Es schlug zwei Uhr, als man zurück war. Crampas verabschiedete
sich und ritt in die Stadt hinein, bis er vor seiner am Marktplatz
gelegenen Wohnung hielt. Effi ihrerseits kleidete sich um und
versuchte zu schlafen; es wollte aber nicht glücken, denn
ihre Verstimmung war noch größer als ihre Müdigkeit.
Daß Innstetten sich seinen Spuk parat hielt, um ein nicht
ganz gewöhnliches Haus zu bewohnen, das mochte hingehen,
das stimmte zu seinem Hange, sich von der großen Menge zu
unterscheiden; aber das andere, daß er den Spuk als Erziehungsmittel
brauchte, das war doch arg und beinahe beleidigend. Und »Erziehungsmittel«,
darüber war sie sich klar, sagte nur die kleinere Hälfte;
was Crampas gemeint hatte, war viel, viel mehr, war eine Art Angstapparat
aus Kalkül. Es fehlte jede Herzensgüte darin und grenzte
schon fast an Grausamkeit. Das Blut stieg ihr zu Kopf, und sie
ballte ihre kleine Hand und wollte Pläne schmieden; aber
mit einemmale mußte sie wieder lachen. »Ich Kindskopf!
Wer bürgt mir denn dafür, daß Crampas recht hat!
Crampas ist unterhaltlich, weil er medisant ist, aber er ist unzuverlässig
und ein bloßer Haselant, der schließlich Innstetten
nicht das Wasser reicht.«
In diesem Augenblick fuhr Innstetten vor, der heute früher
zurück kam, als gewöhnlich. Effi sprang auf, um ihn schon
im Flur zu begrüßen, und war um so zärtlicher,
je mehr sie das Gefühl hatte, etwas gut machen zu müssen.
Aber ganz konnte sie das, was Crampas gesagt hatte, doch nicht
verwinden, und inmitten ihrer Zärtlichkeiten, und während
sie mit anscheinendem Interesse zuhörte, klang es in ihr
immer wieder: »Also Spuk aus Berechnung, Spuk, um dich in
Ordnung zu halten.«
Inzwischen war Mitte November herangekommen, und der bis zum Sturm
sich steigernde Nordwester stand anderthalb Tage lang so hart
auf die Molen, daß die mehr und mehr zurückgestaute
Kessine das Bollwerk überstieg und in die Straßen trat.
Aber nachdem sich's ausgetobt, legte sich das Unwetter, und es
kamen noch ein paar sonnige Spätherbsttage. »Wer weiß,
wie lange sie dauern,« sagte Effi zu Crampas, und so beschloß
man, am nächsten Vormittage noch einmal auszureiten; auch
Innstetten, der einen freien Tag hatte, wollte mit. Es sollte zunächst
wieder bis an die Mole gehen; da wollte man dann absteigen, ein wenig
am Strande promenieren und schließlich im Schutze der Dünen,
wo's windstill war, ein Frühstück nehmen.
Um die festgesetzte Stunde ritt Crampas vor dem landrätlichen
Hause vor; Kruse hielt schon das Pferd der gnädigen Frau,
die sich rasch in den Sattel hob und noch im Aufsteigen Innstetten
entschuldigte, der nun doch verhindert sei: letzte Nacht wieder
großes Feuer in Morgenitz - das dritte seit drei Wochen,
also angelegt - da habe er hingemußt, sehr zu seinem Leidwesen,
denn er habe sich auf diesen Ausritt, der wohl der letzte in diesem
Herbste sein werde, wirklich gefreut.
Crampas sprach sein Bedauern aus, vielleicht nur um 'was zu sagen,
vielleicht aber auch aufrichtig, denn so rücksichtslos er
im Punkte chevaleresker Liebesabenteuer war, so sehr war er auch
wieder guter Kamerad. Natürlich, alles ganz oberflächlich.
Einem Freunde helfen und fünf Minuten später ihn betrügen,
das waren Dinge, die sich mit seinem Ehrbegriffe sehr wohl vertrugen.
Er that das eine und das andere mit unglaublicher Bonhommie.
»Wenn das zuträfe, wäre das, was mir schmeicheln
soll, ziemlich ungezogen ... Aber sehen Sie da die Bojen, wie
die schwimmen und tanzen. Die kleinen roten Fahnen sind eingezogen.
Immer, wenn ich diesen Sommer, die paarmal wo ich mich bis an
den Strand hinauswagte, die roten Fahnen sah, sagt' ich mir: da
liegt Vineta, da muß es liegen, das sind die Turmspitzen ...«
»Und haben doch Gieshübler und den Journalzirkel! Übrigens
hat Heine dem Gedicht einen anderen Namen gegeben, ich glaube
'Seegespenst' oder so ähnlich. Aber Vineta hat er gemeint.
Und er selber - verzeihen Sie, wenn ich Ihnen so ohne weiteres
den Inhalt hier wiedergebe - der Dichter also, während er
die Stelle passiert, liegt auf einem Schiffsdeck und sieht hinunter,
und sieht da schmale, mittelalterliche Straßen und trippelnde
Frauen in Kapothüten, und alle haben ein Gesangbuch in Händen
und wollen zur Kirche, und alle Glocken läuten. Und als er
das hört, da faßt ihn eine Sehnsucht, auch mit in die
Kirche zu gehen, wenn auch bloß um der Kapothüte willen,
und vor Verlangen schreit er auf und will sich hinunterstürzen.
Aber im selben Augenblicke packt ihn der Kapitän am Bein und
ruft ihm zu: 'Doktor, sind Sie des Teufels?'«
»Nein, es ist eigentlich kurz, etwas länger als 'Du
hast Diamanten und Perlen' oder 'Deine weichen Lilienfinger' ...«
und er berührte leise ihre Hand. »Aber lang oder kurz,
welche Schilderungskraft, welche Anschaulichkeit! Er ist mein
Lieblingsdichter, und ich kann ihn auswendig, so wenig ich mir
sonst, trotz gelegentlich eigener Versündigungen, aus der
Dichterei mache. Bei Heine liegt es aber anders: Alles ist Leben,
und vor allem versteht er sich auf die Liebe, die doch die Hauptsache
bleibt. Er ist übrigens nicht einseitig darin ...«
»Er ist auch sehr für das Romantische, was freilich
gleich nach der Liebe kommt und nach Meinung einiger sogar damit
zusammenfällt. Was ich aber nicht glaube. Denn in seinen
späteren Gedichten, die man denn auch die 'romantischen'
genannt hat, oder eigentlich hat er es selber gethan, in diesen
romantischen Dichtungen wird in einem fort hingerichtet, allerdings
vielfach aus Liebe. Aber doch meist aus anderen gröberen
Motiven, wohin ich in erster Reihe die Politik. die fast immer
gröblich ist, rechne. Karl Stuart zum Beispiel trägt
in einer dieser Romanzen seinen Kopf unterm Arm, und noch fataler
ist die Geschichte vom Vitzliputzli ...«
»Vom Vitzliputzli. Vitzliputzli ist nämlich ein mexikanischer
Gott, und als die Mexikaner zwanzig oder dreißig Spanier
gefangen genommen hatten, mußten diese zwanzig oder dreißig
dem Vitzliputzli geopfert werden. Das war da nicht anders, Landessitte,
Kultus, und ging auch alles im Handumdrehen, Bauch auf, Herz 'raus
...«
Während dieser Worte waren sie, ganz wie's das Programm wollte,
vom Strand her bis an eine schon halb im Schutze der Dünen
aufgeschlagene Bank, mit einem äußerst primitiven Tisch
davor, gekommen, zwei Pfosten mit einem Brett darüber. Kruse,
der voraufgeritten, hatte hier bereits serviert; Theebrötchen
und Aufschnitt von kaltem Braten, dazu Rotwein und neben der Flasche
zwei hübsche zierliche Trinkgläser, klein und mit Goldrand,
wie man sie in Badeörtern kauft oder von Glashütten als Erinnerung
mitbringt.
Und nun stieg man ab. Kruse, der die Zügel seines eigenen
Pferdes um eine Krüppelkiefer geschlungen hatte, ging mit
den beiden anderen Pferden auf und ab, während sich Crampas
und Effi, die durch eine schmale Dünenöffnung einen
freien Blick auf Strand und Mole hatten, vor dem gedeckten Tische
niederließen.
Über das von den Sturmtagen her noch bewegte Meer goß
die schon halb winterliche Novembersonne ihr fahles Licht aus,
und die Brandung ging hoch. Dann und wann kam ein Windzug und
trieb den Schaum bis dicht an sie heran. Strandhafer stand umher,
und das helle Gelb der Immortellen hob sich, trotz der Farbenverwandtschaft,
von dem gelben Sande, darauf sie wuchsen, scharf ab. Effi machte
die Wirtin. »Es thut mir leid, Major, Ihnen diese Brötchen
in einem Korbdeckel präsentieren zu müssen ...«
»Das ist gut. Von so einem hört man immer am liebsten,
und ich weiß noch, daß wir von meiner Freundin Hulda
Niemeyer, deren Namen Sie ja kennen, immer behaupteten: sie wisse
nichts von Geschichte, mit Ausnahme der sechs Frauen von Heinrich
dem Achten, diesem englischen Blaubart, wenn das Wort für
ihn reicht. Und wirklich, diese sechs kannte sie auswendig. Und
dabei hätten Sie hören sollen, wie sie die Namen aussprach,
namentlich den von der Mutter der Elisabeth - so schrecklich verlegen,
als wäre sie nun an der Reihe ... Aber nun bitte,
die Geschichte von Don Pedro ...«
»Nun also, an Don Pedro's Hofe war ein schöner, schwarzer
spanischer Ritter, der das Kreuz von Kalatrava - was ungefähr
so viel bedeutet, wie schwarzer Adler und pour le mérite
zusammen genommen - auf seiner Brust trug. Dies Kreuz gehörte
mit dazu, das mußten sie immer tragen, und dieser Kalatrava-Ritter,
den die Königin natürlich heimlich liebte ...«
»Das ging so machen Tag. Aber das mit der heimlichen Liebe,
die wohl nicht ganz heimlich blieb, das wurde dem Könige doch
zu viel, und weil er den schönen Kalatrava-Ritter überhaupt
nicht recht leiden mochte, - denn er war nicht bloß grausam,
er war auch ein Neidhammel, oder wenn das Wort für einen
König und noch mehr für meine liebenswürdige Zuhörerin,
Frau Effi, nicht recht passen sollte, wenigstens ein Neidling
-, so beschloß er, den Kalatrava-Ritter für die heimliche
Liebe heimlich hinrichten zu lassen.«
»Ich weiß doch nicht, meine Gnädigste. Hören
Sie nur weiter. Etwas geht schon, aber es war zu viel; der König,
find' ich, ging um ein Erkleckliches zu weit. Er heuchelte nämlich,
daß er dem Ritter wegen seiner Kriegs- und Heldenthaten ein
Fest veranstalten wolle, und da gab es denn eine lange, lange
Tafel, und alle Granden des Reichs saßen an dieser Tafel,
und in der Mitte saß der König, und ihm gegenüber
war der Platz für den, dem dies alles galt, also für
den Kalatrava-Ritter, für den an diesem Tage zu Feiernden.
Und weil Der, trotzdem man schon eine ganze Weile seiner gewartet
hatte, noch immer nicht kommen wollte, so mußte schließlich
die Festlichkeit ohne ihn begonnen werden, und es blieb ein leerer
Platz - ein leerer Platz gerade gegenüber dem König.«
»Und nun denken Sie, meine gnädigste Frau, wie der König,
dieser Pedro, sich eben erheben will, um gleißnerisch sein Bedauern
auszusprechen, daß sein 'lieber Gast' noch immer fehle,
da hört man auf der Treppe draußen einen Aufschrei
der entsetzten Dienerschaften, und ehe noch irgend wer weiß,
was geschehen ist, jagt etwas an der langen Festestafel entlang,
und nun springt es auf den Stuhl und setzt ein abgeschlagenes
Haupt auf den leergebliebenen Platz, und über eben dieses
Haupt hinweg starrt Rollo auf sein Gegenüber, den König.
Rollo hatte seinen Herrn auf seinem letzten Gange begleitet, und
im selben Augenblicke, wo das Beil fiel, hatte das treue Tier das
fallende Haupt gepackt, und da war er nun, unser Freund Rollo,
an der langen Festestafel und verklagte den königlichen Mörder.«
Effi war ganz still geworden. Endlich sagte sie: »Crampas,
das ist in seiner Art sehr schön, und weil es sehr schön
ist, will ich es Ihnen verzeihen. Aber Sie könnten doch Bess'res
und zugleich mir Lieberes thun, wenn Sie mir andere Geschichten
erzählten. Auch von Heine. Heine wird doch nicht bloß
von Vitzliputzli und Don Pedro und Ihrem Rollo - denn meiner
hätte so 'was nicht gethan - gedichtet haben. Komm, Rollo!
Armes Tier, ich kann Dich gar nicht mehr ansehen, ohne an den
Kalatrava-Ritter zu denken, den die Königin heimlich liebte
... Rufen Sie, bitte, Kruse, daß er die Sachen hier wieder
in die Halfter steckt, und wenn wir zurückreiten, müssen
Sie mir 'was anderes erzählen, ganz 'was anderes.«
Effi, die dies mit angehört hatte, schüttelte den Kopf.
Dann lachte sie. »Crampas, was fällt Ihnen nur eigentlich
ein? Kruse ist dumm genug, über die Sache nicht weiter nachzudenken,
und wenn er darüber nachdenkt, so findet er glücklicherweise
nichts. Aber das berechtigt Sie doch nicht, dies Glas, dies Dreißigpfennig-Glas
aus der Josefinenhütte ...«
»Nun denn, meinetwegen. Jeder trägt seine Kappe; Sie
wissen, welche. Nur das muß ich Ihnen doch sagen dürfen,
die Rolle, die Sie mir dabei zudiktieren, ist mir zu wenig
schmeichelhaft. Ich mag nicht als Reimwort auf Ihren König
von Thule herumlaufen. Behalten Sie das Glas, aber bitte, ziehen
Sie nicht Schlüsse daraus, die mich kompromittieren. Ich
werde Innstetten davon erzählen.«
