Am 16. Junius.
Daß bestimmte Titel nicht genannt sind für die Bücher, die Lotte
nicht gefallen und die ihr gefallen haben, ist sicherlich echte
Rücksicht auf die Empfindlichkeit von Autoren und Verlegern.
Daß Goethe stattdessen aber auch keine Namen erfindet, hat mit
dem Wahrheitsanspruch zu tun - es wäre eine Erfindung in dieser
Hinsicht allzu leicht durchschaubar gewesen.
~~~~~~~~~~~~
Miß Jenny = vielleicht eine Anspielung auf Marie-Jeanne Riccobonis
"Geschichte der Miss Jenny Glanville" (1764) oder allgemein auf
einen Roman dieser empfindsamen Richtung, in der immer schöne junge Frauen von
Schurken getäuscht, entführt oder an sie verkuppelt werden, ehe der
wahre Geliebte alle Widerstände überwinden und sie heimführen kann.
~~~~~~~~~~~~
Landpriester von Wakefield = Den Roman "The Vicar of Wakefield" (1766)
von Oliver Goldsmith hatte Goethe 1771 in Straßburg durch Herder
kennengelernt und erklärt ihn noch in "Dichtung und Wahrheit" (10.Buch)
zu "einem der besten, die je geschrieben wurden". Ihn entzückte vor
allem die Lebenseinstellung des Landpredigers Primrose, der gegenüber
allen ihn treffenden Schicksalsschlägen wie Vermögensverlusten, entführten
Töchtern, einen des Mordes verdächtigten Sohn usw. einen ironisch-heiteren
Abstand wahrt und am Ende durch glückliche Fügungen auch aus allem
Unheil wieder herauskommt.
~~~~~~~~~~~~
Als Beispiel für ein Menuett ein Satz aus der Ouvertüre C-Dur von
Johann Sebastian Bach (entstanden um 1725)
Johann Sebastian Bach: Menuett (BW 1066)
Als Beispiel für einen 'Englischen' ein Contretanz von Joseph Haydn (1732-1809)
Joseph Haydn: Anglaise (HOB IX/29)
Als Beispiel für einen 'Deutschen' ein deutscher Tanz von
Mozart (1759-1791): "Die Leyerer". Im mittleren Teil wird
die Leyer imitiert, die bei privaten Tanzbelustigungen oft das einzige
Instrument war und dem Klangbild der Musik bei einem 'Volksball' ziemlich
nahe kommen dürfte.
Wolfgang Amadeus Mozart: Die Leyerer (KV 611)
Da sich in Kestners Aufzeichnungen zum 9. Juni 1772 (
siehe unter
GOETHE ETC.)
keinerlei Hinweis darauf findet, daß es während des Balles
in Volpertshausen ein Gewitter gegeben hat, und da Kestner zu dem Spiel mit
den Ohrfeigen auch schreibt, die wirkliche Lotte "wäre nie imstande gewesen,
sich so zu benehmen" (nicht jedoch: sie habe sich so nicht benommen), muß man das
Gewitter für Goethes Zutat halten. Ein Grund für diese Zutat
könnte die daran sich anschließende Klopstock-Reminiszenz sein,
doch hätten andere Briefe dafür bequemere Möglichkeiten geboten.
Wie Jürgen-Paul Schwindt in einer sorgfältigen Analyse erschlossen hat,
darf man deshalb in dem Gewitter und zumal in der Szene, als Werther
und Lotte nach dem Gewitter abgesondert von den anderen an ein Fenster
treten, eine andere literarische Anspielung vermuten. Es ist Vergils
Äneis mit dem Rückzug von Dido und Äneas vor einem Gewitter in eine
Höhle (Buch IV, Verse 117 ff.). Diese oft zitierte Szene ist zugleich
der Moment der Begründung ihres Liebesbundes, an dessen Ende, weil
Aeneas sie verläßt, der Selbstmord von Dido steht. So läßt sich
diese Szene, die Rollen der Liebenden vertauscht, als ein Hinweis
auf das Ende Werthers verstehen - oder umgekehrt als eine Erinnerung
daran, daß Liebesverhältnisse mit einem solchen fatalen Ausgang schon
aus den ältesten Zeiten bekannt sind.
~~~~~~~~~~~~
Mit dem Namen "Klopstock" beim Blick auf das Gewitter erinnert Lotte
an die letzten Strophen seiner Ode "Die Frühlingsfeier" (1759). Den
Hinweis auf die 'herrliche Ode' hat Goethe in der zweiten Fassung
eigens eingefügt, weil er den Namen Klopstocks allein wohl nicht
mehr für deutlich genug hielt. Die 'Frühlingsfeier' im ganzen ist
ein Lob Gottes im Angesicht der Natur, unter Einschluß eben eines
Gewitters, das Gottes Allmacht drohend, aber zum Schluß auch segnend
zeigt:
Seht ihr den neuen Zeugen des Nahen, den fliegenden Strahl? Höret ihr hoch in der Wolke den Donner des Herrn? Er ruft: Jehovah, Jehovah! Und der geschmetterte Wald dampft,
Aber nicht unsre Hütte! Unser Vater gebot Seinem Verderber, Vor unsrer Hütte vorüberzugehn!
Ach, schon rauscht, schon rauscht Himmel und Erde vom gnädigen Regen! Nun ist - wie dürstete sie! - die Erd' erquickt Und der Himmel der Segensfüll' entlastet
Siehe, nun kommt Jehovah nicht mehr im Wetter, In stillem, sanftem Säuseln Kommt Jehovah, Und unter ihm neigt sich der Bogen des Friedens!
|
|