Gestaltungsmerkmale Zur Übersicht Zur Synopse Drucken der Ebene
{VORREDE}
Mit der Erklärung, dass "jemand" hier "mit Fleiß gesammelt" habe, was er von der Geschichte Werthers habe auffinden können, haben wir es mit einer der für das 18. Jahrhundert typischen Herausgeber-Konstruktionen zu tun. Meistens wird von Herausgeber-'Fiktion' gesprochen. Dies ist jedoch nur in dem Sinne richtig, dass sich der Text aus späterer Kenntnis als Fiktion herausgestellt hat. Keineswegs war er deshalb für die ersten Leser auch schon zweifelsfrei als Fiktion erkennbar. Es ist vielmehr umgekehrt mit eine der Ursachen für die starke öffentliche Wirkung dieses Romans, dass man die Briefe für authentisch und den "Fall Werther" für wahr halten konnte - auch und gerade, wenn man an den Selbstmord von Karl Wilhelm Jerusalem in Wetzlar dachte.
Am 4. Mai 1771.
Goethe datiert Werthers Eintreffen in der 'Stadt' mit dem 4. Mai 1771 gegenüber seinem eigenen Aufenthalt in Wetzlar um ein Jahr zurück. Das war nötig, um bis hin zu Werthers Selbstmord, für den das Jahr 1772 als das des Todes von Jerusalem nicht abgeändert werden sollte, eine hinreichend lange Ereigniszeit zu gewinnen. Zugleich war aber auch Goethes eigener Zustand keineswegs schon nach den vier Monaten seiner Wetzlarer Zeit so problematisch, dass ihn die Tat Jerusalems wie eine ihn selbst angehende hätte berühren können. Andere Erlebnisse mussten für diese Konstellation hinzukommen, und nur das auch erklärt, warum zwischen seiner Abreise aus Wetzlar und der Abfassung des Werther noch anderthalb Jahre vergingen. (Weiteres siehe unter ENTSTEHUNG )
~~~~~~~~~~~~
Mit dem ersten Brief entwirft Goethe einen ganzen Handlungszusammenhang: Werther teilt seinem besten Freund mit, dass er froh ist, 'weg' zu sein. Er hatte ein kompliziertes Verhältnis zu zwei Schwestern und benutzte die Gelegenheit, für seine Mutter eine Erbschaftssache zu regeln, diesem zu entkommen. Schon in diesem ersten Brief kann er jedoch mitteilen, dass sich die Erbschaftssache klären wird, d.h. sein Auftrag ist bereits erfüllt. Wenn er gleichwohl bleiben, ja sogar einen Garten pachten will, ist das vielleicht ein bisschen unmotiviert, lässt aber eine große Unabhängigkeit - auch materieller Art - sichtbar werden. Und zugleich macht diese Ausgangssituation unvorhersehbare Erlebnisse aller Art möglich und kann eine gewisse Neugier wecken, wie und wozu er seine Unabhängigkeit gebrauchen wird.
Am 10. Mai.
Am 12. Mai.
Am 13. Mai.
Am 15. Mai.
Den 17. Mai.
Erste Andeutung des Auftretens von Lotte, der Tochter des Amtmanns, von der man 'viel Wesens' macht.
Am 22. Mai.
Mit der Schlusswendung, dass jeder Mensch in seinem Herzen das Gefühl hat, "daß er diesen Kerker verlassen kann, wann er will", deutet sich das erste Mal die Möglichkeit des Selbstmordes an. Abgesehen davon, dass dies der Stimmung Goethes während der Niederschrift des 'Werther' auch nahekam (siehe unter ENTSTEHUNG), zeugt die frühe Anlage dieses Motivs auch von erzählerischem Kalkül. Da es ein Vorauswissen des Geschehens durch Werther selbst nicht geben kann, muss der Leser gewissermaßen hinter seinem Rücken auf den Gesamtverlauf vorbereitet und eingestimmt werden, und eben das wird durch den hier eigentlich unerwartet düsteren Schlussgedanken angestrebt.
Doch noch ein anderer Aspekt ist bemerkenswert: Im Unterschied zu dem Selbstmord-Gespräch mit Albert am 12. August 1771, wo der Selbstmord wie eine unheilbare Krankheit gedeutet wird, und im Unterschied auch zu Werthers eigener Tat, die zusätzlich das Ansehen eines Opfers hat, wird hier der Aspekt der Freiheit betont. Das kennzeichnet Werther als einen Menschen, der sich niemandem - weder Freunden, noch der Familie, noch Gott - verpflichtet fühlt, der gemäß Sturm-und Drang-Begriffen wirklich allein über sich bestimmt.
Am 26. Mai.
Im Unterschied zu der sonst im 'Werther' gebrauchten Verdunkelungs-Variante, Ortsnamen entweder gar nicht oder bloß in Anfangsbuchstaben wiederzugeben, führt Goethe mit "Wahlheim" hier einen erfundenen Namen ein. Der Grund: die regelmäßige Wiederholung eines 'G...' oder 'W...' als Zielpunkt von Werthers Spaziergängen wäre einerseits wenig signifikant gewesen und hätte andererseits im Druckbild auch noch gestört. Die Begründung, der Name sei aus Diskretionsgründen ausgetauscht worden, versucht aus der Not eine Tugend zu machen, ist wegen der Auslassung aller übrigen Namen jedoch nicht übermäßig plausibel. Genützt hat im übrigen weder das eine noch das andere, gegenüber einem Sensations-Fall wie dem des 'Werther' wollte die Mehrzahl der Leser einfach die Wahrheit wissen. Goethe selbst hat dies auch eingeräumt. Der Autor, schreibt er in "Dichtung und Wahrheit" (13. Buch), könne "bevorworten, so viel er will, das Publikum wird immer fortfahren, die Forderungen an ihn zu machen, die er schon abzulehnen suchte". Seine Erklärung, Autor und Publikum seien nun einmal "durch eine ungeheure Kluft getrennt", kommt dem Problem allerdings nicht auf den Grund. Der liegt vielmehr in der Frage, in welchem Umfang sich Weltwissen und Weltneugier per Fiktion außer Kraft setzen lassen, und hier hat sich Goethe unzweifelhaft verkalkuliert (sofern dies nicht auch wiederum Kalkül war). Der Wirkung seines 'Werther' hat dies jedoch nicht geschadet, im Gegenteil.
Am 27. Mai.
Hier tritt der Romancharakter erstmals schon hervor. Dass W. 'oft' draußen in Wahlheim ist, da er doch dem Freund erst am Tag zuvor von der Entdeckung dieses Ortes Mitteilung gemacht hat, ist als perspektivische Verzerrung auch aus der Sicht Werthers vielleicht noch nachzuvollziehen. Dass er jedoch sonntags den Kindern 'regelmäßig' einen Kreuzer gibt und ihnen diesen für den Fall, dass er nicht kommt, durch die Wirtin auszahlen lässt, ist ganz unmöglich - es ist seit seinem ersten Aufenthalt in Wahlheim nur höchstens einmal überhaupt Sonntag gewesen.
Am 30. Mai.
Der erst in der zweiten Fassung eingeschobene Brief vom 30. Mai 1771 legt die Bauernburschen-Episode, den Mord aus Eifersucht, in der Handlung an, der als Parallelfall zu Werthers unglücklicher Liebe im Brief vom 4. September 1772 fortgesetzt und im Herausgeberbericht I zu Ende erzählt wird. Zugleich wird Werthers Liebeserlebnis damit vorbereitet - er wartet nun geradezu darauf, seinerseits eine Liebeserfahrung machen zu können.
~~~~~~~~~~~~
In der Einbindung des Briefes unterläuft Goethe allerdings ein Fehler: Werther spricht davon, dass er einen Pflug 'neulich gezeichnet hatte', während er im Brief vom 26. Mai - nur vier Tage zuvor! - mitteilt, auf dem Pflug gesessen und zwei Kinder gezeichnet zu haben. Das zeugt jedoch weniger von einem ungenauen Textstudium als vielmehr von einer um so genaueren Erinnerung. Man geht kaum fehl, wenn man annimmt, dass Goethe selbst in Garbenheim einmal einen Pflug gezeichnet hatte. Das blieb haften, während ihm die Umbildung der Szene in die Zeichnung der Kinder wieder entfiel. Wären es wirklich Kinder gewesen, die er damals dort gezeichnet hatte, es wäre ihm auch im Abstand von 15 Jahren kein Pflug als Zeichnungsobjekt dafür eingefallen - und zwar um so weniger, als der Himburgsche Nachdruck seines Werkes, den er für die Umarbeitung 1787 benutzte, als Titelvignette sogar die Situation abbildet, in der Werther, auf dem Pflug sitzend, die beiden Kinder zeichnet (Vignette siehe unter ILLUSTRATIONEN zum Brief vom 26. Mai 1771).
Die von Goethe hinterlassenen Zeichnungen zeigen Personen auch wirklich nur ausnahmsweise, die meisten bilden Landschaften und Gebäude ab. Als Beispiel eine Bleistift-Zeichnung aus der Werther-Zeit, passend etwa auf den Garten des Grafen von M., wie Werther ihn schildert.
Zeichnung Goethes aus den Jahren 1773-1775 (11,4 x 15,3 cm). (Corpus der Goethe-Zeichnungen, Bd.1. Leipzig 1958.)

Am 16. Junius.
Bemerkenswert ist, dass Goethe in der Erstfassung noch 'Zitronen' essen lässt und erst in der zweiten stattdessen 'Orangen' schreibt. Offenbar waren ihm die Namen der Südfrüchte noch nicht ganz geläufig. - Dass zu dieser Jahreszeit und in diesem Milieu Orangen angeboten werden, ist aber auch ein Indiz für den Wohlstand, der hier herrscht und der in Goethes Wetzlarer Umgebung auch tatsächlich geherrscht haben dürfte.
Am 19. Junius.
Am 21. Junius.
Da es von Wahlheim nur noch eine halbe Stunde zu Lotte ist, muss das Jagdhaus dahinter in derselben Richtung liegen, und dann wiederum dahinter das Dorf, in dem der Ball stattfindet. Ferner ergibt sich, dass das Jagdhaus sowohl vom Berg aus wie von der Ebene "über den Fluß" zu sehen ist, naheliegend also in Flussnähe. Das bestätigt sich am Schluss, als der Fluss über die Ufer tritt und die ganze Gegend um das Jagdhaus überschwemmt (siehe unter Brief vom 12. Dezember 1772). Nicht ganz passt dazu zwar der 'hohe Wald', durch den man auf das Jagdhaus zufährt (siehe unter Brief vom 16. Juni 1771), und es passt auch überhaupt die Flussnähe (mit Überschwemmungsgefahr) so recht zu einem Jagdhaus nicht, aber man kann es notfalls miteinander verbinden.
Den Grund, warum Goethe im ersten Teil ein Jagdhaus als Schauplatz annimmt und nicht die Wohnung in der Stadt, wie es seiner Erinnerung entsprach, ist wohl in der Idee zu sehen, den ersten und den zweiten Teil auch räumlich voneinander zu trennen. Im ersten Teil lebt Lotte noch ledig bei Vater und Geschwistern, im zweiten Teil verheiratet bei ihrem Mann, und eine zu enge Nachbarschaft beider Sphären hätte sogar logische Probleme nach sich ziehen können. Warum sind im ersten Teil immer ihre Geschwister gegenwärtig, im zweiten jedoch nicht? Auch sollte vielleicht die Naturnähe des ersten Teiles nicht durch eine Stadtwohnung für Lotte aufgehoben werden. Im übrigen ist die Zuweisung der einzenen Szenen zu dem einen oder anderen Schauplatz aber auch nicht ganz transparent, so dass Goethe wohl selbst auf die Lokalisierung nicht immer geachtet hat.
Die Schauplätze der Werther-Handlung in ihrer Lage zueinander, angelehnt an die Situation von Wetzlar und Umgebung (hinterlegt mit Links, die die zugehörigen Textstellen nachweisen).

Am 29. Junius.
Am 1. Julius.
Lotte wohnt von diesem Tag an für zehn Tage in der Stadt - ein Schauplatzwechsel, der der Ermöglichung regelmäßiger Begegnungen mit ihr dient.
~~~~~~~~~~~~
Dass Werther wegen der Eifersucht des Herrn Schmidt und dem Tadel Lottes, er habe mit Friederike "zu artig getan", so aufgebracht ist, steht in deutlichem Bezug zu seiner eigenen Situation. Es wird ihm hier erstmals bewusst, dass der Umgang mit einem Mädchen gesellschaftliche Erwartungen (in diesem Falle Befürchtungen) weckt und dass er auch sein Verhältnis zu Lotte nicht wird unbestimmt lassen können. Etwas 'Bestimmtes' jedoch verfolgt Werther mit diesem Verhältnis gerade nicht - die Möglichkeit, ernsthaft um sie zu werben, schließt er aus (siehe unter GESTALTUNG zum Brief vom 8. August 1771 ).
Am 6. Julius.
Am 8. Julius.
Am 10. Julius.
Am 11. Julius.
Am 13. Julius.
Mit dem in der zweiten Fassung zusätzlich eingeschobenen Absatz, dass Werther sich selbst anbete, seit er sich von Lotte geliebt wisse, wird erstmals ein Moment der Distanz gegenüber Werthers Verliebtheit eingeführt. Werther kann dies selbst zwar so deutlich nicht aussprechen: aber der Leser soll empfinden, dass er in seiner Liebe zu Lotte mehr sein eigenes Gefühl genießt, als dass er sich wirklich auf einen anderen Menschen dabei einlässt.
Am 16. Julius.
Am 18. Julius.
Lotte wohnt nun wieder im Jagdhaus - für Werther leitet sich damit der Gedanke der Trennung von ihr ein.
Den 19. Julius.
Den 20. Julius.
Die hier nur mit Sternchen angedeutete Residenzstadt, in die Werther den 'Gesandten' begleiten soll, wird im Brief vom 20. Januar 1772 mit 'D..' bezeichnet.
Am 24. Julius.
Am 26. Julius.
Die erst in der zweiten Fassung eingeschobene Mitteilung an Lotte hat hauptsächlich mit dem Verhältnis Goethes zu Charlotte von Stein (1742-1827) zu tun. In den Jahren nach 1780 bis in die Zeit der Umarbeitung des 'Werther' schrieb Goethe beinahe täglich solche kleinen Zettel und Mitteilungen an diese (sie wohnte in Weimar nur wenige hundert Meter von ihm entfernt) und empfing auch solche Antworten von ihr in großer Zahl (die allerdings sämtlichst nicht erhalten sind). Ein Moment wie der geschilderte wird ihm bei der Umarbeitung wieder eingefallen oder ihm unmittelbar vorgekommen sein und ging deshalb in die Umarbeitung ein.
Plan des Weimarer Ilm-Parks mit Goethes Gartenhaus (das bis 1792 sein Wohnhaus war) und dem Haus der Frau von Stein.

Am 30. Julius.
Am 8. August.
Der erst in der zweiten Fassung eingeschobene Zusatz "Abends" wirkt etwas unorganisch, da sich ein 'Tagebuch' als eigenständige Ebene zuvor gar nicht feststellen lässt, vielmehr die meisten Dokumente eindeutig Briefe an Wilhelm sind. Den Einschub beim Wort genommen, müsste man fragen, warum aus dem offenbar erhaltenen Tagebuch so selten zitiert wird. Eine Unterscheidung dieser Art hatte Goethe jedoch gar nicht im Sinn. Es wird ihm bei der Neubearbeitung nur aufgefallen sein, wie hellsichtig Werther seine Situation immer wieder beschreibt, ohne jedoch für sein Verhalten irgendwelche Schlüsse daraus zu ziehen. Das sollte mit der eingeschobenen selbstkritischen Beobachtung einmal angesprochen und auf diese Weise wahrscheinlicher gemacht werden. - Dass solche Wahrscheinlichkeits-Erwägungen den damaligen Lesern nicht fremd waren, zeigt eine Äußerung Johann Jakob Bodmers in einem Brief an Schinz vom 10.11.1774 : "Wie kann jemand, der immer so außer sich ist, immer so über sich selbst Überlegungen machen." Das ist nichts anderes als die Umkehr der per Tagebucheintrag nachgeschobenen Frage, wie jemand immer so über sich nachdenken und zugleich so unkontrolliert bleiben kann.
Benutzte Literatur: Müller, Peter (Hrsg.)
Am 10. August.
Am 12. August.
Am 15. August.
Die Stelle von der Schwäche zweiter Fassungen liest sich wie eine Infragestellung von Goethes eigener Überarbeitung des 'Werther' - und es ist auch die außerordentliche Wirkung, die der Roman 1774 hatte, allein aus der Kenntnis der Fassung von 1787 nicht zu verstehen.
Am 18. August.
Parallel zu Werthers Gemütszustand verdüstert sich sein Naturbild - so wie auch im ganzen seine Empfindungen dem Jahreszyklus von Frühling, Sommer, Herbst und Winter entsprechen.
Am 21. August.
Am 22. August.
An diesem Brief lassen sich beispielhaft einige der stilistischen Änderungen der zweiten Fassung gegenüber der Erstfassung beobachten:
"die Bücher speien mich alle an" wird zu "die Bücher ekeln mich an";
"Taglöhner" wird zu "Tagelöhner";
"beneid ich Alberten" wird zu "beneide ich Alberten";
"liebt mich seit lange" wird zu "liebt mich seit langer Zeit";
"ich sollte mich employiren" wird zu "ich sollte mich irgendeinem Geschäfte widmen".
Die zunächst noch stärker umgangssprachliche Ausdrucks- und Schreibweise, auch zumal die vielen elidierten 'e's (Taglöhner, beneid ich usw.), lassen die Briefe der Erstfassung bei weitem spontaner, leidenschaftlicher und radikaler wirken, als es die Briefe der überarbeiteten Fassung tun. Der ganze Mitteilungsgestus hier hat etwas Hingeworfenes, ja Rücksichtsloses, so dass sich darin auch Werthers Lebenseinstellung suggestiver mitteilt als in den gemäßigteren und reineren Sprachformen der Zweitfassung.
Benutzte Literatur: Lauterbach, Martin
Am 28. August.
Am 30. August.
Am 3. September.
Dass Lotte wieder in der Stadt ist, dient der Ermöglichung einer Abschiedsszene, wie sie sich ähnlich auch zwischen Goethe und dem Brautpaar Kestner zugetragen hat. Fände der Abschied draußen im Jagdhaus statt, wäre es unwahrscheinlich, dass Lotte und Albert weggehen und er in dem Garten allein zurückbleibt. Die Verlegung der Szene in 'seinen' Garten nahe der Stadt macht diese Konstellation möglich und ähnelt damit dem Abschiedsabend im Garten des Deutschen Hauses, auch wenn es sicherlich Goethe war, der das Paar hier zurückgelassen oder - wahrscheinlicher - sich zusammen mit Kestner von Lotte verabschiedet hat.
Am 10. September.
Es nimmt sich für unsere Begriffe etwas merkwürdig aus, dass Werther zu Lotte 'Du' sagt, sie ihn aber siezt, während umgekehrt Albert Lotte siezt und sie ihn mit 'Du' anspricht. Das muss man aber nicht als Abbild tatsächlicher Umgangsformen verstehen. Werther berichtet von dem Gespräch in einem Brief, d.h. er kann die Anredeformen hier seinem Gefühl folgend verändern. Das würde bedeuten, dass er sich Lotte gegenüber näher sieht, als er das Albert zugesteht, während er umgekehrt den Abstand Lottes zu Albert für geringer hält als ihren Abstand zu sich selbst. Das könnte auch erklären, warum er keinerlei Formverletzung in dieser ungleichen Anrede wahrnimmt, wie es in einer realen Situation wohl nicht ausgeblieben wäre. - Allerdings hat Goethe auch Charlotte Buff /Kestner in seinen Briefen mal geduzt, mal gesiezt.
Am 20. Oktober 1771.
Am 26. November 1771.
Der Brief vom 26. November 1772 ist in der ersten Fassung noch auf den 10. November datiert. Er ist offenbar umdatiert worden, um die Zeitabstände zwischen den Briefen einigermaßen gleich zu halten.
Am 24. Dezember 1771.
Den 8. Januar 1772.
Am 20. Januar.
Mit der Frage "Ist Albert bei Ihnen? Und wie -?" deutet Werther seine Vermutung einer Heirat an.
Außerdem enthält der Brief gegenüber der Erstfassung am Ende des zweiten Absatzes zwei zusätzliche Passagen über Werthers freudlose Amtstätigkeit.
Den 8. Februar.
Dieser erst in der zweiten Fassung eingefügte Brief soll nach dem Brief an Lotte offensichtlich als "Stimmungsbrücke" zu der sich fortsetzenden Klage über das Leben mit dem Gesandten dienen.
Am 17. Februar.
Wenn der 'Privatbrief des Ministers' hier nicht mit einbezogen wird, so geschieht dies nicht, wie erklärt wird, aus Respektsgründen und auch nicht zur Aufrechterhaltung der Wahrscheinlichkeit. Es hätte keinerlei Probleme gemacht, einen solchen Brief zu fingieren - in Lessings "Minna von Barnhelm" (1767) wird sogar ein Handschreiben des preußischen Königs fingiert und in die Handlung einbezogen. Die Briefmitteilung unterbleibt vielmehr wegen der Störung des Tones. Unmöglich hätte der Minister in der Sprache Werthers schreiben können, und so wären zwei solcher Geschäftston-Briefe ein sprachlicher Fremdkörper gewesen, der sich nur schwer in das Gesamtwerk eingefügt hätte.
Am 20. Februar.
Den 15. März.
Der Brief zeigt, wie genau Goethe die Erstfassung auch auf sachliche Unrichtigkeiten hin durchgesehen hat. Zunächst wird eine ganz ungerechtfertigte Grobheit des Ausdrucks hinsichtlich des Fräuleins von B.. zurückgenommen. Die Passage
Ist sie auch wie all das Volk, dacht ich, hohl sie der Teufel! und war angestochen und wollte gehn, und doch blieb ich, weil ich intriguirt war, das Ding näher zu beleuchten.
wird zu
Ist sie auch wie alle das Volk, dachte ich, und war angestochen und wollte gehen, und doch blieb ich, weil ich sie gerne entschuldigt hätte, und es nicht glaubte, und noch ein gut Wort von ihr hoffte und - was du willst.
Hinsichtlich des schlecht angezogenen J.. wird umgekehrt jedoch sogar eine gröbere Formulierung gewählt. Die Passage
den übel fournirten J. nicht zu vergessen, bey dessen Kleidung, Reste des altfränkischen mit dem neu'st aufgebrachten kontrastiren etc.
wird zu
den übel fournierten J... nicht zu vergessen, der die Lücken seiner altfränkischen Garderobe mit neumodischen Lappen ausflickt.
Schließlich heißt es in der Zweitfassung nicht mehr, dass Werther sich von der adeligen Gesellschaft förmlich verabschiedet habe (die hätte auf eine solche Geste auch nicht reagiert), sondern situationsrichtiger, dass er sich unauffällig entfernt habe. Die Formulierung der Erstfassung
Ich machte der vornehmen Gesellschaft mein Compliment, gieng und sezte mich in ein Cabriolet und fuhr nach M..
wird zu
Ich strich mich sacht aus der vornehmen Gesellschaft, ging, setzte mich in ein Kabriolett, und fuhr nach M...,
Am 16. März.
Am 24. März.
Dass neben allen anderen Verdunkelungen ein regierender Fürst nicht genannt, sondern mit ** bezeichnet wird, ist nicht weiter überraschend. Bei solchen identifizierbaren Personen gibt es einen Zwang zur Anonymität ja bis heute.
~~~~~~~~~~~~
An diesem Brief ist gut zu beobachten, wie Goethe in der zweiten Fassung durch das Tilgen von Fremdwörtern, umgangssprachlichen Ausdrücken, Verkürzungen und grammatischen Ungenauigkeiten um eine Bereinigung und Läuterung seiner Sprache bemüht ist:
"Dimißion bey Hofe" wird zu "Entlassung vom Hofe";
"Permission" wird zu "Erlaubnis";
"weis ich all" wird zu "weiß ich alles";
"Geheimderath" wird zum "Geheimenrat";
"Säftgen" und "Thiergen" werden zu "Säftchen" und "Tierchen";
"in Stall" wird zu "in den Stall";
"hoff", "bring", "weh", "grad" und "draus" werden zu "hoffe", "bringe", "wehe", "gerade" und "daraus";
"der viel Geschmak ... findet" wird zu "der vielen Geschmack ... findet";
"verstehn" und "gehn" werden zu "verstehen" und "gehen";
"so will ich's denn" wird zu "so will ich es denn".
Am 19. April.
Am 5. Mai.
Am 9. Mai.
In der Zweitfassung wird die Erinnerung an das schlichte Weltbild Homers zusätzlich mit dem Gedanken an den Tod verbunden. Die Passage
Wenn Ulyß von dem ungemessenen Meere, und von der unendlichen Erde spricht, ist das nicht wahrer, menschlicher, inniger, als wenn jezzo jeder Schulknabe sich wunder weise dünkt, wenn er nachsagen kann, daß sie rund sey.
wird zu
Wenn Ulyß von dem ungemeßnen Meer und von der unendlichen Erde spricht, das ist so wahr, menschlich, innig, eng und geheimnisvoll. Was hilft mich's, daß ich jetzt mit jedem Schulknaben nachsagen kann, daß sie rund sei? Der Mensch braucht nur wenige Erdschollen, um drauf zu genießen, weniger, um drunter zu ruhen.
Außerdem wird im vorletzten Absatz eine Kritik an der heuchlerischen Atmosphäre des Fürstenhofes nachträglich eingefügt:
Wunderliche Menschen sind um ihn herum, die ich gar nicht begreife. Sie scheinen keine Schelmen und haben doch auch nicht das Ansehen von ehrlichen Leuten. Manchmal kommen sie mir ehrlich vor und ich kann ihnen doch nicht trauen.
Am 25. Mai.
Dass der Fürst, den Werther begleitet, General in **schen Diensten ist, lässt für das Jahr 1774 eigentlich nur "russische" oder "türkische" Dienste infrage kommen. Außer dem russsisch-türkischen Krieg von 1768 bis 1774 hat es 1772 weiter keinen Krieg in Europa gegeben. Es ist jedoch wenig wahrscheinlich, dass eine so bestimmte Andeutung mit dem 'Krieg' gemeint ist. Die Zeitgeschichte war damals noch längst nicht so deutlich wahrnehmbar wie heute, ein Krieg konnte jederzeit irgendwo für möglich gehalten werden. Der Hinweis hat also nur die Bedeutung, dass Werther nach einem Ausweg aus seiner Beschäftigungslosigkeit sucht.
Am 11. Junius.
Dass selbst der Fürst den Ansprüchen Werthers nicht genügt, ist kaum schon als eine Kritik an seinen Maßstäben zu verstehen. Vielmehr soll es nur ein weiteres Mal sein überlegenes Urteil anzeigen.
Am 16. Junius.
In der Erstfassung ist die Notiz vom 16. Juni 1771 noch nicht enthalten. - Sie reiht sich ein in die Zusätze, die dem Leser einen gewissen Abstand zu Werthers Selbstbezogenheit vermitteln sollen.
Am 18. Junius.
Bergwerke im **schen = selbst die Landschaft wird nur angedeutet, damit aus den Angaben nicht eine Identifizierung des Handlungsraumes möglich wird.
Am 29. Julius.
Am 4. August.
Die Verdüsterung von Werthers Gemütslage findet ihre Entsprechung im Unglück auch von anderen. Wahlheim, der Ort seines Glückes im ersten Teil, ist jetzt ein Ort der Betrübnis.
Am 21. August.
Die Idee, Albert ermorden zu können, ist eine der Alternativen (neben der des Wahnsinns, siehe unter Brief vom 30. November 1772), die dem Selbstmord gegenübergestellt werden. Deshalb versteht Werther später auch den Bauernburschen, der nur in der Ermordung der geliebten Frau einen Ausweg aus seiner Verzweiflung gesehen hat.
Am 3. September.
Am 4. September.
In der Erstfassung ist der Brief vom 4. September 1772 noch nicht enthalten. Goethe führt mit ihm die Bauernburschen-Episode weiter, die im Brief vom 30. Mai 1771 angelegt worden ist. - Dass hier, am 4. September, bereits die Blätter abfallen, ist allerdings mehr eine Projektion von Werthers Stimmung, als dass es dem Kalender entspricht. Oder anders formuliert: Goethe hat in der Absicht, das Geschehen deutlicher auf das Ende hin auszurichten, dem Datum keine Beachtung geschenkt.
Am 5. September.
In der Erstfassung ist der Brief vom 5. September 1772 noch nicht enthalten. Der Einschub ist deutlich darauf angelegt, Werther in seiner weltvergessenen Verliebtheit ein bisschen lächerlich zu machen. Das gehört zu der für die gesamte Zweitfassung geltenden Tendenz, zu seinem Verhalten einen gewissen Abstand herzustellen.
Benutzte Literatur: Welz, Dieter
Zugleich wird mit diesem Brief das erste Mal angedeutet, dass Lotte jetzt nicht mehr im Jagdhaus bei Vater und Geschwistern wohnt, sondern bei ihrem Mann Albert in der Stadt. Werther trifft sie deshalb auch öfter als vor ihrer Verheiratung allein an. Das scheint paradox, entspricht aber den damaligen Verhältnissen, die es eher einer verheirateten Frau gestatteten, einen Mann allein zu empfangen, als einer unverheirateten.
Am 6. September.
Am 12. September.
Dieser in der Erstfassung noch nicht enthaltene Brief nimmt sicherlich auf eine von Goethe erlebte Situation Bezug, allerdings gewiss nicht auf ein Erlebnis mit Charlotte Buff und sicherlich auch nicht auf eins mit Frau von Stein (1742-1827), wie vermutet worden ist. Auch wenn Goethe in den Jahren nach 1780 bis in die Zeit der Umarbeitung des 'Werther' in dem vertrautesten Umgang mit dieser gestanden hat, hätte sie ihn schwerlich in dieser Weise herausgefordert. Es gab aber allerlei andere 'Miesels' - so nannte Goethe seine harmlosen Liebschaften -, die für eine solche Herausforderung bzw. Ermutigung infrage kommen.
Dass die Übertragung dieser Situation auf die jung verheiratete Lotte und ihr Verhältnis zu Werther nicht unproblematisch ist, macht Thomas Mann in einer Besprechung der Szene deutlich:
Nicht nur der Haß, auch die Liebe führt ihn an Abgründe. Das Schicksal des unglückselig liebenden Bauemburschen, das unheimlich neben dem seinen herläuft, drängt seinem doch so reinen, so vornehm gewissenhaften Gemüt den Gedanken der Vergewaltigung auf. Der Knecht ist vom Hofe gejagt worden, weil er in einem Augenblick verzweifelter Leidenschaft versucht hatte, sich des Weibes mit Gewalt zu bemächtigen, - eine Tollheit, an der sie nicht ganz unschuldig ist, da sie, bewußt oder unbewußt, seine Leidenschaft durch ein halbes Gewähren, durch kleine Vertraulichkeiten genährt hat. Und Lotte? Ist es bei ihr nicht dasselbe? Es ist in dem Buch eine Szene, deren gefährliche Lieblichkeit etwas Himmelschreiendes hat und die in Unschuld gehüllte Koketterie charakterisiert, mit der das gute Mädchen Werthers Leidenschaft reizt: die Szene mit dem Kanarienvogel, von dessen Schnäbelchen sie sich vor seinen Augen küssen läßt, den sie von ihren Lippen zu seinen schickt und dem sie mit dem lächelnden Munde Brosamen reicht. Werther kehrt sein Gesicht weg. Sie sollte es nicht tun! denkt er; und das denken allerdings auch wir, da sie ja klug genug ist, um sich auf Werthers gefährdete Natur zu verstehen, und gütig genug, um besorgt um sie zu sein. Wenn sie ihn liebt, sollte das ein Grund mehr für sie sein, ihn zu schonen. Aber gerade die Liebe wieder, die sie trotz ihrer Treuebindung an Albert für ihn hegt, verführt sie zu den "kleinen Vertraulichkeiten", durch die jene Bauernwitwe den Knecht zum Äußersten treibt.
Benutzte Literatur: Mann, Thomas
Am 15. September.
An diesem Brief ist besonders gut zu beobachten, wie Goethe in der zweiten Fassung bestimmte Grobheiten des Ausdrucks zurücknimmt:
"man möchte sich dem Teufel ergeben" wird zu "man möchte rasend werden";
"all die Hunde, die Gott auf Erden duldet" wird zu "daß es Menschen geben soll";
"die guten Kerls von Pfarrers" wird zu "den ehrlichen Geistlichen";
"ein hageres, kränkliches Thier" wird zu "ein hageres, kränkliches Geschöpf";
"eine Frazze, die sich abgiebt gelehrt zu seyn" wird zu "eine Närrin, die sich abgibt, gelehrt zu sein";
"so ein Ding war's auch allein" wird zu "so einer Kreatur war es auch allein möglich".
Veränderungen dieser Art lassen sich als Unterschied zwischen der Erst- und der Zweitfassung über den gesamten Roman hin feststellen, alle aus der Absicht vorgenommen, dem Werk eine reinere, klassischere Form zu geben.
Am 10. Oktober.
Am 12. Oktober.
Am 19. Oktober.
Am 26. Oktober.
Der Gedanke an den eigenen Tod wird hier von Werther erstmals in seiner vollen Reichweite erfasst. Indem er hört, wie die beiden Frauen über den Tod anderer sprechen, wird ihm klar, dass man auch seinen Tod verwinden, ihn binnen kurzem vergessen haben würde, und in seinem Erschrecken darüber stellt sich ihm seine Selbstmordneigung noch einmal infrage.
Am 27. Oktober.
Der Tagebuch-Eintrag 'abends', erst in der zweiten Fassung hinzugefügt, demonstriert wieder den Abstand, den Goethe Werther gegenüber aus der Sicht von 1786 hat. Es ist auch der Abstand, den er seinen eigenen Zuständen der Niedergeschlagenheit und Verzweiflung gegenüber hat, da sich ihm auch seine eigenen Jugendjahre im Rückblick eher als reich und hoffnungsvoll darstellen.
Am 30. Oktober.
Am 3. November.
Am 8. November.
Wenn Werther bekennt, sich mitunter verleiten zu lassen, statt eines Glases eine ganze Flasche Wein auszutrinken, so ist das auch als ein Hinweis auf seinen Zustand zu verstehen. Die Form des Selbstbekenntnisses, wie der Briefroman sie erzwingt, kann nur andeuten, was ein Erzähler weit drastischer kennzeichnen könnte.
Am 15. November.
Am 21. November.
Um die leidenschaftliche Szene zu ermöglichen, in der Werther Lotte umarmt und küsst, muss von ihrer Seite eine gewisse Annäherung an ihn stattfinden. Mit 'lieber Werther' duzt Lotte ihn hier das erste Mal.
Am 22. November.
Dieser in der Erstfassung noch nicht enthaltene Brief zeigt ein weiteres Mal den Widerspruch in Werthers Verhalten auf: dass er Lotte haben will und es auch wieder nicht will. "Ich kann nicht beten: Laß mir sie!" heißt ja nichts anderes, als dass sie ihm schon wie die Seine vorkommt, aber ihm daran nicht wirklich gelegen ist.
Am 24. November.
Es ist schwer zu beurteilen, ob hier mehr Werthers lüsterne Phantasie oder mehr Lottes herausforderndes Verhalten gekennzeichnet werden soll. Unter dem Aspekt, dass sie seine Anfälligkeit für ihren Liebreiz kennt, kann man sie aber für ganz unschuldig an seinem Zustand nicht halten, auch wenn Werther immer wieder ihre Arglosigkeit betont. Deutungen, die sie deshalb als routinierte Verführerin sehen, die ihn bewusst zur Verzweiflung treibt, gehen über Goethes Intentionen aber sicherlich hinaus.
Benutzte Literatur: Warrick, Kathleen. E.
Am 26. November.
Dieser in der Erstfassung noch nicht enthaltene Brief weist ein weiteres Mal kritisch auf Werthers Selbstmitleid hin.
Am 30. November.
Neben den Auswegen, aus hoffnungsloser Liebe sich selbst oder jemand anderen umzubringen, kommt hier als dritte Möglichkeit der Absturz in den Wahnsinn in den Blick. Auch Werther fühlt sich diesem Zustand nahe und versteht deshalb das Schicksal dieses Mannes als eine Warnung an sich.
Am 1. Dezember.
Es ist eine der dem Zeitgeschmack verpflichteten Überdeutlichkeiten, dass der Schreiber aus Liebe zu Lotte verrückt geworden ist. In solchen Fällen soll immer nur die Schönheit der Frau herausgestellt werden. Welcher Sadismus darin liegt, dass das Schicksal dieses Mannes von Lotte wie von Albert gleichmütig hingenommen wird, ja dass Lotte mit ihrem Verhalten Werther gegenüber ein weiteres Opfer dieser Art riskiert, kommt nicht in den Blick. - Aber auch in der Werther-Literatur wird das Fragwürdige dieses Verhaltens nur selten bemerkt.
Benutzte Literatur: Nolan, Erika
Am 4. Dezember.
Das Klavierspiel Lottes ist hier schon eine an Sadismus grenzende Quälerei - und doch soll kaum wohl Lottes Verhalten damit kritisiert werden. Auch der nachfolgende Erzählerbericht lässt keine kritischen Töne ihr gegenüber aufkommen.
Am 6. Dezember.
{BERICHTSTEIL I}
Der 'Herausgeberbericht', d.h. der hier abgesonderte erste Abschnitt davon, stellt den gegenüber der Erstfassung am stärksten veränderten Romanteil dar. Er führt zunächst die Bauernburschen-Episode zu Ende, die in den Briefen vom 30. Mai 1771 und vom 4. September 1772 angelegt worden ist: den Parallelfall der Ermordung einer Geliebten, auf die wegen äußerer Hindernisse Verzicht geleistet werden muss. Aber auch ohne diese Hinzufügung ist dieser Teil noch mehr als doppelt so lang wie der entsprechende Teil des Erstdrucks. Der Grund: Die Ausführungen über Lotte und Albert fallen hier differenzierter und damit umfangreicher aus als dort, es ist nicht mehr allein der Blick Werthers, der sie bestimmt. Zumal die Beschreibung Alberts hatte bei Johann Christian Kestner, der sich mit ihr natürlich gemeint finden musste, ratlose Bitternis ausgelöst und ihn gleich nach Erscheinen des Romans zu der Klage gegenüber Goethe veranlasst:
Und das elende Geschöpf von einem Albert! Mag es immer ein eignes nicht copirtes Gemälde sein sollen, so hat es doch von einem Original wieder solche Züge (zwar nur von der Aussenseite, und Gott sei's gedankt, nur von der Aussenseite), dass man leicht auf den wirklichen fallen kann. Und wenn Ihr ihn so haben wolltet, musstet Ihr ihn zu so einem Klotze machen? Damit Ihr etwa auf ihn stolz hintreten und sagen könntet, seht, was i c h für ein Kerl bin!
Goethe stellte Kestner daraufhin "binnen hier und einem Jahr" eine Umarbeitung in Aussicht, in der "alles was noch übrig seyn mögte von Verdacht, Missdeutung pp im schwäzzenden Publicum! obgleich das eine Heerd Schwein ist, auszulöschen, wie ein reiner Nordwind, Nebel und Dufft" (Brief vom 21. November 1774). Als er dann - im Mai 1783, also erst zehn Jahre später - die Umarbeitung in Angriff nahm, schrieb er an Kestner:
Ich habe in ruhigen Stunden meinen "Werther" wieder vorgenommen und dencke, ohne die Hand an das zu legen was soviel Sensation gemacht hat, ihn noch einige Stufen höher zu schrauben. Dabey war unter andern meine Intention Alberten so zu stellen, daß ihn wohl der leidenschafftliche Jüngling (=Werther), aber doch der Leser nicht verkennt. Dies wird den gewünschten und besten Effeckt thun. Ich hoffe, Ihr werdet zufrieden sein.
In der Erstfassung stellen sich die Dinge so dar, dass Albert nach der Heirat sein Interesse an Lotte allmählich verliert und diese sich deshalb die Aufmerksamkeiten Werthers zunehmend gefallen lässt. Dadurch wird die Stimmung immer gereizter, bis Albert "mit ziemlich troknen Worten" von ihr verlangt, sie möchte "dem Umgange mit Werthern eine andere Wendung geben, und seine allzuöfteren Besuche abschneiden".
In der überarbeiteten Fassung heißt es, Alberts Liebe zu Lotte sei dieselbe geblieben, er wünschte nur den Verdacht nicht aufkommen zu lassen, dass die Besuche Werthers eine Trübung seines Eheverhältnisses bedeuten könnten. So bittet er Lotte - "auch um unsertwillen" -, dem Betragen Werthers gegen sie "eine andere Richtung zu geben, seine öftern Besuche zu vermindern". Werther jedoch sieht in Alberts Verhalten nur 'Sattigkeit und Gleichgültigkeit', fühlt sich zu unrecht beargwöhnt und schließt sich immer mehr gegen Albert ab. Bedeutet mithin Alberts Verhalten in der Erstfassung tatsächlich eine Kränkung Lottes - ihre Treue steht natürlich außer Zweifel -, so ist dies in der Zweitfassung nur mehr in Werthers Einbildung der Fall: er ist nicht imstande, Alberts Verhalten gerecht zu beurteilen.
Eine Distanzierung gegenüber Werther macht sich in der Zweitfassung aber auch dadurch geltend, dass der Herausgeber weit mehr als in der Erstfassung als Berichterstatter in Erscheinung tritt. Immer wieder hebt er hervor, dass es die Urteile anderer seien, auf die sich das Mitgeteilte stütze. Zwar wird dieser vermittelnde Gestus nicht konsequent durchgehalten - die Aussage etwa, dass der allein zum Jagdhaus gehende Werther unterwegs "zu sich selbst, mit heimlichem Zähneknirschen" gesprochen habe, kann nur ein allwissender Erzähler, kein Berichterstatter machen -, aber die ungebrochene Wiedergabe der Sicht Werthers findet nicht mehr statt. Erst im weiteren Verlauf des Geschehens, wo auch schon in der Erstfassung die Berichtsform vorherrscht, geht der Text unverändert in die Zweitfassung ein.
{BRIEFEINLAGE I)
Dass die Gegend um das Jagdhaus überschwemmt ist, ist eigentlich unwahrscheinlich, da ein Jagdhaus kaum so dicht an einem Fluss stehen wird. Die Flussnähe wird auch erst hier sichtbar, in den früheren Szenen möchte man eher an ein Haus im Wald denken.
{BRIEFEINLAGE II}
Dieser Brief ist ebenso wie der Brief vom 8. August 1771 weit deutlicher ein Brief Goethes als ein Brief Werthers. Für Werther, der immer wieder zu erkennen gibt, dass er Lotte nicht bloß verehrt, sondern auch begehrt, ist ein Erschrecken darüber, dass er sie im Traum umarmt, ja sogar besessen hat, in keiner Weise verständlich. Seine Versicherung, seine Liebe zu ihr sei die 'heiligste, reinste, brüderlichste Liebe' gewesen, ist ganz unrichtig, sein Entsetzen über die körperliche Annäherung ein Widerspruch zu allem, was er vor- und nachher denkt und tut. Werther, wie er sich sonst darstellt, müsste sich eigentlich freuen, Lotte wenigstens im Traum einmal besessen zu haben. Zur Erklärung dieser Unstimmigkeit siehe unter GOETHE ETC.
{BRIEFEINLAGE III}
Das als 'angefangener Brief an Wilhelm' bezeichnete Textstück steht in der Erstfassung schon im ersten Teil des Herausgeber-Berichtes.
~~~~~~~~~~~~
Die Änderungen am Bild Alberts, die Goethe in der Zweitfassung vornimmt, zwingen ihn zu einer differenzierteren Behandlung auch des Verhaltens von Lotte. In der Erstfassung versteht sich ihr bereitwilliger Umgang mit Werther von selbst: Da Albert sie vernachlässigt, ja sogar grob zu ihr ist, lässt sie sich Werthers Gesellschaft gern gefallen, und was sie darüber hinaus für ihn empfindet, kann sich der Leser nach seinen eigenen Eindrücken zurechtlegen.
Gegenüber einem rücksichtsvollen, sie liebenden Albert, der auch sogar Werther mit Schonung behandelt, bedarf ihr Verhalten jedoch der Erklärung. Warum hält sie Werther nicht mehr von sich fern, wie Albert es von ihr wünscht? Und was veranlasst sie überhaupt, sich so auf ihn einzulassen? Um hier nicht eine Trübung ihres Bildes zu riskieren, zieht sich der Herausgeber geschickt auf sein männlich-beschränktes Einfühlungsvermögen zurück und erklärt, dass man sich wohl einen stillen Begriff von ihrem seelischen Zustand machen könne und jedenfalls "eine schöne weibliche Seele sich in die ihrige denken und mit ihr empfinden kann". Dieses Wohlwollen für Lotte wurde allerdings schon hinsichtlich der Erstfassung nicht allgemein geteilt. Johann Christian Kestner schreibt im Oktober 1774 an Goethe:
Der wirklichen Lotte würde es in vielen Stücken leid sein, wenn sie Eurer da gemalten Lotte gleich wäre. Ich weiss es wohl, dass es eine Composition sein soll; allein die H... (=Frau Herd) welche Ihr zum Theil mit hineingewebt habt, war auch zu dem nicht fähig, was Ihr Eurer Heldin beimesset. Es bedurfte aber des Aufwandes der Dichtung zu Eurem Zwecke und zur Natur und Wahrheit gar nicht, denn ohne das - eine Frau, eine mehr als gewöhnliche Frau immer entehrende Betragen Eurer Heldin - erschoss sich Jerusalem.
Auch späterhin wird gegen Lotte immer wieder einmal eingewandt, sie hätte sich als verheiratete Frau dem in sie verliebten Werther mehr entziehen müssen und trage deshalb an seinem Unglück eine Mitschuld. Nur ist es eben erst die in der Zweitfassung vorgenommene Aufwertung Alberts, die diese Problematik deutlicher in Erscheinung treten lässt - wobei nicht einmal ausgemacht ist, ob ihr Charakterbild nicht an Wahrscheinlichkeit dadurch sogar gewinnt.
{BERICHTSTEIL II}
Von diesem Teil an verläuft die Zweitfassung mit der Erstfassung wieder parallel, wenn auch unter Fortsetzung der zuvor schon angelegten anderen Bewertung des Verhaltens von Albert und Lotte. Das zeigen insbesondere die folgenden Passagen:
dass Albert wegen einiger Aufträge Lotte "spizze Reden gab, die Werthern durchs Herz giengen" wird abgeschwächt zu der Form, dass er ihr "einige Worte sagte, die Werthern kalt, ja gar hart vorkamen";
"da ihm denn Albert ein unbedeutend Kompliment ... mit auf den Weg gab" wird abgeschwächt zu der Form, dass Werther "nur ein unbedeutendes Kompliment zu hören glaubte";
Die Dienstreise Alberts, in der Erstfassung aus Argwohn gegen Lotte verschoben und erst, da Werthers Abwesenheit gesichert erscheint, als "Pantomime" inszeniert, wird in der Zweitfassung ohne Hintergedanken angetreten.
Lottes Nachdenken über Werther, in der Erstfassung nur mit dem Satz umrissen, dass er in ihrem Herzen einen 'unauslöschlichen Eindruck' hinterlassen habe, wird in der Zweitfassung durch eine längere Reflexion darüber ersetzt, wie sie auf ihn verzichten und ihn gleichzeitig für sich behalten könne. Damit wird sowohl ihre Neigung für ihn eingestanden als auch ihr guter Wille betont, "sein Verhältnis gegen Albert ganz wieder herzustellen".
Als Lotte, um nicht mit Werther allein sein zu müssen, vergeblich nach zwei Freundinnnen ausgeschickt hat, empört sich in der Erstfassung "das Gefühl ihrer Unschuld mit einigem Stolz" gegen diese Vorsicht. Sie will "Alberts Grillen Truz" bieten, ist sich der "Reinheit ihres Herzens" sicher und spielt zu ihrer Beruhigung etwas auf dem Klavier. In der Zweitfassung hingegen bleibt sie unsicher, sieht sich weniger im Recht und kann sich auch durch das Klavierspiel nicht ablenken.
So ist Lotte das Heikle ihrer Situation und auch ihre Verführbarkeit in der Zweitfassung entschieden deutlicher als in der Erstfassung bewusst und damit auch ihr Verhalten in Umarmungs-Szene bei der Ossian-Lektüre besser vorbereitet.
{OSSIAN}
Für Friederike Brion hatte Goethe im Jahre 1771 die "Songs of Selma" von James Macpherson ins Deutsche übertragen. Von jener ersten Übersetzung, die in einer Reinschrift unter dem Titel "Die Gesänge von Selma" erhalten blieb, fertigte er 1774 für den 'Werther' eine hinsichtlich Wortwahl und Rhythmik sehr viel freiere Bearbeitung an.
Ein Blatt der Goetheschen Ossian-Übersetzung von 1771. (Goethe-Museum Düsseldorf)

Das Textstück lautet:
Aber wer sind die, die vor mir auf der Heide liegen? Ist's nicht mein Liebster und mein Bruder? Redet, o meine Freunde! Sie antworteten nicht. Ach, ich fürchte - Oh! Sie sind todt. Ihre Schwerter sind roth vom Gefecht. Oh mein Bruder! mein Bruder! warum hast du meinen Salgar erschlagen? warum o Salgar hast du meinen Bruder erschlagen? Lieb wart ihr mir beyde! Was soll ich zu euerm Ruhm sagen? Du warst schön auf dem Hügel unter tausenden; er war schröcklich in dem Gefecht. Redet, hört meine Stimme, Söhne meiner Liebe. Aber ach! Sie sind stumm, stumm auf ewig, ihr Busen ist kalt wie das Grab. Oh! Von dem Felsen des Hügels, von dem Gipfel des windigen Berges, redet ihr Geister der Todten! Redet, ich will nicht erschröcken. - Wohin seyd ihr zu ruhen gegangen? In welcher Höhle des Hügels kann ich euch finden? Keine schwache Stimme vernehme ich im Wind, keine halbverwehte Antwort in den Stürmen des Hügels
{ABSCHIED}
Mit diesem Teil findet die Umwertung des Verhältnisses von Lotte und Albert in der Zweitfassung ihren Abschluss. Albert lässt Lotte seinen Ärger über Werthers letzten Besuch nun weniger spüren als in der Erstfassung, und Lotte leidet mehr als zuvor unter der Unaufrichtigkeit, zu der sie sich wegen dieses Besuches gezwungen sieht. Im einzelnen sind folgende Passagen für den Vergleich aufschlussreich:
Die Feststellung "Wider ihren Willen fühlte sie tief in ihrer Brust das Feuer von Werthers Umarmungen" wird abgeschwächt zu der Frage: "War es das Feuer von Werthers Umarmungen, das sie in ihrem Busen fühlte? war es Unwille über seine Verwegenheit?"
Dass Lotte den Urheber ihrer Beunruhigung "weder hassen, noch sich versprechen (konnte), ihn nie wieder zu sehn" wird abgeschwächt zu der Feststellung, dass Werther "für sie verloren war, den sie nicht lassen konnte, den sie leider! sich selbst überlassen mußte".
Die Mitteilung, dass Lotte die Gegenwart ihres am Morgen zurückkehrenden Mannes "zum ersten Mal ganz unerträglich ist", weil sie seine 'halb spöttischen, halb verdrüßlichen Fragen' fürchtet, wird abgeändert zu der Überlegung, ob sie hoffen konnte, "daß ihr Mann sie ganz im rechten Lichte sehen, sie ganz ohne Vorurteil aufnehmen" würde.
Die Feststellung, dass Lotte "sich nie verstellt, nie gelogen hatte", wird erweitert zu der Frage, wie sie sich sollte verstellen können "gegen den Mann, vor dem sie immer wie ein kristallhelles Glas offen und frei gestanden, und dem sie keine ihrer Empfindungen jemals verheimlicht noch (hat) verheimlichen können".
Alberts ironische Bemerkung, Werther wisse die Zeit für seine Besuche 'gut zu nehmen', wird ersatzlos gestrichen, und der Zusatz des Herausgebers, dass er sich bei der Bitte Werthers um die Pistolen "ganz kalt nach seiner Frau wendete", wird abgemildert zu der Form, dass er sich "gelassen" an seine Frau wendet.
Lotte zeigt stärker als in der Erstfassung das Bedürfnis, sich mit Albert auszusprechen; es ist nur das schon zu lange dauernde Schweigen, das sie nicht dazu kommen lässt.
Dass Albert die Pistolen an Werther aushändigt und Lotte dies nicht verhindert, wird gegenüber der Erstfassung ausführlicher erklärt. Nicht nur ist Albert jetzt durch unangenehme Briefnachrichten abgelenkt, es wird auch daran erinnert, dass er Werthers Selbstmord-Drohungen nie ernst genommen und auch Lotte in diesem Sinne zu beruhigen vermocht hat.
Die Folge dieser zusätzlichen Ausführungen ist wie schon zuvor, dass Albert zwar weniger rücksichtslos erscheint, Lotte aber dadurch mehr belastet wird. In der Erstfassung lässt ihr Alberts Grobheit kaum eine andere Wahl, als zu der Übergabe der Pistolen zu schweigen. Sie ist ein Opfer der eingetretenen Verhältnisse. In der zweiten Fassung erscheint ihr Schweigen jedoch als Schuld. Hätte sie den Mut zur Offenheit gefunden, heißt es jetzt ausdrücklich, wäre vielleicht "unser Freund noch zu retten gewesen". Ihre Kennzeichnung sonst außer acht gelassen, könnte man sogar zu dem Ergebnis kommen, dass sie Werthers Selbstmord zur Erlösung aus ihrer Verstrickung billigend inkauf nimmt.
Benutzte Literatur: Saine, Tomas Peter
Das einzige Fragment, das sich von Goethes Hand aus der ersten Fassung des 'Werther' erhalten hat, lässt erkennen, dass der Text auch schon bis hin zur ersten Veröffentlichung einer gewissen Bearbeitung unterzogen worden ist. Er ist also nicht so in einem Zug niedergeschrieben worden, wie Goethe in "Dichtung und Wahrheit" erklärt.
Fragment aus der ersten Werther-Niederschrift, im Besitz des Goethe-Schiller-Archivs in Weimar.

Das Textstück lautet:
Sie sind durch ihre Hände gegangen, sie hat den Staub davon geputzt, ich küßte sie tausendmal, sie hat euch berührt. Und du Geist des Himmels begünstigst meinen Entschluß. Und sie reicht dir das Werckzeug, Sie von deren Händen ich den Todt zu empfangen wünschte und ach nun empfange. Sie zitterte sagte mein Bedienter als sie ihm die Pistolen gab. O Herr sagte der gute Junge eure Abreise thut euern Freunden so leid. Albert stand am Pulten, ohn sich um zu wenden sagte er zu Madame. Gieb ihm die Pistolen, sie stund auf und er sagte: ich lass ihm glückliche Reise wünschen, und sie nahm die Pistolen und putzte den Staub sorgfältig ab und zauderte und zitterte {wie sie sie meinem Buben gab und das Lebe wohl blieb ihr am Gaumen kleben. Leb wohl leb wohl! Hier hab ich die fleischfarbene Schleife vor mir die sie am Busen hatte als ich sie kennen lernte, die sie mir mit so viel Liebenswürdigkeit schenckte. Diese Schleife! Ach damals dacht ich nicht, dass mich der Weg dahin führen sollte.}
{...} = nicht mit abgebildet
{ENDE}
Die Grundlage des Schlussteiles des Romans ist ein ausführlicher Bericht von Jerusalems Ende, den Johann Christian Kestner im November 1772 an Goethe geschickt hat. Die wichtigsten Passagen daraus, an die sich Goethe zumal in den lakonischen Schlusssätzen wörtlich anlehnt, lauten:
Den ganzen Nachmittag war Jerusalem für sich allein beschäftigt, kramte in seinen Papieren, schrieb, ging, wie die Leute unten im Hause gehört, oft im Zimmer heftig auf und nieder. Er ist auch verschiedene Mal ausgegangen, hat seine kleinen Schulden... bezahlt. .. Etwa um 7 Uhr kam der Italiänische Sprachmeister zu ihm. Dieser fand ihn unruhig und verdrießlich. Er klagte, daß er seine Hypochondrie wieder stark habe, und über mancherley; erwähnt auch, daß das Beste sey, sich aus der Welt zu schicken. Der Italiäner redet ihm sehr zu, man müsse dergleichen Passionen durch die Philosophie zu unterdrücken suchen etc. Jerusalem: das ließe sich nicht so thun; er wäre heute lieber allein, er möchte ihn verlassen. Der Italiäner: er müsse in Gesellschaft gehen, sich zerstreuen etc. Jerusalem: er gienge auch noch aus. - Der Italiener, der auch die Pistolen auf dem Tische liegen gesehen, besorgt den Erfolg, geht um halb acht Uhr weg und zu Kielmansegge, da er denn von nichts als von Jerusalem, dessen Unruhe und Unmuth spricht, ohne jedoch von seiner Besorgniß zu erwähnen, indem er geglaubt, man möchte ihn deswegen auslachen.
Der Bediente ist zu Jerusalem gekommen, um ihm die Stiefel auszuziehen. Dieser hat aber gesagt, er gienge noch aus; wie er auch wirklich gethan hat, vor das Silberthor auf die Starke Weide, und sonst auf die Gasse, wo er bey Verschiedenen, den Hut tief in die Augen gedrückt, vorbey gerauscht ist, mit schnellen Schritten, ohne jemand anzusehen. Man hat ihn auch um diese Zeit eine ganze Weile an dem Fluß stehen sehen, in einer Stellung, als wenn er sich hineinstürzen wolle (so sagt man).
Vor 9 Uhr kommt er zu Haus, sagt dem Bedienten, es müsse im Ofen noch etwas nachgelegt werden, weil er so bald nicht zu Bette ginge, auch solle er auf Morgen früh 6 Uhr alles zurecht machen, läßt sich auch noch einen Schoppen Wein geben. Der Bediente, um recht früh bey der Hand zu seyn, da sein Herr immer sehr accurat gewesen, legt sich mit den Kleidern ins Bette.
Da nun Jerusalem allein war, scheint er alles zu der schrecklichen Handlung vorbereitet zu haben. Er hat seine Briefschaften alle zerrissen und unter den Schreibtisch geworfen, wie ich selbst gesehen. Er hat zwey Briefe, einen an seine Verwandte, den Andern an H... (=Herd, den Sekretär von Pfalzlautern, dessen Ehefrau er umworben hatte) geschrieben; man meint auch einen an den Gesandten Höffler, den dieser vielleicht unterdrückt. ... In dem zweyten hat er H... um Verzeihung gebeten, daß er die Ruhe und das Glück seiner Ehe gestört, und unter diesem theuren Paar Uneinigkeit gestiftet etc. Anfangs sey seine Neigung gegen seine Frau nur Tugend gewesen etc. In der Ewigkeit aber hoffe er ihr einen Kuß geben zu dürfen etc. Er soll drey Blätter groß gewesen seyn, und sich damit geschlossen haben: "Um l Uhr. In jenem Leben sehen wir uns wieder." (Vermuthlich hat er sich sogleich erschossen, da er diesen Brief geendigt.)
Diesen ungefähren Inhalt habe ich von jemand, dem der Gesandte Höffler ihn im Vertrauen gesagt, welcher daraus auf einen würklich strafbaren Umgang mit der Frau schliessen will. Allein bey H... war nicht viel erforderlich, um seine Ruhe zu stören und eine Uneinigkeit zu bewürken. Der Gesandte, deucht mich, sucht auch die Aufmerksamkeit ganz von sich, auf diese Liebesbegebenheit zu lenken, da der Verdruß von ihm wohl zugleich Jerusalem determinirt hat; zumal da der Gesandte verschiedentlich auf die Abberufung des Jerusalem angetragen, und ihm noch kürzlich starke reprochen vom Hofe verursacht haben soll. Hingegen hat der Erbprinz von Braunschweig, der ihm gewogen gewesen, vor Kurzem geschrieben, daß er sich hier noch ein wenig gedulden mögte, und wenn er Geld bedürfe, es ihm nur schreiben sollte, ohne sich an seinen Vater, den Herzog, zu wenden.
Nach diesen Vorbereitungen, etwa gegen l Uhr, hat er sich denn über das rechte Auge hinein durch den Kopf geschossen. Man findet die Kugel nirgends. Niemand im Hause hat den Schuß gehört; sondern der Franciskaner Pater Guardian, der auch den Blick vom Pulver gesehen, weil es aber stille geworden, nicht darauf geachtet hat. Der Bediente hatte die vorige Nacht wenig geschlafen und hat sein Zimmer weit hinten hinaus, wie auch die Leute im Haus, welche unten hinten hinaus schlafen.
Es scheint sitzend im Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch geschehen zu seyn. Der Stuhl hinten im Sitz war blutig, auch die Armlehnen. Darauf ist er vom Stuhle heruntergesunken, auf der Erde war noch viel Blut. Er muß sich auf der Erde in seinem Blute gewälzt haben; erst beym Stuhle war eine große Stelle von Blut; die Weste vorn ist auch blutig; er scheint auf dem Gesichte gelegen zu haben; dann ist er weiter, um den Stuhl herum, nach dem Fenster hin gekommen, wo wieder viel Blut gestanden, und er auf dem Rücken entkräftet gelegen hat. (Er war in völliger Kleidung, gestiefelt, im blauen Rock mit gelber Weste.)
Morgens vor 6 Uhr geht der Bediente zu seinem Herrn ins Zimmer, ihn zu wecken; das Licht war ausgebrannt, es war dunkel, er sieht Jerusalem auf der Erde liegen, bemerkt etwas Nasses, und meynt er möge sich übergeben haben; wird aber die Pistole auf der Erde, und darauf Blut gewahr, ruft: Mein Gott, Herr Assessor, was haben Sie angefangen; schüttelt ihn, er giebt keine Antwort, und röchelt nur noch. Er läuft zu Medicis und Wundärzten. Sie kommen, es war aber keine Rettung. Dr. Held erzählt mir, als er zu ihm gekommen, habe er auf der Erde gelegen, der Puls noch geschlagen; doch ohne Hülfe. Die Glieder alle wie gelähmt, weil das Gehirn lädirt, auch herausgetreten gewesen; Zum Ueberflusse habe er ihm eine Ader am Arm geöffnet, wobey er ihm den schlaffen Arm halten müssen, das Blut wäre doch noch gelaufen. Er habe nichts als Athem geholt, weil das Blut in der Lunge noch circulirt, und diese daher noch in Bewegung gewesen.
Das Gerücht von dieser Begebenheit verbreitete sich schnell; die ganze Stadt war in Schrecken und Aufruhr. Ich hörte es erst um 9 Uhr, meine Pistolen fielen mir ein, und ich weiß nicht, daß ich kurzens so sehr erschrocken bin. Ich zog mich an und gieng hin. Er war auf das Bette gelegt, die Stime bedeckt, sein Gesicht schon wie eines Todten, er rührte kein Glied mehr, nur die Lunge war noch in Bewegung, und röchelte fürchterlich, bald schwach, bald stärker, man erwartete sein Ende.
Von dem Wein hatte er nur ein Glas getrunken. Hin und wieder lagen Bücher und von seinen eignen schriftlichen Aufsätzen. Emilia Galotti lag auf einem Pult am Fenster aufgeschlagen; daneben ein Manuscript ohngefähr Fingerdick in Quart, philosophischen Inhalts, der erste Theil oder Brief war überschrieben: Von der Freyheit, es war darin von der moralischen Freyheit die Rede. Ich blätterte zwar darin, um zu sehen, ob der Inhalt auf seine letzte Handlung einen Bezug habe, fand es aber nicht; ich war aber so bewegt und consternirt, daß ich mich nichts daraus besinne, noch die Scene, welche von der Emilia Galotti aufgeschlagen war, weiß, ohngeachtet ich mit Fleiß darnach sah.
Gegen 12 Uhr starb er. Abends 3/4 11 Uhr ward er auf dem gewöhnlichen Kirchhof begraben, (ohne daß er seciret ist, weil man von dem Reichs-Marschall-Amte Eingriffe in die gesandtschaftlichen Rechte fürchtete) in der Stille mit 12 Lanternen und einigen Begleitern; Barbiergesellen haben ihn getragen; das Kreutz ward voraus getragen; kein Geistlicher hat ihn begleitet.
Es ist ganz ausserordentlich, was diese Begebenheit für einen Eindruck auf alle Gemüther gemacht. Leute, die ihn kaum einmahl gesehen, können sich noch nicht beruhigen; viele können seitdem noch nicht wieder ruhig schlafen; besonders Frauenzimmer nehmen großen Antheil an seinem Schicksal; er war gefällig gegen das Frauenzimmer, und seine Gestalt mag gefallen haben etc.
Goethe schickte diesen Bericht am 19. Januar 1773 an Sophie von La Roche, die nähere Auskünfte zu dem Selbstmord Jerusalems gewünscht hatte, und bemerkte dazu:
Von Jerusalems Todte schrieb ich nur das pragmatische Resultat meiner Reflecktionen, das war freylich nicht viel. Ich hoffte auf eine umständliche avtenthische Nachricht, die ich nun überschicken kann. Sie hat mich so offt innig gerührt als ich sie las, und das gewissenhaffte Detail der Erzählung nimmt ganz hin.
ende