Am zweitfolgenden Tage trafen, wie versprochen, einige Zeilen
ein, und Effi las: »Es freut mich, liebe gnädige Frau,
Ihnen gute Nachricht geben zu können. Alles ging nach Wunsch;
Ihr Herr Gemahl ist zu sehr Mann von Welt, um einer Dame eine
von ihr vorgetragene Bitte abschlagen zu können; zugleich
aber - auch das darf ich Ihnen nicht verschweigen -, ich
sah deutlich, dass sein 'Ja' nicht dem entsprach, was er
für klug und recht hält. Aber kritteln wir nicht, wo
wir uns freuen sollen. Ihre Annie, so haben wir es verabredet,
wird über Mittag kommen, und ein guter Stern stehe über
Ihrem Wiedersehen.«
Es war mit der zweiten Post, dass Effi diese Zeilen empfing,
und bis zu Annies Erscheinen waren mutmaßlich keine zwei
Stunden mehr. Eine kurze Zeit, aber immer noch zu lang, und Effi
schritt in Unruhe durch beide Zimmer und dann wieder in die Küche,
wo sie mit Roswitha von allem Möglichen sprach: von dem Efeu
drüben an der Christuskirche, nächstes Jahr würden
die Fenster wohl ganz zugewachsen sein, von dem Portier, der den
Gashahn wieder so schlecht zugeschraubt habe (sie würden
doch noch nächstens in die Luft fliegen) und dass sie
das Petroleum doch lieber wieder aus der großen Lampenhandlung
Unter den Linden als aus der Anhaltstraße holen solle, -
von allem Möglichen sprach sie, nur von Annie nicht, weil
sie die Furcht nicht aufkommen lassen wollte, die trotz der Zeilen
der Ministerin oder vielleicht auch um dieser Zeilen willen
in ihr lebte.
Nun war Mittag. Endlich wurde geklingelt, schüchtern, und
Roswitha ging, um durch das Guckloch zu sehen. Richtig, es war
Annie. Roswitha gab dem Kinde einen Kuss, sprach aber sonst
kein Wort, und ganz leise, wie wenn ein Kranker im Hause wäre,
führte sie das Kind vom Korridor her erst in die Hinterstube
und dann bis an die nach vorn führende Tür.
»Da geh hinein, Annie.« Und unter diesen Worten, sie
wollte nicht stören, ließ sie das Kind allein und ging
wieder auf die Küche zu.
Effi stand am andern Ende des Zimmers, den Rücken gegen den
Spiegelpfeiler, als das Kind eintrat. »Annie!« Aber
Annie blieb an der nur angelehnten Tür stehen, halb verlegen,
aber halb auch mit Vorbedacht, und so eilte denn Effi auf das
Kind zu, hob es in die Höhe und küsste es.
»Annie, mein süßes Kind, wie freue ich mich. Komm,
erzähle mir«, und dabei nahm sie Annie bei der Hand
und ging auf das Sofa zu, um sich da zu setzen. Annie stand aufrecht
und griff, während sie die Mutter immer noch scheu ansah,
mit der Linken nach dem Zipfel der herabhängenden Tischdecke.
»Weißt du wohl, Annie, dass ich dich einmal gesehen
habe?«
»Ja, mir war es auch so.«
»Und nun erzähle mir recht viel. Wie groß du geworden
bist! Und das ist die Narbe da; Roswitha hat mir davon erzählt.
Du warst immer so wild und ausgelassen beim Spielen. Das hast
du von deiner Mama, die war auch so. Und in der Schule? Ich denke
mir, du bist immer die Erste, du siehst mir so aus, als müsstest
du eine Musterschülerin sein und immer die besten Zensuren
nach Hause bringen. Ich habe auch gehört, dass dich
das Fräulein von Wedelstädt so gelobt haben soll. Das
ist recht; ich war auch so ehrgeizig, aber ich hatte nicht solche
gute Schule. Mythologie war immer mein Bestes. Worin bist du denn
am besten?«
»Ich weiß es nicht.«
»O, du wirst es schon wissen. Das weiß man. Worin
hast du denn die beste Zensur?«
»In der Religion.«
»Nun, siehst du, da weiß ich es doch. Ja, das ist sehr
schön; ich war nicht so gut darin, aber es wird wohl auch
an dem Unterricht gelegen haben. Wir hatten bloß einen Kandidaten.«
»Wir hatten auch einen Kandidaten.«
»Und der ist fort?«
Annie nickte.
»Warum ist er fort?«
»Ich weiß es nicht. Wir haben nun wieder den Prediger.«
»Den ihr alle sehr liebt.«
»Ja; zwei aus der ersten Klasse wollen auch übertreten.«
»Ah, ich verstehe; das ist schön. Und was macht Johanna?«
»Johanna hat mich bis vor das Haus begleitet ...«
»Und warum hast du sie nicht mit heraufgebracht?«
»Sie sagte, sie wolle lieber unten bleiben und an der Kirche
drüben warten.«
»Und da sollst du sie wohl abholen?«
»Ja.«
»Nun, sie wird da hoffentlich nicht ungeduldig werden. Es
ist ein kleiner Vorgarten da und die Fenster sind schon halb
von Efeu überwachsen, als ob es eine alte Kirche wäre.«
»Ich möchte sie aber doch nicht gerne warten lassen ...«
»Ach, ich sehe, du bist sehr rücksichtsvoll,
und darüber werde ich mich wohl freuen müssen. Man muss
es nur richtig einteilen ... Und nun sage mir noch, was macht
Rollo?«
»Rollo ist sehr gut. Aber Papa sagt, er würde so faul;
er liegt immer in der Sonne.«
»Das glaub ich. So war er schon, als du noch ganz klein warst
... Und nun sage mir, Annie - denn heute haben wir uns ja bloß
so mal wiedergesehen -, wirst du mich öfter besuchen?«
»O gewiss, wenn ich darf.«
»Wir können dann in dem Prinz Albrecht'schen Garten spazierengehen.«
»O gewiss, wenn ich darf.«
»Oder wir gehen zu Schilling und essen Eis, Ananas- oder
Vanilleneis, das aß ich immer am liebsten.«
»O gewiss, wenn ich darf.«
Und bei diesem dritten »Wenn ich darf« war das Maß
voll; Effi sprang auf, und ein Blick, in dem es wie Empörung
aufflammte, traf das Kind. »Ich glaube, es ist die höchste
Zeit, Annie; Johanna wird sonst ungeduldig.« Und sie zog
die Klingel. Roswitha, die schon im Nebenzimmer war, trat gleich
ein. »Roswitha, gib Annie das Geleit bis drüben zur
Kirche. Johanna wartet da. Hoffentlich hat sie sich nicht erkältet.
Es sollte mir Leid tun. Grüße Johanna.«
Und nun gingen beide.
Kaum aber, dass Roswitha draußen die Tür ins Schloss
gezogen hatte, so riss Effi, weil sie zu ersticken drohte,
ihr Kleid auf und verfiel in ein krampfhaftes Lachen. »So
also sieht ein Wiedersehen aus«, und dabei stürzte sie
nach vorn, öffnete die Fensterflügel und suchte nach
etwas, das ihr beistehe. Und sie fand auch was in der Not ihres
Herzens. Da neben dem Fenster war ein Bücherbrett, ein paar
Bände von Schiller und Körner darauf, und auf den Gedichtbüchern,
die alle gleiche Höhe hatten, lag eine Bibel und ein Gesangbuch.
Sie griff danach, weil sie was haben musste, vor dem sie
knien und beten konnte, und legte Bibel und Gesangbuch auf den
Tischrand, gerade da, wo Annie gestanden hatte, und mit einem
heftigen Ruck warf sie sich davor nieder und sprach halblaut vor
sich hin: »O du Gott im Himmel, vergib mir, was ich getan;
ich war ein Kind ... Aber nein, nein, ich war kein Kind, ich war
alt genug, um zu wissen, was ich tat. Ich hab es auch gewusst,
und ich will meine Schuld nicht kleiner machen, ... aber das
ist zuviel. Denn das hier mit dem Kinde, das bist nicht du,
Gott, der mich strafen will, das ist er, bloß
er! Ich habe geglaubt, dass er ein edles Herz habe, und habe
mich immer klein neben ihm gefühlt; aber jetzt weiß
ich, dass er es ist, er ist klein. Und weil er klein
ist, ist er grausam. Alles, was klein ist, ist grausam. Das hat
er dem Kinde beigebracht, ein Schulmeister war er immer, Crampas
hat ihn so genannt, spöttisch damals, aber er hat Recht gehabt.
'0 gewiss, wenn ich darf.' Du brauchst nicht zu dürfen;
ich will euch nicht mehr, ich hass euch, auch mein eigen Kind.
Was zuviel ist, ist zuviel. Ein Streber war er, weiter nichts.
- Ehre, Ehre, Ehre ... und dann hat er den armen Kerl totgeschossen,
den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil
ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und nun Blut und Mord.
Und ich schuld. Und nun schickt er mir das Kind, weil er einer
Ministerin nichts abschlagen kann, und ehe er das Kind schickt,
richtet er's ab wie einen Papagei und bringt ihm die Phrase bei
'Wenn ich darf'. Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch
mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch. Ich muss leben,
aber ewig wird es ja wohl nicht dauern.«
Als Roswitha wiederkam, lag Effi am Boden, das Gesicht abgewandt,
wie leblos.
