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Am 8. August.
Dieser Brief ist für Goethe aufschlußreicher als für Werther. Das Denkwürdige an ihm ist, daß Werther auf die Aufforderung, entweder seine Liebe zu Lotte "durchzutreiben" und sie für sich zu gewinnen oder aber sich von ihr zu lösen, mit keinem Wort auf die erste dieser Möglichkeiten eingeht. Weder hier noch sonst einmal denkt er daran - wirklich an keiner einzigen Stelle -, daß er um Lotte auch werben und um ihre Hand anhalten könnte, und dies trotz seiner Vermutung, daß sie ihn Albert sogar vorziehen würde. Warum nicht? Für Werther ist dieses Verhalten unerklärbar, für Goethe ist es das nicht. Goethe konnte sich tatsächlich keine Hoffnung auf Lotte machen, alle Äußerungen über ihr Verhältnis zu ihm lassen keinen Zweifel daran, daß sie nicht daran dachte, die Beziehung zu Kestner aufzugeben. Denn abgesehen von dem, was sie für ihn auch sicherlich empfand: Kestner war 31 Jahre alt und stand unmittelbar vor einer höheren Beamtenlaufbahn, Goethe war 23, hatte praktisch noch keinen Beruf und hätte ihr nicht einmal ein Verlöbnis anbieten können. Was aber mehr wog: er hatte auch gar nicht vor, sie an sich zu ziehen, und sie müßte keine Frau gewesen sein, um das nicht auch zu merken. In einem Brief an Kestner vom April 1773 macht er diesem die einigermaßen erstaunliche Mitteilung:
Wie ich mich an Lotten atrachirte und das war ich wie ihr wisst von Herzen, redete Born mit mir davon, wie man spricht. Wenn ich Kestner wäre, mir gefiels nicht. Worauf kann das hinausgehen? Du spannst sie ihm wohl gar ab?" und dergleichen. Da sagt ich zu ihm, Mit diesen Worten in seiner Stube, es war des Morgens: "Ich bin nun der Narr das Mädchen für was besonders zu halten, betrügt sie mich, und wäre so wie ordinair, und hätte den Kestner zum Fond ihrer Handlung um desto sicherer mit ihren Reizen zu wuchern, der erste Augenblick der mir das entdeckte, der erste der sie mir näher brächte, wäre der letzte unsrer Bekanntschaft," und das beteuerte ich und schwur.
Daß Werther dies nicht sagt und auch nicht denken könnte, kann keine Frage sein. Er sucht Lottes Nähe, und so ist es eben Goethes problematisches Verhältnis zu Frauen, das in diesem Werbungsverzicht zum Ausdruck kommt.
Das wird auf andere Weise noch durch ein Rezeptions-Mitteilung gestützt: Goethes Reaktion auf ein Gespräch mit Napoleon. Am 2. Oktober 1808 wurde er in Erfurt von diesem empfangen und unterhielt sich nach eigener Auskunft in der 30minütigen Audienz mit ihm auch über den 'Werther'. Gegenüber Karl Ernst Schubarth äußerte er 1820, Napoleon habe ihn dabei "auf ein Missverhältniss im 'Werther' aufmerksam gemacht, das bis dahin den schärfsten kritischen Blicken entgangen" sei, wollte weitere Auskünfte darüber aber nicht geben. H. G. Gräf kommt in einer genauen Analyse dieser und anderer Andeutungen Goethes über den Gesprächsinhalt zu dem Ergebnis:
Hiernach würde Napoleon getadelt haben, dass Werther nicht den geringsten Versuch macht, zu handeln, die Geliebte zu erringen, so lange sie noch nicht Alberts Gattin war; diess wäre der unglückliche Riss, den der Dichter mit künstlicher Naht so wohl verborgen hatte, dass dieser Mangel niemandem auffiel, bis Napoleon, der Mann des Handelns und der That, ihn rügte.
Damit erklärt sich zugleich Goethes Stillschweigen über den Einwand: da er die Möglichkeit einer ernsthaften Werbung um Lotte für Werther nie erwogen hatte, könnte ihm hier plötzlich klar geworden sein, wie unnormal dessen Verhalten eigentlich ist.
Benutzte Literatur: Gräf, Hans Gerhard (Hrsg.)
Wie sich die Nichtbeachtung der Möglichkeit, um Lotte ernsthaft zu werben, aus der Entstehungsgeschichte des Werkes erklärt, siehe unter ENTSTEHUNG.
ende