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Sechstes Kapitel
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... die zwei bis zum Abgange des Stettiner Zuges noch zur Verfügung bleibenden Stunden zum Besuch des St. Privat-Panoramas zu benutzen ...
Das "St.-Privat-Panorama" zeigte (allerdings erst ab 1881) die Erstürmung des Dorfes St. Privat-la-Montagne im deutsch-französischen Krieg 1870/71. Der Reiz solcher Panoramen lag darin, dass sie einen wirklichkeitsnahen Rundum-Blick auf eine ganze Landschaft oder Szenerie gewährten. Durch einen unterhalb geführten Gang gelangte man in die Mitte eines weitläufigen Raumes, wo man sich, aufgestiegen zu einer Plattform, im Zentrum eines rundum sich ausbreitenden Geschehens befand. Das an der Wand umlaufende Bild gab den Horizont, während davor und zur Mitte hin perspektivisch vergrößert Einzelheiten plastisch ausgeführt waren, so dass die Grenze zwischen dem plastischen und dem gemalten Teil oft schwer auszumachen war. Die Vollständigkeit des Horizonts, die perspektivisch-realistische Wiedergabe der Einzelheiten und eine geschickte Beleuchtung konnten in solchen Panoramen ein nahezu perfekten Eindruck von Wirklichkeit erzeugen, und so wurde der nicht geringe Eintrittspreis von etwa einer Mark - heute an die zehn Euro - gern bezahlt. War das Interesse erschöpft, verbrachte man das Panorama-Bild in eine andere Stadt und ein neues zog in das Rundhaus ein. Schon vor dem ersten Weltkrieg wurden die Panoramen dann aber durch den Film - das Kino - mehr und mehr ersetzt.
Das National-Panorama (Rundbau rechts) und das Gebäude des preußischen Generalstabs (links) vor dem Neubau der Moltke-Brücke am Spreebogen (Foto von Hermann Rückwardt 1889).
Das National-Panorama (1) nahe der Stelle des heutigen Bundeskanzleramtes, der Lehrter Bahnhof (2) an der Stelle des heutigen Zentralbahnhofes und der Stettiner Bahnhof (3).
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Um Mittag war man wieder auf dem Bahnhof ...
Dass Effi und Innstetten nach dem pommerschen Kessin vom Stettiner Bahnhof abfahren, entspricht durchaus den Eisenbahnverbindungen dorthin. Die Strecke der preußischen Staatsbahn entlang der pommerschen Küste führte über Stettin, Stargard, Schlawe und Stolp bis nach Danzig. Innstetten mit seiner Äußerung, man sei hier fünfzehn Meilen (~ 115 km) nördlicher als in Hohen-Cremmen (Kap.6, Abs.40) taxiert den Meridian-Abstand allerdings etwas knapp, es sind deutlich mehr als 20 Meilen.
Der 1876 eröffnete Stettiner Bahnhof war in jener Zeit von den acht Berliner Fernbahnhöfen der mit dem größten Fahrgastaufkommen, da über ihn vor allem der Urlauberverkehr mit der Ostsee ablief.
Das Netz der preußischen Staatsbahn im Jahre 1885 mit den Direktionen Berlin (blau), Bromberg (rot) und Magdeburg (schwarz) sowie die Stargard-Cüstriner Eisenbahn (grün).
Benutzte Literatur: Nietmann, W.
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Die Lage Kessins ist durch die Nähe zu Varzin, dem Gut Bismarcks in Pommern, ziemlich genau bestimmt, aber einen Ort dieses Namens gibt es in dieser Gegend nicht. Man könnte ihn sich an die Stelle von Rügenwalde bzw. Rügenwaldermünde denken, doch hat Fontane diese Gegend nicht gekannt. Wie er selbst erklärt hat und sich aus dem Roman auch ergibt, hat er sich vielmehr für die Beschreibung Kessins und seiner Umgebung ganz an Swinemünde (heute Swinoujscie) gehalten, die Stadt am Ostende von Usedom, in der er zwischen seinem achten und dreizehnten Lebensjahr selbst gelebt hat. "... Kessin, dem ich die Scenerie von Swinemünde gegeben habe", bekennt er in einem Brief vom 12. Juni 1895 an Anna Catharina Mayer. Die Varziner Gegend wird nur durch einen einzigen weiteren geographischen Namen in dem Roman noch berührt, Köslin, als es in Kapitel 19 über den Wohlstand des Oberförsters Ring heißt, seine Mutter sei nur "eine Plättfrau aus Köslin" gewesen. Die lokalen Einzelheiten Kessins werden deshalb fortan nach dem Bild des rund 180 km weiter westlich gelegenen Swinemünde dargestellt.
Die pommersche Küste hinter Köslin (heute Koselice) - der angedeutete geographische Raum für die erfundene Stadt Kessin.
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... weshalb denn auch Innstetten bereits von Stettin aus an seinen Kutscher Kruse telegraphiert hatte: "Fünf Uhr, Bahnhof Klein-Tantow ..."
Klein-Tantow: erfundender Bahnhof in der Gegend von Schlawe, wo es dann "wie rechts nach Kessin, so links nach Varzin hin" abgeht. Man wäre mit dem Zug also über die Abzweigungen hinausgefahren und müsste zunächst ein Stück nach Westen zurück, bevor es rechts - in nördlicher Richtung - nach dem zwei Meilen entfernten Kessin (die Landmeile zu 7,5 km) ginge. In Kapitel 28, als Innstetten sich wegen des Duells noch einmal hier einfindet, heißt es allerdings, dass der Weg nach Kessin von der Bahnstation aus "links abzweigte", was dann eine Bewegung weiter in Zugfahrtrichtung bedeuten würde. In jedem Falle liegen diesem Lageverhältnis die Bedingungen von Swinemünde zugrunde. So wie Swinemünde, bevor es 1876 als Abzweig der Linie Stettin-Stralsund seinen Bahnanschluss erhielt, entweder von Stettin her per Schiff über das Oder-Haff und die Swine zu erreichen war oder auf dem Landweg mit einer Überfahrt nach Usedom bei Zecherin, so wird Kessin über den Breitling und die Kessine erreicht oder parallel dazu in einer zweistündigen Kutschenfahrt.
Die pommersche Küste mit Stettin, Usedom und Swinemünde, dem tatsächlichen Vorstellungs-Raum für die Kessiner Handlung.
Dass Kessin seinem Profil nach Swinemünde ist, zeigt sich zunächst an einigen Namens-Parallelen. Die Uferstraße heißt hier wie die von Swinemünde 'Bollwerk', das zwischen der Stadt und dem Meer liegende Wäldchen 'Plantage' (in der Bedeutung von 'Pflanzung', urbar gemachtes Sumpfland), an der Kessine-Mündung gibt es wie an der Swine zwei Molen und in der Umgebung noch das Dorf Morgenitz und den Gothensee. Die Größe der Stadt entspricht allerdings nicht derjenigen Swinemündes von 1880, sondern ist die der ersten Jahrhunderthälfte. Es ist eine Stadt von 3000 Einwohnern mit pro Saison 1500 Badegästen (Swinemünde hatte um 1880 schon 10 000 Einwohner und 15 000 Badegäste), und auch ihre gesellschaftliche Dürftigkeit kennzeichnet Fontane ganz so, wie er es 1893 in "Meine Kinderjahre" für Swinemünde tut. Es gibt zwar Konsuln aus vieler Herren Länder und Schiffsverkehr über die Ostsee, aber die Honoratioren der Stadt sind eher Originale als 'feine Leute' und stellen für einen Landrat und seine Frau keinen rechten Umgang dar. Viel deutlicher noch aber erweist sich die Identität von Kessin und Swinemünde in den Raumverhältnissen. Sämtliche in "Effi Briest" vorkommenden Orts- und Richtungsangaben lassen sich problemlos in einen Swinemünder Stadtplan übertragen und geben dann für die Handlung die passenden Aufschlüsse. Es ist wirklich diese Stadt, in der sich Fontane das Kessiner Geschehen vorgestellt hat - und so ist es auch sinnvoll, es dorthin zu projizieren.
Die Stadt Kessin in den Konturen von Swinemünde (mit Links zu den zugehörigen Romanstellen hinterlegt).
Schwieriger allerdings ist es, diesen Schauplatz - oder Fontanes Vorstellungen davon - in Bildern wiederzugeben. Swinemünde hat sich während des 19. Jahrhunderts stark verändert, so dass sich das Stadtbild von 1830 und das Milieu von 1880 in keiner Abbildung treffen. In den Zeichnungen aus dem frühen 19. Jahrhundert sind natürlich auch die früheren Lebensverhältnisse sichtbar und sind der Handlung nicht angemessen, und in den späteren Fotos zeigt sich zwar das richtige Milieu, aber das gemeinte Stadtbild ist nicht mehr vorhanden. Fontane selbst hat diesen Wandel, als er Swinemünde dreißig Jahre nach seinem Weggang von dort noch einmal besuchte, auch selbst registriert, war sich also dieses Gegensatzes völlig bewusst. In einem Brief an seine Frau vom 24. August 1863 schreibt er:
An der Stelle, wo ich (es war ein wackliges altes Fachwerkhaus, drin die Ressource war) als 14jähriger Junge, angetan mit einem blauen Bastard von Frack und Jacke, getanzt und bei 'Pfänderspiel' und 'Wohnungsvermieten' zuerst die Unbefriedigtheit des jungen Poetenherzens empfunden hatte ...
Das 'alte Fachwerkhaus' des Hotels "Drei Kronen" im Jahre 1837. (Ausschnitt aus einem Stahlstich von Friedrich Rosmäßler, Stadtmuseum Berlin)
... erhebt sich jetzt ein großes Hotel mit vielen Balkonen und einem Eckturm, ein Gasthaus, das in Erscheinung und Größe keinem Berliner etwas nachgibt.
Das Hotel "Drei Kronen" im Jahre 1880.
Und über die Stadt heißt es:
Es ist alles anders geworden. Leutnants und Soldaten treiben sich in den Straßen herum, dazwischen Marineoffiziere und Matrosen 'von der Flotte', ein riesiger Leuchtturm flankiert und überragt das ganze Bild, Dampfer kommen und gehn, und zu beiden Seiten des Stroms erheben sich die neuen Befestigungswerke, mit ihren Türmen und Bastionen. All das ist neu. Aber auch die Stadt selbst hat sich sehr verändert, und in abermals 30 Jahren wird sie den Charakter einer kleinen Schifferstadt mit Giebelhäusern völlig verloren haben. ... Ich bin in allen solchen Stücken so unsentimental wie möglich, und ich kann nicht sagen, daß das alles mich tief ergriffen hätte; aber von leiser Wehmut, von einer gewissen Herbststimmung wird das Herz doch beschlichen.
Nochmals städtischer und größer - zumal wegen des stark angewachsenen Badebetriebes - zeigte sich Swinemünde dann um 1880, und so lässt sich mit Bilder aus dieser Zeit selbst dort für Kessin nichts verdeutlichen, wo sie den bezeichneten Stellen genau entsprechen. Es sind also nur Andeutungen zu diesem Schauplatz möglich, so wie mit den nachfolgenden Stichen, die das in dem Roman mehrfach erwähnte Bollwerk zeigen.
Die Straße am Swine-Ufer - das Obere Bollwerk - mit dem fahnengeschmückten Hotel 'Drei Kronen'. (Stahlstich von Friedrich Rosmäßler von 1837, Stadtmuseum Berlin)
Die Bollwerkspartie am Swine-Ufer von der alten Fähre gesehen. (Stahlstich von Friedrich Rosmäßler von 1837, Stadtmuseum Berlin)