
Effi hatte damals, als der elterliche Absagebrief aus Hohen-Cremmen
kam und sie mit dem Abendzuge von Ems nach Berlin zurückreiste,
nicht gleich eine selbständige Wohnung genommen, sondern
es mit einem Unterkommen in einem Pensionate versucht. Es war ihr
damit auch leidlich geglückt. Die beiden Damen, die dem Pensionate
vorstanden, waren gebildet und voll Rücksicht und hatten
es längst verlernt, neugierig zu sein. Es kam da so vieles
zusammen, daß ein Eindringenwollen in die Geheimnisse jedes
einzelnen viel zu umständlich gewesen wäre. Dergleichen
hinderte nur den Geschäftsgang. Effi, die die mit den Augen
angestellten Kreuzverhöre der Zwicker noch in Erinnerung
hatte, fühlte sich denn auch von dieser Zurückhaltung
der Pensionsdamen sehr angenehm berührt, als aber vierzehn
Tage vorüber waren, empfand sie doch deutlich, daß
die hier herrschende Gesamtatmosphäre, die physische wie
die moralische, nicht wohl ertragbar für sie sei. Bei Tisch
waren sie zumeist zu sieben, und zwar außer Effi und der einen
Pensionsvorsteherin (die andere leitete draußen das Wirtschaftliche)
zwei die Hochschule besuchende Engländerinnen, eine adelige
Dame aus Sachsen, eine sehr hübsche galizische Jüdin,
von der niemand wußte, was sie eigentlich vorhatte, und
eine Kantorstochter aus Polzin in Pommern, die Malerin werden
wollte. Das war eine schlimme Zusammensetzung, und die gegenseitigen
Überheblichkeiten, bei denen die Engländerinnen merkwürdigerweise
nicht absolut obenan standen, sondern mit der vom höchsten
Malergefühl erfüllten Polzinerin um die Palme rangen,
waren unerquicklich; dennoch wäre Effi, die sich passiv verhielt,
über den Druck, den diese geistige Atmosphäre übte,
hinweggekommen, wenn nicht, rein physisch und äußerlich,
die sich hinzugesellende Pensionsluft gewesen wäre. Woraus
sich diese eigentlich zusammensetzte, war vielleicht überhaupt
unerforschlich, aber daß sie der sehr empfindlichen Effi
den Atem raubte, war nur zu gewiß, und so sah sie sich,
aus diesem äußerlichen Grunde, sehr bald schon zur
Aus- und Umschau nach einer anderen Wohnung gezwungen, die sie
denn auch in verhältnismäßiger Nähe fand.
Es war dies die vorgeschilderte Wohnung in der Königgrätzerstraße.
Sie sollte dieselbe zu Beginn des Herbstvierteljahres
beziehen, hatte das Nötige dazu beschafft und zählte
während der letzten Septembertage die Stunden bis zur Erlösung
aus dem Pensionat.