Dieser Brief ist für Goethe aufschlußreicher als für Werther. Das
Denkwürdige an ihm ist, daß Werther auf die Aufforderung, entweder
seine Liebe zu Lotte "durchzutreiben" und sie für sich zu gewinnen
oder aber sich von ihr zu lösen, mit keinem Wort auf die erste dieser
Möglichkeiten eingeht. Weder hier noch sonst einmal denkt er daran -
wirklich an keiner einzigen Stelle -, daß er um Lotte auch werben
und um ihre Hand anhalten könnte, und dies trotz seiner Vermutung,
daß sie ihn Albert sogar vorziehen würde. Warum nicht? Für Werther
ist dieses Verhalten unerklärbar, für Goethe ist es das nicht.
Goethe konnte sich tatsächlich keine Hoffnung auf Lotte machen,
alle Äußerungen über ihr Verhältnis zu ihm lassen keinen Zweifel
daran, daß sie nicht daran dachte, die Beziehung zu Kestner aufzugeben.
Denn abgesehen von dem, was sie für ihn auch sicherlich empfand:
Kestner war 31 Jahre alt und stand unmittelbar vor einer höheren
Beamtenlaufbahn, Goethe war 23, hatte praktisch noch keinen Beruf und
hätte ihr nicht einmal ein Verlöbnis anbieten können.
Was aber mehr wog: er hatte auch gar nicht vor, sie an sich zu ziehen,
und sie müßte keine Frau gewesen sein, um das nicht auch zu
merken. In einem Brief an Kestner vom April 1773 macht er diesem die
einigermaßen erstaunliche Mitteilung:
Wie ich mich an Lotten atrachirte und das war ich wie ihr wisst von Herzen,
redete Born mit mir davon, wie man spricht. Wenn ich Kestner wäre, mir gefiels
nicht. Worauf kann das hinausgehen? Du spannst sie ihm wohl gar ab?" und
dergleichen. Da sagt ich zu ihm, Mit diesen Worten in seiner Stube, es war
des Morgens: "Ich bin nun der Narr das Mädchen für was besonders zu halten,
betrügt sie mich, und wäre so wie ordinair, und hätte den Kestner zum Fond
ihrer Handlung um desto sicherer mit ihren Reizen zu wuchern, der erste
Augenblick der mir das entdeckte, der erste der sie mir näher brächte,
wäre der letzte unsrer Bekanntschaft," und das beteuerte ich und schwur.
Daß Werther dies nicht sagt und auch nicht denken könnte, kann keine
Frage sein. Er sucht Lottes Nähe, und so ist es eben Goethes problematisches
Verhältnis zu Frauen, das in diesem Werbungsverzicht zum Ausdruck kommt.