Theodor Fontane: "Effi Briest"alte /neue Rechtschreibung Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
Dreiunddreißigstes Kapitel
Sprung zu Absatz01 Am zweitfolgenden Tage trafen, wie versprochen, einige Zeilen ein, und Effi las: »Es freut mich, liebe gnädige Frau, Ihnen gute Nachricht geben zu können. Alles ging nach Wunsch; Ihr Herr Gemahl ist zu sehr Mann von Welt, um einer Dame eine von ihr vorgetragene Bitte abschlagen zu können; zugleich aber - auch das darf ich Ihnen nicht verschweigen,- ich sah deutlich, daß sein 'ja' nicht dem entsprach, was er für klug und recht hält. Aber kritteln wir nicht, wo wir uns freuen sollen. Ihre Annie, so haben wir es verabredet, wird über Mittag kommen, und ein guter Stern stehe über Ihrem Wiedersehen.«
Sprung zu Absatz02 Es war mit der zweiten Post, daß Effi diese Zeilen empfing, und bis zu Annie's Erscheinen waren mutmaßlich keine zwei Stunden mehr. Eine kurze Zeit, aber immer noch zu lang, und Effi schritt in Unruhe durch beide Zimmer und dann wieder in die Küche, wo sie mit Roswitha von allem Möglichen sprach: von dem Epheu drüben an der Christuskirche, nächstes Jahr würden die Fenster wohl ganz zugewachsen sein, von dem Portier, der den Gashahn wieder so schlecht zugeschraubt habe (sie würden doch noch nächstens in die Luft fliegen), und daß sie das Petroleum doch lieber wieder aus der großen Lampenhandlung Unter den Linden als aus der Anhaltstraße holen solle, - von allem Möglichen sprach sie, nur von Annie nicht, weil sie die Furcht nicht aufkommen lassen wollte, die trotz der Zeilen der Ministerin, oder vielleicht auch um dieser Zeilen willen, in ihr lebte.
Sprung zu Absatz03 Nun war Mittag. Endlich wurde geklingelt, schüchtern, und Roswitha ging, um durch das Guckloch zu sehen. Richtig, es war Annie. Roswitha gab dem Kinde einen Kuß, sprach aber sonst kein Wort, und ganz leise, wie wenn ein Kranker im Hause wäre, führte sie das Kind vom Korridor her erst in die Hinterstube und dann bis an die nach vorn führende Thür.
Sprung zu Absatz04 »Da geh' hinein, Annie.« Und unter diesen Worten, sie wollte nicht stören, ließ sie das Kind allein und ging wieder auf die Küche zu.
Sprung zu Absatz05 Effi stand am andern Ende des Zimmers, den Rücken gegen den Spiegelpfeiler, als das Kind eintrat. »Annie!« Aber Annie blieb an der nur angelehnten Thür stehen, halb verlegen, aber halb auch mit Vorbedacht, und so eilte denn Effi auf das Kind zu, hob es in die Höhe und küßte es.
Sprung zu Absatz06 »Annie, mein süßes Kind, wie freue ich mich. Komm', erzähle mir,« und dabei nahm sie Annie bei der Hand und ging auf das Sofa zu, um sich da zu setzen. Annie stand aufrecht und griff, während sie die Mutter immer noch scheu ansah, mit der Linken nach dem Zipfel der herabhängenden Tischdecke. »Weißt Du wohl, Annie, daß ich Dich einmal gesehen habe?«
Sprung zu Absatz07 »Ja, mir war es auch so.«
Sprung zu Absatz08 »Und nun erzähle mir recht viel. Wie groß Du geworden bist! Und das ist die Narbe da; Roswitha hat mir davon erzählt. Du warst immer so wild und ausgelassen beim Spielen. Das hast Du von Deiner Mama, die war auch so. Und in der Schule? ich denke mir, Du bist immer die Erste, Du siehst mir so aus, als müßtest Du eine Musterschülerin sein und immer die besten Zensuren nach Hause bringen. Ich habe auch gehört, daß Dich das Fräulein von Wedelstädt so gelobt haben soll. Das ist recht; ich war auch so ehrgeizig, aber ich hatte nicht solche gute Schule. Mythologie war immer mein bestes. Worin bist Du denn am besten?«
Sprung zu Absatz09 »Ich weiß es nicht.«
Sprung zu Absatz10 »O, Du wirst es schon wissen. Das weiß man. Worin hast Du denn die beste Zensur?«
Sprung zu Absatz11 »In der Religion.«
Sprung zu Absatz12 »Nun, siehst Du, da weiß ich es doch. Ja, das ist sehr schön; ich war nicht so gut darin, aber es wird wohl auch an dem Unterricht gelegen haben. Wir hatten bloß einen Kandidaten.«
Sprung zu Absatz13 »Wir hatten auch einen Kandidaten.«
Sprung zu Absatz14 »Und der ist fort?«
Sprung zu Absatz15 Annie nickte.
Sprung zu Absatz16 »Warum ist er fort?«
Sprung zu Absatz17 »Ich weiß es nicht. Wir haben nun wieder den Prediger.«
Sprung zu Absatz18 »Den ihr alle sehr liebt.«
Sprung zu Absatz19 »Ja; zwei aus der ersten Klasse wollen auch übertreten.«
Sprung zu Absatz20 »Ah, ich verstehe; das ist schön. Und was macht Johanna?«
Sprung zu Absatz21 »Johanna hat mich bis vor das Haus begleitet ...«
Sprung zu Absatz22 »Und warum hast Du sie nicht mit heraufgebracht?«
Sprung zu Absatz23 »Sie sagte, sie wolle lieber unten bleiben und an der Kirche drüben warten.«
Sprung zu Absatz24 »Und da sollst Du sie wohl abholen?«
Sprung zu Absatz25 »Ja.«
Sprung zu Absatz26 »Nun, sie wird da hoffentlich nicht ungeduldig werden. Es ist ein kleiner Vorgarten da und die Fenster sind schon halb von Epheu überwachsen, als ob es eine alte Kirche wäre.«
Sprung zu Absatz27 »Ich möchte sie aber doch nicht gerne warten lassen ...«
Sprung zu Absatz28 »Ach, ich sehe, Du bist sehr rücksichtsvoll, und darüber werde ich mich wohl freuen müssen. Man muß es nur richtig einteilen ... Und nun sage mir noch, was macht Rollo?«
Sprung zu Absatz29 »Rollo ist sehr gut. Aber Papa sagt, er würde so faul; er liegt immer in der Sonne.«
Sprung zu Absatz30 »Das glaub' ich. So war er schon, als Du noch ganz klein warst ... Und nun sage mir, Annie, - denn heute haben wir uns ja bloß so 'mal wiedergesehen,- wirst Du mich öfter besuchen?«
Sprung zu Absatz31 »O gewiß, wenn ich darf.«
Sprung zu Absatz32 »Wir können dann in dem Prinz Albrecht'schen Garten spazierengehen.«
Sprung zu Absatz33 »O gewiß, wenn ich darf.«
Sprung zu Absatz34 »Oder wir gehen zu Schilling und essen Eis, Ananas- oder Vanilleneis, das aß ich immer am liebsten.«
Sprung zu Absatz35 »O gewiß, wenn ich darf.«
Sprung zu Absatz36 Und bei diesem dritten »wenn ich darf« war das Maß voll; Effi sprang auf, und ein Blick, in dem es wie Empörung aufflammte, traf das Kind. »Ich glaube, es ist die höchste Zeit, Annie; Johanna wird sonst ungeduldig.« Und sie zog die Klingel. Roswitha, die schon im Nebenzimmer war, trat gleich ein. »Roswitha, gieb Annie das Geleit bis drüben zur Kirche. Johanna wartet da. Hoffentlich hat sie sich nicht erkältet. Es sollte mir leid thun. Grüße Johanna.«
Sprung zu Absatz37 Und nun gingen beide.
Sprung zu Absatz38 Kaum aber, daß Roswitha draußen die Thür ins Schloß gezogen hatte, so riß Effi, weil sie zu ersticken drohte, ihr Kleid auf und verfiel in ein krampfhaftes Lachen. »So also sieht ein Wiedersehen aus,« und dabei stürzte sie nach vorn, öffnete die Fensterflügel und suchte nach etwas, das ihr beistehe. Und sie fand auch 'was in der Not ihres Herzens. Da neben dem Fenster war ein Bücherbrett, ein paar Bände von Schiller und Körner darauf, und auf den Gedichtbüchern, die alle gleiche Höhe hatten, lag eine Bibel und ein Gesangbuch. Sie griff danach, weil sie 'was haben mußte, vor dem sie knieen und beten konnte, und legte Bibel und Gesangbuch auf den Tischrand, gerade da, wo Annie gestanden hatte, und mit einem heftigen Ruck warf sie sich davor nieder und sprach halblaut vor sich hin: »O Du Gott im Himmel, vergieb mir, was ich gethan; ich war ein Kind ... Aber nein, nein, ich war kein Kind, ich war alt genug, um zu wissen, was ich that. Ich hab es auch gewußt, und ich will meine Schuld nicht kleiner machen, ... aber das ist zuviel. Denn das hier, mit dem Kinde, das bist nicht Du, Gott, der mich strafen will, das ist er, bloß er! Ich habe geglaubt, daß er ein edles Herz habe, und habe mich immer klein neben ihm gefühlt; aber jetzt weiß ich, daß er es ist, er ist klein. Und weil er klein ist, ist er grausam. Alles, was klein ist, ist grausam. Das hat er dem Kinde beigebracht, ein Schulmeister war er immer, Crampas hat ihn so genannt, spöttisch damals, aber er hat recht gehabt. '0 gewiß, wenn ich darf.' Du brauchst nicht zu dürfen; ich will Euch nicht mehr, ich hass' Euch, auch mein eigen Kind. Was zu viel ist, ist zu viel. Ein Streber war er, weiter nichts. - Ehre, Ehre, Ehre ... und dann hat er den armen Kerl totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und nun Blut und Mord. Und ich schuld. Und nun schickt er mir das Kind, weil er einer Ministerin nichts abschlagen kann, und ehe er das Kind schickt, richtet er's ab wie einen Papagei und bringt ihm die Phrase bei 'wenn ich darf'. Mich ekelt, was ich gethan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist Eure Tugend. Weg mit Euch. Ich muß leben, aber ewig wird es ja wohl nicht dauern.«
Sprung zu Absatz39 Als Roswitha wiederkam, lag Effi am Boden, das Gesicht abgewandt, wie leblos.