
aus den Zeiten des älteren Ladenberg her, gedenken müssen,
der, als er nach langem Warten den roten Adlerorden empfing, ihn
wütend und mit dem Ausrufe beiseite warf: »Da liege,
bis Du schwarz wirst.« Wahrscheinlich war er dann
hinterher auch »schwarz« geworden, aber um viele Tage
zu spät und sicherlich ohne rechte Befriedigung für
den Empfänger. Alles, was uns Freude machen soll, ist an Zeit und Umstände
gebunden, und was uns heute noch beglückt, ist morgen wertlos.
Innstetten empfand das tief, und so gewiß ihm an Ehren und
Gunstbezeugungen von oberster Stelle her lag, wenigstens gelegen
hatte, so gewiß stand ihm jetzt fest, es käme
bei dem glänzenden Schein der Dinge nicht viel heraus, und
das, was man 'das Glück' nenne, wenn's überhaupt
existiere, sei 'was anderes als dieser Schein. »Das Glück,
wenn mir recht ist, liegt in zweierlei: darin, daß man ganz
da steht, wo man hin gehört (aber welcher Beamte kann das
von sich sagen), und zum zweiten und besten in einem behaglichen
Abwickeln des ganz Alltäglichen, also darin, daß man
ausgeschlafen hat und daß einen die neuen Stiefel nicht drücken.
Wenn einem die 720 Minuten eines zwölfstündigen Tages
ohne besonderen Ärger vergehen, so läßt sich von
einem glücklichen Tage sprechen.« In einer Stimmung,
die derlei schmerzlichen Betrachtungen nachhing, war Innstetten
auch heute wieder. Er nahm nun den zweiten Brief. Als er ihn gelesen,
fuhr er über seine Stirn und empfand schmerzlich, daß
es ein Glück gebe, daß er es gehabt, aber daß
er es nicht mehr habe und nicht mehr haben könne.
»Aber ich habe mich zu freuen verlernt. Wenn ich es einem
anderen als Ihnen sagte, so würde solche Rede für redensartlich
gelten. Sie aber, Sie finden sich darin zurecht. Sehen Sie sich
hier um; wie leer und öde ist das alles. Wenn die Johanna
eintritt, ein sogenanntes Juwel, so wird mir angst und bange.
Dieses Sich-in-Szene-setzen (und Innstetten ahmte Johanna's Haltung
nach), diese halb komische Büstenplastik, die wie mit einem
Spezialanspruch auftritt, ich weiß nicht, ob an die Menschheit
oder an mich - ich finde das alles so trist und elend, und es
wäre zum Totschießen, wenn es nicht so lächerlich
wäre.«
»Gnäd'ger Herr! Sie werden sich wohl am Ende wundern,
daß ich Ihnen schreibe, aber es ist wegen Rollo. Anniechen
hat uns schon voriges Jahr gesagt: Rollo wäre jetzt so faul;
aber das thut hier nichts, er kann hier so faul sein wie er will,
je fauler je besser. Und die gnäd'ge Frau möchte es
doch so gern. Sie sagt immer, wenn sie ins Luch oder über
Feld geht: 'Ich fürchte mich eigentlich, Roswitha, weil ich
da so allein bin; aber wer soll mich begleiten? Rollo, ja, das
ginge; der ist mir auch nicht gram. Das ist der Vorteil, daß
sich die Tiere nicht so drum kümmern.' Das sind die Worte
der gnäd'gen Frau, und weiter will ich nichts sagen, und den
gnäd'gen Herrn bloß noch bitten, mein Anniechen zu
grüßen. Und auch die Johanna. Von Ihrer treu ergebenen
Dienerin Roswitha Gellenhagen.«
»Sie treffen's. Es geht mir schon lange durch den Kopf, und
diese schlichten Worte mit ihrer gewollten oder vielleicht auch
nicht gewollten Anklage haben mich wieder vollends aus dem Häuschen
gebracht. Es quält mich seit Jahr und Tag schon, und ich
möchte aus dieser ganzen Geschichte heraus; nichts gefällt
mir mehr; je mehr man mich auszeichnet, je mehr fühle ich,
daß dies alles nichts ist. Mein Leben ist verpfuscht, und
so hab' ich mir im Stillen ausgedacht, ich müßte mit
all' den Strebungen und Eitelkeiten überhaupt nichts mehr
zu thun haben, und mein Schulmeistertum, was ja wohl mein Eigentlichstes
ist, als ein höherer Sittendirektor verwenden können.
Es hat ja dergleichen gegeben. Ich müßte also, wenn's
ginge, solche schrecklich berühmte Figur werden, wie beispielsweise
der Doktor Wichern im Rauhen Hause zu Hamburg gewesen ist, dieser
Mirakelmensch, der alle Verbrecher mit seinem Blick und seiner
Frömmigkeit bändigte ...«
»Nein, es geht auch nicht. Auch das nicht 'mal. Mir
ist eben alles verschlossen. Wie soll ich einen Totschläger
an seiner Seele packen? Dazu muß man selber intakt sein.
Und wenn man's nicht mehr ist und selber so 'was an den Fingerspitzen
hat, dann muß man wenigstens vor seinen zu bekehrenden Confratres
den wahnsinnigen Büßer spielen und eine Riesenzerknirschung
zum besten geben können.«
»... Nun sehen Sie, Sie nicken. Aber das alles kann ich nicht mehr.
Den Mann im Büßerhemd bring' ich nicht mehr heraus, und
den Derwisch oder Fakir, der unter Selbstanklagen sich zu Tode
tanzt, erst recht nicht. Und da hab' ich mir denn, weil das alles
nicht geht, als ein bestes herausgeklügelt: weg von hier,
weg und hin unter lauter pechschwarze Kerle, die von Kultur und
Ehre nichts wissen. Diese Glücklichen! Denn gerade das, dieser
ganze Krimskrams ist doch an allem schuld. Aus Passion, was am
Ende gehen möchte, thut man dergleichen nicht. Also bloßen
Vorstellungen zuliebe ... Vorstellungen! ... Und da klappt denn
einer zusammen, und man klappt selber nach. Bloß noch schlimmer.«
»Ach was, Innstetten, das sind Launen, Einfälle. Quer
durch Afrika, was soll das heißen? Das ist für 'nen
Leutnant, der Schulden hat. Aber ein Mann wie Sie! Wollen Sie
mit einem roten Fez einem Palawer präsidieren oder mit einem
Schwiegersohn von König Mtesa Blutfreundschaft schließen?
Oder wollen Sie sich in einem Tropenhelm, mit sechs Löchern
oben, am Kongo entlangtasten, bis Sie bei Kamerun oder da herum
wieder heraus kommen? Unmöglich!«
»Einfach hier bleiben und Resignation üben.
Wer ist denn unbedrückt? Wer sagte nicht jeden Tag: 'eigentlich
eine sehr fragwürdige Geschichte.' Sie wissen, ich habe auch
mein Päckchen zu tragen, nicht gerade das Ihrige, aber nicht
viel leichter. Es ist Thorheit mit dem im Urwald-Umherkriechen
oder in einem Termitenhügel nächtigen; wer's mag, der
mag es, aber für unserein ist es nichts. In der Bresche stehen
und aushalten, bis man fällt, das ist das beste. Vorher aber
im kleinen und kleinsten so viel herausschlagen wie möglich,
und ein Auge dafür haben, wenn die Veilchen blühen oder
das Luisendenkmal in Blumen steht oder die kleinen Mädchen
mit hohen Schnürstiefeln über die Korde springen. Oder
auch wohl nach Potsdam fahren und in die Friedenskirche gehen,
wo Kaiser Friedrich liegt, und wo sie jetzt eben anfangen, ihm
ein Grabhaus zu bauen. Und wenn Sie da stehen, dann überlegen
Sie sich das Leben von dem, und wenn Sie dann nicht beruhigt
sind, dann ist Ihnen freilich nicht zu helfen.«
»Mit dem ist immer noch am ehesten fertig zu werden. Da haben
wir 'Sardanapal' oder 'Coppelia' mit der del Era, und wenn es
damit aus ist, dann haben wir Siechen. Nicht zu verachten. Drei
Seidel beruhigen jedesmal. Es giebt immer noch viele, sehr viele,
die zu der ganzen Sache nicht anders stehen wie wir, und einer,
dem auch viel verquer gegangen war, sagte mir 'mal: 'Glauben Sie
mir, Wüllersdorf, es geht überhaupt nicht ohne "Hülfskonstruktionen".'
Der das sagte, war ein Baumeister und mußt' es also wissen.
Und er hatte recht mit seinem Satz. Es vergeht kein Tag, der mich
nicht an die 'Hülfskonstruktionen' gemahnte.«
»Das will ich nicht gerade sagen. Aber es hilft ein bißchen.
Ich finde da verschiedene Stammgäste, Frühschoppler,
deren Namen ich klüglich verschweige. Der eine erzählt
dann vom Herzog von Ratibor, der andere vom Fürstbischof
Kopp und der dritte wohl gar von Bismarck. Ein bißchen fällt
immer ab. Dreiviertel stimmt nicht, aber wenn es nur witzig ist,
krittelt man nicht lange dran herum und hört dankbar zu.«
