Ich habe mir angelegen sein lassen, genaue Nachrichten
aus dem Munde derer zu sammeln, die von seiner Geschichte wohl
unterrichtet sein konnten; sie ist einfach und es kommen alle
Erzählungen davon bis auf wenige Kleinigkeiten miteinander
überein; nur über die Sinnesarten der handelnden
Personen sind die Meinungen verschieden und die Urteile geteilt.
Was bleibt uns übrig, als dasjenige, was wir mit wiederholter
Mühe erfahren können, gewissenhaft zu erzählen,
die von dem Abscheidenden hinterlassenen Briefe einzuschalten und
das kleinste aufgefundene Blättchen nicht
gering zu achten; zumal da es so schwer ist, die eigensten
wahren Triebfedern auch nur einer einzelnen Handlung
zu entdecken, wenn sie unter Menschen vorgeht, die nicht
gemeiner Art sind.
Unmut und Unlust hatten in Werthers Seele immer tiefer Wurzel
geschlagen, sich fester untereinander verschlungen und sein
ganzes Wesen nach und nach eingenommen. Die Harmonie seines
Geistes war völlig zerstört, eine innerliche Hitze
und Heftigkeit, die alle Kräfte seiner Natur durcheinander
arbeitete, brachte die widrigsten Wirkungen hervor und ließ ihm zuletzt
nur eine Ermattung übrig, aus der er noch ängstlicher empor
strebte, als er mit allen Übeln bisher gekämpft hatte. Die
Beängstigung seines Herzens zehrte die übrigen Kräfte
seines Geistes, seine Lebhaftigkeit, seinen Scharfsinn auf,
er ward ein trauriger Gesellschafter, immer unglücklicher,
und immer ungerechter, je unglücklicher er ward.
Wenigstens sagen dies Alberts Freunde; sie behaupten,
daß Werther einen reinen ruhigen Mann, der nun eines
lang gewünschten Glücks teilhaftig geworden, und sein
Betragen, sich dieses Glück auch auf die Zukunft zu
erhalten, nicht habe beurteilen können, er, der gleichsam
mit jedem Tage sein ganzes Vermögen verzehrte, um an
dem Abend zu leiden und zu darben. Albert, sagen sie,
hatte sich in so kurzer Zeit nicht verändert, er war noch
immer derselbige, den Werther so vom Anfang her
kannte, so sehr schätzte und ehrte. Er liebte Lotten über
alles, er war stolz auf sie und wünschte sie auch von
jedermann als das herrlichste Geschöpf anerkannt zu
wissen. War es ihm daher zu verdenken, wenn er auch
jeden Schein des Verdachtes abzuwenden wünschte,
wenn er in dem Augenblicke mit niemand diesen köstlichen
Besitz auch auf die unschuldigste Weise zu teilen
Lust hatte? Sie gestehen ein, daß Albert oft das Zimmer
seiner Frau verlassen, wenn Werther bei ihr war, aber
nicht aus Haß noch Abneigung gegen seinen Freund,
sondern nur weil er gefühlt habe, daß dieser von seiner
Gegenwart gedrückt sei.
Seine Gedanken fielen auch unterwegs auf diesen
Gegenstand. Ja, ja, sagte er zu sich selbst, mit heimlichem
Zähnknirschen: das ist der vertraute, freundliche, zärtliche,
an allem teilnehmende Umgang, die ruhige dauernde
Treue! Sattigkeit ist's und Gleichgültigkeit! Zieht ihn
nicht jedes elende Geschäft mehr an als die teure köstliche
Frau? Weiß er sein Glück zu schätzen? Weiß er sie zu
achten, wie sie es verdient? Er hat sie, nun gut, er hat sie -
Ich weiß das, wie ich was anders auch weiß, ich glaube an
den Gedanken gewöhnt zu sein, er wird mich noch rasend
machen, er wird mich noch umbringen - Und hat denn die
Freundschaft zu mir Stich gehalten? Sieht er nicht in meiner
Anhänglichkeit an Lotten schon einen Eingriff in seine
Rechte, in meiner Aufmerksamkeit für sie einen stillen
Vorwurf? Ich weiß es wohl, ich fühl' es, er sieht mich
ungern, er wünscht meine Entfernung, meine Gegenwart
ist ihm beschwerlich.
Er trat in die Tür, fragte nach dem Alten und nach
Lotten, er fand das Haus in einiger Bewegung. Der älteste
Knabe sagte ihm, es sei drüben in Wahlheim ein Unglück
geschehn, es sei ein Bauer erschlagen worden! - Es machte
das weiter keinen Eindruck auf ihn. - Er trat in die Stube
und fand Lotten beschäftigt, dem Alten zuzureden, der
ungeachtet seiner Krankheit hinüber wollte, um an Ort
und Stelle die Tat zu untersuchen. Der Täter war noch
unbekannt, man hatte den Erschlagenen des Morgens vor
der Haustür gefunden, man hatte Mutmaßungen: der
Entleibte war Knecht einer Witwe, die vorher einen
andern im Dienste gehabt, der mit Unfrieden aus dem
Hause gekommen war.
Da Werther dieses hörte, fuhr er mit Heftigkeit auf. -
Ist's möglich! rief er aus, ich muß hinüber, ich kann nicht
einen Augenblick ruhn. - Er eilte nach Wahlheim zu, jede
Erinnerung ward ihm lebendig und er zweifelte nicht
einen Augenblick, daß jener Mensch die Tat begangen,
den er so manchmal gesprochen, der ihm so wert geworden war.
Da er durch die Linden mußte, um nach der Schenke zu
kommen, wo sie den Körper hingelegt hatten, entsetzt' er
sich vor dem sonst so geliebten Platze. Jene Schwelle,
worauf die Nachbarskinder so oft gespielt hatten, war mit
Blut besudelt. Liebe und Treue, die schönsten menschlichen
Empfindungen, hatten sich in Gewalt und Mord verwandelt.
Die starken Bäume standen ohne Laub und
bereift, die schönen Hecken, die sich über die niedrige
Kirchhofmauer wölbten, waren entblättert und die Grabsteine
sahen mit Schnee bedeckt durch die Lücken hervor.
Als er sich der Schenke näherte, vor welcher das ganze
Dorf versammelt war, entstand auf einmal ein Geschrei.
Man erblickte von fern einen Trupp bewaffneter Männer,
und ein jeder rief, daß man den Täter herbeiführe.
Werther sah hin und blieb nicht lange zweifelhaft. Ja! es war
der Knecht, der jene Witwe so sehr liebte, den er vor
einiger Zeit mit dem stillen Grimme, mit der heimlichen
Verzweiflung umhergehend angetroffen hatte.
Durch die entsetzliche gewaltige Berührung war alles,
was in seinem Wesen lag, durcheinander geschüttelt worden.
Aus seiner Trauer, seinem Mißmut, seiner gleichgültigen
Hingegebenheit wurde er auf einen Augenblick herausgerissen;
unüberwindlich bemächtigte sich die Teilnehmung
seiner und es ergriff ihn eine unsägliche
Begierde, den Menschen zu retten. Er fühlte ihn so
unglücklich, er fand ihn als Verbrecher selbst so schuldlos,
er setzte sich so tief in seine Lage, daß er gewiß
glaubte, auch andere davon zu überzeugen. Schon
wünschte er für ihn sprechen zu können, schon drängte
sich der lebhafteste Vortrag nach seinen Lippen, er eilte
nach dem Jagdhause und konnte sich unterwegs nicht enthalten,
alles das, was er dem Amtmann vorstellen wollte,
schon halblaut auszusprechen.
Als er in die Stube trat, fand er Alberten gegenwärtig,
dies verstimmte ihn einen Augenblick; doch faßte er sich
bald wieder und trug dem Amtmanne feurig seine Gesinnungen vor.
Dieser schüttelte einigemal den Kopf, und
obgleich Werther mit der größten Lebhaftigkeit, Leidenschaft
und Wahrheit alles vorbrachte, was ein Mensch zur
Entschuldigung eines Menschen sagen kann, so war doch,
wie sich's leicht denken läßt, der Amtmann dadurch nicht
gerührt. Er ließ vielmehr unsern Freund nicht ausreden,
widersprach ihm eifrig und tadelte ihn, daß er einen Meuchelmörder
in Schutz nehme! er zeigte ihm, daß auf diese
Weise jedes Gesetz aufgehoben, alle Sicherheit des Staats
zugrund gerichtet werde, auch, setzte er hinzu, daß er in
einer solchen Sache nichts tun könne, ohne sich die größte
Verantwortung aufzuladen, es müsse alles in der Ordnung,
in dem vorgeschriebenen Gang gehen.
Werther ergab sich noch nicht, sondern bat nur, der
Amtmann möchte durch die Finger sehn, wenn man dem
Menschen zur Flucht behülflich wäre! Auch damit wies
ihn der Amtmann ab. Albert, der sich endlich ins
Gespräch mischte, trat auch auf des Alten Seite: Werther
wurde überstimmt und mit einem entsetzlichen Leiden
machte er sich auf den Weg, nachdem ihm der Amtmann
einigemal gesagt hatte: Nein, er ist nicht zu retten!
Was Albert zuletzt über die Sache des Gefangenen in
Gegenwart des Amtmanns gesprochen, war Werthern
höchst zuwider gewesen: er glaubte einige Empfindlichkeit
gegen sich darin bemerkt zu haben, und wenn gleich
bei mehrerem Nachdenken seinem Scharfsinne nicht entging,
daß beide Männer recht haben möchten, so war es
ihm doch, als ob er seinem innersten Dasein entsagen
müßte, wenn er es gestehen, wenn er es zugeben sollte.
Weil es ein gelinder Abend war und das Wetter anfing
sich zum Tauen zu neigen, ging Lotte mit Alberten zu
Fuße zurück. Unterwegs sah sie sich hier und da um,
eben, als wenn sie Werthers Begleitung vermißte. Albert
fing von ihm an zu reden, er tadelte ihn, indem er ihm
Gerechtigkeit widerfahren ließ. Er berührte seine
unglückliche Leidenschaft und wünschte, daß es möglich
sein möchte, ihn zu entfernen. - Ich wünsch' es auch um
unsertwillen, sagt' er, und ich bitte dich, fuhr er fort, siehe
zu, seinem Betragen gegen dich eine andere Richtung zu
geben, seine öftern Besuche zu vermindern. Die Leute
werden aufmerksam, und ich weiß, daß man hier und da
drüber gesprochen hat. - Lotte schwieg und Albert schien
ihr Schweigen empfunden zu haben, wenigstens seit der
Zeit erwähnte er Werthers nicht mehr gegen sie, und wenn
sie seiner erwähnte, ließ er das Gespräch fallen oder lenkte
es woanders hin.
Der vergebliche Versuch, den Werther zur Rettung des
Unglücklichen gemacht hatte, war das letzte Auflodern
der Flamme eines verlöschenden Lichtes; er versank nur
desto tiefer in Schmerz und Untätigkeit; besonders kam er
fast außer sich, als er hörte, daß man ihn vielleicht gar zum
Zeugen gegen den Menschen, der sich nun auf's Leugnen
legte, auffordern könnte.
Alles was ihm Unangenehmes jemals in seinem wirksamen Leben
begegnet war, der Verdruß bei der Gesandtschaft,
alles was ihm sonst mißlungen war, was ihn je
gekränkt hatte, ging in seiner Seele auf und nieder. Er fand
sich durch alles dieses wie zur Untätigkeit berechtigt, er
fand sich abgeschnitten von aller Aussicht, unfähig,
irgend eine Handhabe zu ergreifen, mit denen man die
Geschäfte des gemeinen Lebens anfaßt, und so rückte er
endlich, ganz seiner wunderbaren Empfindung, Denkart
und einer endlosen Leidenschaft hingegeben, in dem ewigen
Einerlei eines traurigen Umgangs mit dem liebenswürdigen
und geliebten Geschöpfe, dessen Ruhe er
störte, in seine Kräfte stürmend, sie ohne Zweck und
Aussicht abarbeitend, immer einem traurigen Ende näher.
