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Sechsunddreißigstes Kapitel
"Und es liegt mir daran, daß er erfährt, wie mir hier in meinen Krankheitstagen, die doch fast meine schönsten gewesen sind, wie mir hier klar geworden, daß er in allem recht gehandelt. ... Laß ihn das wissen, daß ich in dieser Überzeugung gestorben bin. Es wird ihn trösten, aufrichten, vielleicht versöhnen. Denn er hatte viel Gutes in seiner Natur und war so edel, wie jemand sein kann, der ohne rechte Liebe ist."
Beim Wort genommen stellt Effis Abschiedsrede alles infrage, was sie zumal nach der Begegnung mit Annie Innstetten vorwirft, doch sicherlich soll dies nicht auch der Sinn für den Leser sein. Vielmehr ist dieses Verzeihen ein letztes Element ihrer Idealisierung - zum Schluss soll sie auch noch ein Muster an Edelmut sein. Einem nüchternen Blick wird allerdings nicht verborgen bleiben, dass Fontane dabei ein bisschen zu weit geht. Denn für wen empfindet Effi selbst die 'rechte Liebe'? Oder was wäre die 'rechte Liebe', für die man sich an ihr ein Beispiel nehmen könnte? Schon ihr Vater (Kap.5, Abs.30) sagt, sie gehöre nicht zu denen, "die so recht eigentlich auf Liebe gestellt sind, wenigstens nicht auf das, was den Namen ehrlich verdient". Eigentlich beansprucht sie immer nur geliebt zu werden oder zieht die Liebe anderer auf sich, von einem Geben kann nicht die Rede sein. Fontane hätte sie diesen Satz also besser nicht sprechen lassen, denn kritisch gemeint ist er in Bezug auf sie gewiss nicht. Wie wenig Abstand er Effi gegenüber immer gehabt hat, sagt er selbst in einem Brief an Paul Schlenther vom 11. November 1895:
Ich habe das Buch wie mit dem Psychographen geschrieben. Nachträglich, beim Korrigieren, hat es mir viel Arbeit gemacht, beim ersten Entwurf gar keine. Der alte Witz, daß man Mundstück sei, in das von irgendwoher hineingetutet wird, hat doch was für sich, und das Durchdrungensein davon läßt schließlich nur zwei Gefühle zurück: Bescheidenheit und Dank.
Zum Entwurf dieser Geschichte 'wie mit dem Psychographen', also "ohne rechte Überlegung und ohne alle Kritik", wie er an Hans Hertz am 2. März 1895 verdeutlicht, hat von Anfang an auch Effis früher Lebensverzicht gehört. Indessen hat sich Fontane über das Sentimentale dieses Verzichtes vielleicht selbst nicht ganz täuschen können. Grundsätzlich lebensbejahend eingestellt, hat ihn der gegen seine Romanfigur zeugende Lebensweg und Lebensmut Elisabeth von Ardennes immer irritiert und ihn einmal sogar - gegenüber einer Leserin am 12. Juni 1895 - zu der verräterischen Bemerkung veranlasst, sie läge vielleicht auch "lieber auf dem Rondel in Hohen-Kremmen".
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Sprung zum Absatz 30 des Romantextes
Auf dem Rondell hatte sich eine kleine Veränderung vollzogen, die Sonnenuhr war fort, und an der Stelle, wo sie gestanden hatte, lag seit gestern eine weiße Marmorplatte, darauf stand nichts als "Effi Briest" und darunter ein Kreuz.
Karl S. Guthke in seinem Aufsatz "Fontanes Finessen" sieht einen tieferen, allerdings nicht näher erläuterten Sinn darin, dass Effi eine ähnlich separate Grabstelle erhält wie in Kessin der Chinese. Doch worin könnte dieser Sinn liegen? Der Chinese wird nicht auf dem Friedhof beigesetzt, weil er kein Christ ist - eine nach damaligem Recht durchaus mögliche Absonderung. Effi hingegen stirbt in christlicher Demut und mit Gott und den Menschen versöhnt, das separate Grab für sie stellt sogar eine besondere Ehrung dar. Über diesen Gegensatz hinaus jedoch mangelt es für irgendwelche Vergleiche bezüglich des Chinesen an jeder Information, so dass die beiden Grabstellen auch nichts miteinander zu tun haben können.