Theodor Fontane: "Effi Briest"alte /neue Rechtschreibung Zur Übersicht Zur Synopse Zur Einzelebene Druck
Sechzehntes Kapitel
Sprung zu Absatz01 Die Tage waren schön und blieben es bis in den Oktober hinein. Eine Folge davon war, daß die halb zeltartige Veranda draußen zu ihrem Rechte kam, so sehr, daß sich wenigstens die Vormittagsstunden regelmäßig darin abspielten. Gegen elf kam dann wohl der Major, um sich zunächst nach dem Befinden der gnädigen Frau zu erkundigen und mit ihr ein wenig zu medisieren, was er wundervoll verstand, danach aber mit Innstetten einen Ausritt zu verabreden, oft landeinwärts, die Kessine hinauf bis an den Breitling, noch häufiger auf die Molen zu. Effi, wenn die Herren fort waren, spielte mit dem Kind oder durchblätterte die von Gieshübler nach wie vor ihr zugeschickten Zeitungen und Journale, schrieb auch wohl einen Brief an die Mama oder sagte: »Roswitha, wir wollen mit Annie spazieren fahren,« und dann spannte sich Roswitha vor den Korbwagen und fuhr, während Effi hinterherging, ein paar hundert Schritt in das Wäldchen hinein, auf eine Stelle zu, wo Kastanien ausgestreut lagen, die man nun auflas, um sie dem Kinde als Spielzeug zu geben. In die Stadt kam Effi wenig; es war niemand recht da, mit dem sie hätte plaudern können, nachdem ein Versuch, mit der Frau von Crampas auf einen Umgangsfuß zu kommen, aufs neue gescheitert war. Die Majorin war und blieb menschenscheu.
Sprung zu Absatz02 Das ging so wochenlang, bis Effi plötzlich den Wunsch äußerte, mit ausreiten zu dürfen; sie habe nun 'mal die Passion und es sei doch zu viel verlangt, bloß um des Geredes der Kessiner willen, auf etwas zu verzichten, das einem so viel wert sei. Der Major fand die Sache kapital und Innstetten, dem es augenscheinlich weniger paßte - so wenig, daß er immer wieder hervorhob, es werde sich kein Damenpferd finden lassen - Innstetten mußte nachgeben, als Crampas versicherte, »das solle seine Sorge sein«. Und richtig, was man wünschte, fand sich auch, und Effi war selig, am Strande hinjagen zu können, jetzt wo »Damenbad« und »Herrenbad« keine scheidenden Schreckensworte mehr waren. Meist war auch Rollo mit von der Partie, und weil es sich ein paarmal ereignet hatte, daß man am Strande zu rasten oder auch eine Strecke Wegs zu Fuß zu machen wünschte, so kam man überein, sich von entsprechender Dienerschaft begleiten zu lassen, zu welchem Behufe des Majors Bursche, ein alter Treptower Ulan, der Knut hieß, und Innstetten's Kutscher Kruse zu Reitknechten umgewandelt wurden, allerdings ziemlich unvollkommen, indem sie, zu Effi's Leidwesen, in eine Phantasie-Livree gesteckt wurden, darin der eigentliche Beruf beider noch nachspukte.
Sprung zu Absatz03 Mitte Oktober war schon heran, als man, so herausstaffiert, zum erstenmal in voller Kavalkade aufbrach, in Front Innstetten und Crampas, Effi zwischen ihnen, dann Kruse und Knut und zuletzt Rollo, der aber bald, weil ihm das Nachtrotten mißfiel, allen vorauf war. Als man das jetzt öde Strandhotel passiert und bald danach, sich rechts haltend, auf dem von einer mäßigen Brandung überschäumten Strandwege den diesseitigen Molendamm erreicht hatte, verspürte man Lust, abzusteigen und einen Spaziergang bis an den Kopf der Mole zu machen. Effi war die erste aus dem Sattel. Zwischen den beiden Steindämmen floß die Kessine breit und ruhig dem Meere zu, das wie eine sonnenbeschienene Fläche, darauf nur hier und da eine leichte Welle kräuselte, vor ihnen lag.
Sprung zu Absatz04 Effi war noch nie hier draußen gewesen, denn als sie vorigen November in Kessin eintraf, war schon Sturmzeit, und als der Sommer kam, war sie nicht mehr im stande, weite Gänge zu machen. Sie war jetzt entzückt, fand alles groß und herrlich, erging sich in kränkenden Vergleichen zwischen dem Luch und dem Meer und ergriff, sooft die Gelegenheit dazu sich bot, ein Stück angeschwemmtes Holz, um es nach links hin in die See oder nach rechts hin in die Kessine zu werfen. Rollo war immer glücklich, im Dienste seiner Herrin sich nachstürzen zu können; mit einemmal aber wurde seine Aufmerksamkeit nach einer ganz anderen Seite hin abgezogen, und sich vorsichtig, ja beinahe ängstlich vorwärts schleichend, sprang er plötzlich auf einen in Front sichtbar werdenden Gegenstand zu, freilich vergeblich, denn im selben Augenblicke glitt von einem sonnenbeschienenen und mit grünem Tang überwachsenen Stein eine Robbe glatt und geräuschlos in das nur etwa fünf Schritt entfernte Meer hinunter. Eine kurze Weile noch sah man den Kopf, dann tauchte auch dieser unter.
Sprung zu Absatz05 Alle waren erregt, und Crampas phantasierte von Robbenjagd und daß man das nächste Mal die Büchse mitnehmen müsse, »denn die Dinger haben ein festes Fell«.
Sprung zu Absatz06 »Geht nicht,« sagte Innstetten; »Hafenpolizei. «
Sprung zu Absatz07 »Wenn ich so 'was höre,« lachte der Major. »Hafenpolizei! Die drei Behörden, die wir hier haben, werden doch wohl untereinander die Augen zudrücken können. Muß denn alles so furchtbar gesetzlich sein? Gesetzlichkeiten sind langweilig.«
Sprung zu Absatz08 Effi klatschte in die Hände.
Sprung zu Absatz09 »Ja, Crampas, Sie kleidet das, und Effi, wie Sie sehen, klatscht Ihnen Beifall. Natürlich; die Weiber schreien sofort nach einem Schutzmann, aber von Gesetz wollen sie nichts wissen.«
Sprung zu Absatz10 »Das ist so Frauenrecht von alter Zeit her, und wir werden's nicht ändern, Innstetten.«
Sprung zu Absatz11 »Nein,« lachte dieser, »und ich will es auch nicht. Auf Mohrenwäsche lasse ich mich nicht ein. Aber einer wie Sie, Crampas, der unter der Fahne der Disziplin groß geworden ist und recht gut weiß, daß es ohne Zucht und Ordnung nicht geht, ein Mann wie Sie, der sollte doch eigentlich so 'was nicht reden, auch nicht einmal im Spaß. Indessen, ich weiß schon, Sie haben einen himmlischen Kehrmichnichtdran und denken, der Himmel wird nicht gleich einstürzen. Nein, gleich nicht. Aber 'mal kommt es.«
Sprung zu Absatz12 Crampas wurde einen Augenblick verlegen, weil er glaubte, das alles sei mit einer gewissen Absicht gesprochen, was aber nicht der Fall war. Innstetten hielt nur einen seiner kleinen moralischen Vorträge, zu denen er überhaupt hinneigte. »Da lob' ich mir Gieshübler,« sagte er einlenkend, »immer Kavalier und dabei doch Grundsätze.«
Sprung zu Absatz13 Der Major hatte sich mittlerweile wieder zurechtgefunden und sagte in seinem alten Ton: »Ja, Gieshübler; der beste Kerl von der Welt und, wenn möglich, noch bessere Grundsätze. Aber am Ende woher? warum? Weil er einen 'Verdruß' hat. Wer gerade gewachsen ist, ist für Leichtsinn. Überhaupt ohne Leichtsinn ist das ganze Leben keinen Schuß Pulver wert.«
Sprung zu Absatz14 »Nun hören Sie, Crampas, gerade soviel kommt mitunter dabei heraus.« Und dabei sah er auf des Majors linken, etwas verkürzten Arm.
Sprung zu Absatz15 Effi hatte von diesem Gespräch wenig gehört. Sie war dicht an die Stelle getreten, wo die Robbe gelegen, und Rollo stand neben ihr. Dann sahen beide, von dem Stein weg, auf das Meer und warteten, ob die 'Seejungfrau' noch einmal sichtbar werden würde.
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Sprung zu Absatz
Sprung zu Absatz16 Ende Oktober begann die Wahlkampagne, was Innstetten hinderte, sich ferner an den Ausflügen zu beteiligen, und auch Crampas und Effi hätten jetzt um der lieben Kessiner willen wohl verzichten müssen, wenn nicht Knut und Kruse als eine Art Ehrengarde gewesen wären. So kam es, daß sich die Spazierritte bis in den November hinein fortsetzten.
Sprung zu Absatz17 Ein Wetterumschlag war freilich eingetreten, ein andauernder Nordwest trieb Wolkenmassen heran, und das Meer schäumte mächtig, aber Regen und Kälte fehlten noch und so waren diese Ausflüge bei grauem Himmel und lärmender Brandung fast noch schöner, als sie vorher bei Sonnenschein und stiller See gewesen waren. Rollo jagte vorauf, dann und wann von der Gischt überspritzt, und der Schleier von Effi's Reithut flatterte im Winde. Dabei zu sprechen, war fast unmöglich; wenn man dann aber, vom Meer fort, in die schutzgebenden Dünen oder noch besser in den weiter zurückgelegenen Kiefernwald einlenkte, so wurd' es still, Effi's Schleier flatterte nicht mehr, und die Enge des Wegs zwang die beiden Reiter dicht nebeneinander. Das war dann die Zeit, wo man - schon um der Knorren und Wurzeln willen im Schritt reitend - die Gespräche, die der Brandungslärm unterbrochen hatte, wieder aufnehmen konnte. Crampas, ein guter Causeur, erzählte dann Kriegs- und Regimentsgeschichten, auch Anekdoten und kleine Charakterzüge von Innstetten, »der mit seinem Ernst und seiner Zugeknöpftheit in den übermütigen Kreis der Kameraden nie recht hineingepaßt habe, so daß er eigentlich immer mehr respektiert als geliebt worden sei.«
Sprung zu Absatz18 »Das kann ich mir denken,« sagte Effi, »ein Glück nur, daß der Respekt die Hauptsache ist.«
Sprung zu Absatz19 »Ja, zu seiner Zeit. Aber er paßt doch nicht immer. Und zu dem allen kam noch seine mystische Richtung, die mitunter Anstoß gab, einmal weil Soldaten überhaupt nicht sehr für derlei Dinge sind, und dann weil wir die Vorstellung unterhielten, vielleicht mit Unrecht, daß er doch nicht ganz so dazu stände, wie er's uns einreden wollte.«
Sprung zu Absatz20 »Mystische Richtung?« sagte Effi. »Ja, Major, was verstehen Sie darunter? Er kann doch keine Konventikel abgehalten und den Propheten gespielt haben. Auch nicht einmal den aus der Oper ... ich habe seinen Namen vergessen.«
Sprung zu Absatz21 »Nein, so weit ging er nicht. Aber es ist vielleicht besser, davon abzubrechen. Ich möchte nicht hinter seinem Rücken etwas sagen, was falsch ausgelegt werden könnte. Zudem sind es Dinge, die sich sehr gut auch in seiner Gegenwart verhandeln lassen. Dinge, die nur, man mag wollen oder nicht, zu 'was Sonderbarem aufgebauscht werden, wenn er nicht dabei ist und nicht jeden Augenblick eingreifen und uns widerlegen oder meinetwegen auch auslachen kann.«
Sprung zu Absatz22 »Aber das ist ja grausam, Major. Wie können Sie meine Neugier so auf die Folter spannen. Erst ist es 'was und dann ist es wieder nichts. Und Mystik! Ist er denn ein Geisterseher?«
Sprung zu Absatz23 »Ein Geisterseher! Das will ich nicht gerade sagen. Aber er hatte eine Vorliebe, uns Spukgeschichten zu erzählen. Und wenn er uns dann in große Aufregung versetzt und manchen auch wohl geängstigt hatte, dann war es mit einemmale wieder, als habe er sich über alle die Leichtgläubigen bloß moquieren wollen. Und kurz und gut, einmal kam es, daß ich ihm auf den Kopf zusagte: 'Ach was, Innstetten, das ist ja alles bloß Komödie. Mich täuschen Sie nicht. Sie treiben Ihr Spiel mit uns. Eigentlich glauben Sie's grad so wenig wie wir, aber Sie wollen sich interessant machen und haben eine Vorstellung davon, daß Ungewöhnlichkeiten nach oben hin besser empfehlen. In höheren Karrieren will man keine Alltagsmenschen. Und da Sie so 'was vorhaben, so haben Sie sich 'was Apartes ausgesucht und sind bei der Gelegenheit auf den Spuk gefallen.'«
Sprung zu Absatz24 Effi sagte kein Wort, was dem Major zuletzt bedrücklich wurde. »Sie schweigen, gnädigste Frau.«
Sprung zu Absatz25 »Ja.«
Sprung zu Absatz26 »Darf ich fragen warum? Hab' ich Anstoß gegeben? Oder finden Sie's unritterlich, einen abwesenden Freund, ich muß das trotz aller Verwahrungen einräumen, ein klein wenig zu hecheln? Aber da thun Sie mir trotz alledem Unrecht. Das alles soll ganz ungeniert seine Fortsetzung vor seinen Ohren haben, und ich will ihm dabei jedes Wort wiederholen, was ich jetzt eben gesagt habe.«
Sprung zu Absatz27 »Glaub' es.« Und nun brach Effi ihr Schweigen und erzählte, was sie alles in ihrem Hause erlebt und wie sonderbar sich Innstetten damals dazu gestellt habe. »Er sagte nicht ja und nicht nein, und ich bin nicht klug aus ihm geworden.«
Sprung zu Absatz28 »Also ganz der Alte,« lachte Crampas. »So war er damals auch schon, als wir in Liancourt und dann später in Beauvais mit ihm in Quartier lagen. Er wohnte da in einem alten bischöflichen Palast - beiläufig, was Sie vielleicht interessieren wird, war es ein Bischof von Beauvais, glücklicherweise 'Cochon' mit Namen, der die Jungfrau von Orleans zum Feuertod verurteilte - und da verging denn kein Tag, das heißt keine Nacht, wo Innstetten nicht Unglaubliches erlebt hatte. Freilich immer nur so halb. Es konnte auch nichts sein. Und nach diesem Prinzip arbeitet er noch, wie ich sehe.«
Sprung zu Absatz29 »Gut, gut. Und nun ein ernstes Wort, Crampas, auf das ich mir eine ernste Antwort erbitte: wie erklären Sie sich dies alles?«
Sprung zu Absatz30 »Ja, meine gnädigste Frau ...«
Sprung zu Absatz31 »Keine Ausweichungen, Major. Dies alles ist sehr wichtig für mich. Er ist Ihr Freund und ich bin Ihre Freundin. Ich will wissen, wie hängt dies zusammen? Was denkt er sich dabei?«
Sprung zu Absatz32 »Ja, meine gnädigste Frau, Gott sieht ins Herz, aber ein Major vom Landwehrbezirks-Kommando, der sieht in gar nichts. Wie soll ich solche psychologischen Rätsel lösen? Ich bin ein einfacher Mann.«
Sprung zu Absatz33 »Ach, Crampas, reden Sie nicht so thöricht. Ich bin zu jung, um eine große Menschenkennerin zu sein; aber ich müßte noch vor der Einsegnung und beinah' vor der Taufe stehen, um Sie für einen einfachen Mann zu halten. Sie sind das Gegenteil davon, Sie sind gefährlich ...«
Sprung zu Absatz34 »Das Schmeichelhafteste, was einem guten Vierziger, mit einem a.D. auf der Karte, gesagt werden kann. Und nun also, was sich Innstetten dabei denkt ...«
Sprung zu Absatz35 Effi nickte.
Sprung zu Absatz36 »Ja, wenn ich durchaus sprechen soll, er denkt sich dabei, daß ein Mann, wie Landrat Baron Innstetten, der jeden Tag Ministerial-Direktor oder dergleichen werden kann (denn glauben Sie mir, er ist hoch hinaus), daß ein Mann wie Baron Innstetten nicht in einem gewöhnlichen Hause wohnen kann, nicht in einer solchen Kate, wie die landrätliche Wohnung, ich bitte um Vergebung, gnädigste Frau, doch eigentlich ist. Da hilft er denn nach. Ein Spukhaus ist nie 'was Gewöhnliches ... Das ist das Eine.«
Sprung zu Absatz37 »Das Eine? Mein Gott, haben Sie noch etwas?«
Sprung zu Absatz38 »Ja.«
Sprung zu Absatz39 »Nun denn, ich bin ganz Ohr. Aber wenn es sein kann, lassen Sie's 'was Gutes sein.«
Sprung zu Absatz40 »Dessen bin ich nicht ganz sicher. Es ist etwas Heikles, beinah Gewagtes, und ganz besonders vor Ihren Ohren, gnädigste Frau.«
Sprung zu Absatz41 »Das macht mich nur um so neugieriger.«
Sprung zu Absatz42 »Gut denn. Also Innstetten, meine gnädigste Frau, hat außer seinem brennenden Verlangen, es koste was es wolle, ja, wenn es sein muß unter Heranziehung eines Spuks, seine Karriere zu machen, noch eine zweite Passion: Er operiert nämlich immer erzieherisch, ist der geborene Pädagog, und hätte, links Basedow und rechts Pestalozzi (aber doch kirchlicher als beide), eigentlich nach Schnepfenthal oder Bunzlau hingepaßt.«
Sprung zu Absatz43 »Und will er mich auch erziehen? Erziehen durch Spuk?«
Sprung zu Absatz44 »Erziehen ist vielleicht nicht das richtige Wort. Aber doch erziehen auf einem Umweg.«
Sprung zu Absatz45 »Ich verstehe Sie nicht.«
Sprung zu Absatz46 »Eine junge Frau ist eine junge Frau, und ein Landrat ist ein Landrat. Er kutschiert oft im Kreise umher, und dann ist das Haus allein und unbewohnt. Aber solch Spuk ist wie ein Cherub mit dem Schwert ...«
Sprung zu Absatz47 »Ah, da sind wir wieder aus dem Wald heraus,« sagte Effi. »Und da ist Utpatels Mühle. Wir müssen nur noch an dem Kirchhof vorüber.«
Sprung zu Absatz48 Gleich danach passierten sie den Hohlweg zwischen dem Kirchhof und der eingegitterten Stelle, und Effi sah nach dem Stein und der Tanne hinüber, wo der Chinese lag.