Mitte November - sie waren bis Capri und Sorrent gekommen - lief
Innstettens Urlaub ab, und es entsprach seinem Charakter und seinen
Gewohnheiten, genau Zeit und Stunde zu halten. Am 14. früh
traf er denn auch mit dem Kurierzuge in Berlin
ein, wo Vetter Briest ihn und die Kousine begrüßte
und vorschlug, die zwei bis zum Abgange des Stettiner Zuges noch
zur Verfügung bleibenden Stunden zum Besuch des St. Privat-Panoramas
zu benutzen und diesem Panoramabesuch ein kleines Gabelfrühstück
folgen zu lassen. Beides wurde dankbar acceptiert. Um Mittag war
man wieder auf dem Bahnhof und nahm hier, nachdem, wie herkömmlich,
die glücklicherweise nie ernst gemeinte Aufforderung, »doch
auch 'mal herüberzukommen,« ebenso von Effi wie
von Innstetten ausgesprochen worden war, unter herzlichem Händeschütteln
Abschied von einander. Noch als der Zug sich schon in Bewegung
setzte, grüßte Effi vom Koupee aus. Dann machte
sie sich's bequem und schloß die Augen; nur von Zeit zu
Zeit richtete sie sich wieder auf und reichte Innstetten die Hand.
Es war eine angenehme Fahrt, und pünktlich erreichte der
Zug den Bahnhof Klein-Tantow, von dem aus eine Chaussee nach dem
noch zwei Meilen entfernten Kessin hinüberführte. Bei
Sommerzeit, namentlich während der Bademonate, benutzte man
statt der Chaussee lieber den Wasserweg und fuhr, auf einem alten
Raddampfer, das Flüßchen Kessine, dem Kessin selbst
seinen Namen verdankte, hinunter; am 1. Oktober aber stellte der
»Phönix«, von dem seit lange vergeblich gewünscht
wurde, daß er in einer passagierfreien Stunde sich seines
Namens entsinnen und verbrennen möge, regelmäßig
seine Fahrten ein, weshalb denn auch Innstetten bereits von Stettin
aus an seinen Kutscher Kruse telegraphiert hatte: »Fünf
Uhr, Bahnhof Klein-Tantow. Bei gutem Wetter offener Wagen.«
»Dann, Effi, bitte, steig' ein.« Und während Effi
dem nachkam, und einer von den Bahnhofsleuten einen kleinen Handkoffer
vorn beim Kutscher unterbrachte, gab Innstetten Weisung, den Rest
des Gepäcks mit dem Omnibus nachzuschicken. Gleich danach
nahm auch er seinen Platz, bat, sich populär machend, einen
der Umstehenden um Feuer und rief Kruse zu: »Nun vorwärts,
Kruse.« Und über die Schienen weg, die vielgleisig an
der Übergangsstelle lagen, ging es in Schräglinie den
Bahndamm hinunter und gleich danach an einem schon an der Chaussee
gelegenen Gasthause vorüber, das den Namen »Zum Fürsten
Bismarck« führte. Denn an eben dieser Stelle gabelte
der Weg und zweigte, wie rechts nach Kessin, so links nach Varzin
hin ab. Vor dem Gasthofe stand ein mittelgroßer, breitschultriger
Mann in Pelz und Pelzmütze, welch letztere er, als der Herr
Landrat vorüberfuhr, mit vieler Würde vom Haupte nahm.
»Wer war denn das?« sagte Effi, die durch alles, was
sie sah, aufs höchste interessiert und schon deshalb bei
bester Laune war. »Er sah ja aus wie ein Starost, wobei ich
freilich bekennen muß, nie einen Starosten gesehen zu haben.«
»Was auch nicht schadet, Effi. Du hast es trotzdem sehr gut
getroffen. Er sieht wirklich aus wie ein Starost und ist auch
so 'was. Er ist nämlich ein halber Pole, heißt Golchowski,
und wenn wir hier Wahl haben oder eine Jagd, dann ist er obenauf.
Eigentlich ein ganz unsicherer Passagier, dem ich nicht über
den Weg traue, und der wohl viel auf dem Gewissen hat. Er spielt
sich aber auf den Loyalen hin aus und wenn die Varziner Herrschaften
hier vorüberkommen, möcht' er sich am liebsten vor den
Wagen werfen. Ich weiß, daß er dem Fürsten auch
widerlich ist. Aber was hilft's? Wir dürfen es nicht mit
ihm verderben, weil wir ihn brauchen. Er hat hier die ganze Gegend
in der Tasche und versteht die Wahlmache wie kein anderer, gilt
auch für wohlhabend. Dabei leiht er auf Wucher, was sonst
die Polen nicht thun; in der Regel das Gegenteil.«
»Ja, gut aussehen thut er. Gut aussehen thun die meisten hier.
Ein hübscher Schlag Menschen. Aber das ist auch das Beste,
was man von ihnen sagen kann. Eure märkischen Leute sehen
unscheinbarer aus und verdrießlicher, und in ihrer Haltung
sind sie weniger respektvoll, eigentlich gar nicht, aber ihr Ja
ist Ja und Nein ist Nein, und man kann sich auf sie verlassen.
Hier ist alles unsicher.«
»Weil es eben ganz andere Menschen sind, ihrer Abstammung
nach und ihren Beziehungen nach. Was Du hier landeinwärts
findest, das sind sogenannte Kaschuben, von denen Du vielleicht
gehört hast, slavische Leute, die hier schon tausend Jahre
sitzen und wahrscheinlich noch viel länger. Alles aber, was
hier an der Küste hin in den kleinen See- und Handelsstädten
wohnt, das sind von weither Eingewanderte, die sich um das kaschubische
Hinterland wenig kümmern, weil sie wenig davon haben und
auf etwas ganz anderes angewiesen sind. Worauf sie angewiesen
sind, das sind die Gegenden, mit denen sie Handel treiben und
da sie das mit aller Welt thun und mit aller Welt in Verbindung
stehen, so findest Du zwischen ihnen auch Menschen aus aller Welt
Ecken und Enden. Auch in unserem guten Kessin, trotzdem es eigentlich
nur ein Nest ist.«
»Auch einen Chinesen. Wie gut Du raten kannst. Es ist möglich,
daß wir wirklich noch einen haben, aber jedenfalls haben
wir einen gehabt; jetzt ist er tot und auf einem kleinen eingegitterten
Stück Erde begraben, dicht neben dem Kirchhof. Wenn Du nicht
furchtsam bist, will ich Dir bei Gelegenheit 'mal sein Grab zeigen;
es liegt zwischen den Dünen, bloß Strandhafer drum'rum
und dann und wann ein paar Immortellen, und immer hört man
das Meer. Es ist sehr schön und sehr schauerlich.«
»Ja, das hat er,« lachte Geert. »Aber der Rest
ist, Gott sei Dank, von ganz anderer Art, lauter manierliche Leute,
vielleicht ein bißchen zu sehr Kaufmann, ein bißchen
zu sehr auf ihren Vorteil bedacht, und mit Wechseln von zweifelhaftem
Wert immer bei der Hand. Ja, man muß sich vorsehen mit ihnen.
Aber sonst ganz gemütlich. Und damit Du siehst, daß
ich Dir nichts vorgemacht habe, will ich Dir nur so eine kleine
Probe geben, so eine Art Register oder Personenverzeichnis.«
»Nein, Gott sei Dank nicht, denn es ist ein verhutzeltes
Männchen, auf das weder sein Clan noch Walter Scott besonders
stolz sein würden. Und dann haben wir in demselben Hause,
wo dieser Macpherson wohnt, auch noch einen alten Wundarzt, Beza
mit Namen, eigentlich bloß Barbier; der stammt aus Lissabon,
gerade daher, wo auch der berühmte General de Meza herstammt
- Meza, Beza, Du hörst die Landesverwandtschaft heraus. Und
dann haben wir flußaufwärts am Bollwerk - das ist nämlich
der Quai, wo die Schiffe liegen - einen Goldschmied namens Stedingk,
der aus einer alten schwedischen Familie stammt; ja, ich glaube,
es giebt sogar Reichsgrafen, die so heißen, und des weiteren,
und damit will ich dann vorläufig abschließen, haben
wir den guten alten Doktor Hannemann, der natürlich ein Däne
ist und lange in Island war und sogar ein kleines Buch geschrieben
hat über den letzten Ausbruch des Hekla oder Krabla.«
»Das ist ja aber großartig, Geert. Das ist ja wie sechs
Romane, damit kann man ja gar nicht fertig werden. Es klingt erst
spießbürgerlich und ist doch hinterher ganz apart.
Und dann müßt ihr ja doch auch Menschen haben, schon
weil es eine Seestadt ist, die nicht bloß Chirurgen oder
Barbiere sind oder sonst dergleichen. Ihr müßt doch
auch Kapitäne haben, irgendeinen fliegenden Holländer
oder ...«
»Ja, Rollo. Du denkst dabei, vorausgesetzt, daß Du
bei Niemeyer oder Jahnke von dergleichen gehört hast, an
den Normannenherzog, und unserer hat auch so 'was. Es ist aber
bloß ein Neufundländer, ein wunderschönes Tier,
das mich liebt und Dich auch lieben wird. Denn Rollo ist ein Kenner.
Und solange Du den um Dich hast, so lange bist Du sicher und kann
nichts an Dich heran, kein Lebendiger und kein Toter. Aber sieh'
mal den Mond da drüben. Ist es nicht schön?«
Effi, die, still in sich versunken, jedes Wort halb ängstlich,
halb begierig eingesogen hatte, richtete sich jetzt auf und sah
nach rechts hinüber, wo der Mond, unter weißem, aber
rasch hinschwindendem Gewölk, eben aufgegangen war. Kupferfarben
stand die große Scheibe hinter einem Erlengehölz und
warf ihr Licht auf eine breite Wasserfläche, die die Kessine
hier bildete. Oder vielleicht war es auch schon ein Haff, an dem
das Meer draußen seinen Anteil hatte.
Effi war wie benommen. »Ja, Du hast recht, Geert, wie schön;
aber es hat zugleich so 'was Unheimliches. In Italien habe ich
nie solchen Eindruck gehabt, auch nicht, als wir von Mestre nach
Venedig hinüberfuhren. Da war auch Wasser und Sumpf und Mondschein,
und ich dachte, die Brücke würde brechen; aber es war
nicht so gespenstig. Woran liegt es nur? Ist es doch das Nördliche?«
Eine halbe Stunde später hielt der Wagen an der ganz am entgegengesetzten
Ende der Stadt gelegenen landrätlichen Wohnung, einem einfachen,
etwas altmodischen Fachwerkhause, das mit seiner Front auf die
nach den Seebädern hinausführende Hauptstraße,
mit seinem Giebel aber auf ein zwischen der Stadt und den Dünen
liegendes Wäldchen, das die »Plantage« hieß,
hernieder blickte. Dies altmodische Fachwerkhaus war übrigens nur Innstettens
Privatwohnung, nicht das eigentliche Landratsamt, welches letztere,
schräg gegenüber, an der anderen Seite der Straße
lag.
Kruse hatte nicht nötig, durch einen dreimaligen Peitschenknips
die Ankunft zu vermelden; längst hatte man von Thür und
Fenstern aus nach den Herrschaften ausgeschaut, und ehe noch der
Wagen heran war, waren bereits alle Hausinsassen auf dem die ganze
Breite des Bürgersteiges einnehmenden Schwellstein versammelt,
vorauf Rollo, der im selben Augenblicke, wo der Wagen hielt, diesen
zu umkreisen begann. Innstetten war zunächst seiner jungen
Frau beim Aussteigen behilflich und ging dann, dieser den Arm
reichend, unter freundlichem Gruß an der Dienerschaft vorüber,
die nun dem jungen Paare in den mit prächtigen alten Wandschränken
umstandenen Hausflur folgte. Das Hausmädchen, eine hübsche,
nicht mehr ganz jugendliche Person, der ihre stattliche Fülle
fast ebenso gut kleidete, wie das zierliche Mützchen auf dem
blonden Haar, war der gnädigen Frau beim Ablegen von Muff
und Mantel behilflich und bückte sich eben, um ihr auch die
mit Pelz gefütterten Gummistiefel auszuziehen. Aber ehe sie
noch dazu kommen konnte, sagte Innstetten: »Es wird das beste
sein, ich stelle Dir gleich hier unsere gesamte Hausgenossenschaft
vor, mit Ausnahme der Frau Kruse, die sich - ich vermute sie wieder
bei ihrem unvermeidlichen schwarzen Huhn - nicht gerne sehen läßt.«
Alles lächelte. »Aber lassen wir Frau Kruse ... Dies
hier ist mein alter Friedrich, der schon mit mir auf der Universität
war ... Nicht wahr, Friedrich, gute Zeiten damals ... Und dies
hier ist Johanna, märkische Landsmännin von Dir, wenn
Du, was aus Pasewalker Gegend stammt, noch für voll gelten
lassen willst, und dies ist Christel, der wir mittags und abends
unser leibliches Wohl anvertrauen, und die zu kochen versteht,
das kann ich Dir versichern. Und dies hier ist Rollo. Nun, Rollo,
wie geht's?«
»Schon gut, Rollo, schon gut. Aber sieh da, das ist die Frau;
ich hab' ihr von Dir erzählt und ihr gesagt, daß Du
ein schönes Tier seist und sie schützen würdest.«
Und nun ließ Rollo ab und setzte sich vor Innstetten nieder,
zugleich neugierig zu der jungen Frau aufblickend. Und als diese
ihm die Hand hinhielt, umschmeichelte er sie.
Effi hatte während dieser Vorstellungsszene Zeit gefunden,
sich umzuschauen. Sie war wie gebannt von allem, was sie sah,
und dabei geblendet von der Fülle von Licht. In der vorderen
Flurhälfte brannten vier, fünf Wandleuchter, die Leuchter
selbst sehr primitiv, von bloßem Weißblech, was aber
den Glanz und die Helle nur noch steigerte. Zwei mit roten Schleiern
bedeckte Astrallampen, Hochzeitsgeschenk von Niemeyer, standen
auf einem zwischen zwei Eichenschränken angebrachten Klapptisch,
in Front davon das Theezeug, dessen Lämpchen unter dem Kessel
schon angezündet war. Aber noch viel, viel anderes und zum
Teil sehr Sonderbares kam zu dem allen hinzu. Quer über den
Flur fort liefen drei, die Flurdecke in ebenso viele Felder teilende
Balken; an dem vordersten hing ein Schiff mit vollen Segeln, hohem
Hinterdeck und Kanonenluken, während weiterhin ein riesiger
Fisch in der Luft zu schwimmen schien. Effi nahm ihren Schirm,
den sie noch in Händen hielt, und stieß leis an das
Ungetüm an, so daß es sich in eine langsam schaukelnde
Bewegung setzte.
Er bot nun Effi den Arm, und während sich die beiden Mädchen
zurückzogen und nur Friedrich und Rollo folgten, trat man,
nach links hin, in des Hausherrn Wohn- und Arbeitszimmer ein.
Effi war hier ähnlich überrascht wie draußen im
Flur; aber ehe sie sich darüber äußern konnte,
schlug Innstetten eine Portiere zurück, hinter der ein zweites,
etwas größeres Zimmer, mit Blick auf Hof und Garten
gelegen war. »Das, Effi, ist nun also Dein. Friedrich und
Johanna haben es, so gut es ging, nach meinen Anordnungen herrichten
müssen. Ich finde es ganz erträglich und würde
mich freuen, wenn es Dir auch gefiele.«
»Ah, Gieshübler, Alonzo Gieshübler,« sagte Innstetten
und reichte lachend und in beinahe ausgelassener Laune die Karte
mit dem etwas fremdartig klingenden Vornamen zu Effi hinüber.
»Gieshübler, von dem hab' ich Dir zu erzählen vergessen
- beiläufig, er führt auch den Doktortitel, hat's aber
nicht gern, wenn man ihn dabei nennt, das ärgere, so meint
er, die richtigen Doktors bloß, und darin wird er wohl
recht haben. Nun, ich denke, Du wirst ihn kennen lernen, und zwar
bald; er ist unsere beste Nummer hier, Schöngeist und Original
und vor allem Seele von Mensch, was doch immer die Hauptsache
bleibt. Aber lassen wir das alles und setzen uns und nehmen unsern
Thee. Wo soll es sein? Hier bei Dir oder drin bei mir? Denn eine
weitere Wahl giebt es nicht. Eng und klein ist meine Hütte.«
