Der erst in der zweiten Fassung eingeschobene Zusatz "Abends" wirkt etwas
unorganisch, da sich ein 'Tagebuch' als eigenständige Ebene zuvor
gar nicht feststellen lässt, vielmehr die meisten Dokumente eindeutig
Briefe an Wilhelm sind. Den Einschub beim Wort genommen, müsste man
fragen, warum aus dem offenbar erhaltenen Tagebuch so selten zitiert
wird. Eine Unterscheidung dieser Art hatte Goethe jedoch gar nicht
im Sinn. Es wird ihm bei der Neubearbeitung nur aufgefallen sein,
wie hellsichtig Werther seine Situation immer wieder beschreibt,
ohne jedoch für sein Verhalten irgendwelche Schlüsse daraus zu ziehen.
Das sollte mit der eingeschobenen selbstkritischen Beobachtung einmal
angesprochen und auf diese Weise wahrscheinlicher gemacht werden. -
Dass solche Wahrscheinlichkeits-Erwägungen den damaligen Lesern nicht
fremd waren, zeigt eine Äußerung Johann Jakob Bodmers in einem Brief
an Schinz vom 10.11.1774 : "Wie kann jemand, der immer so außer sich ist,
immer so über sich selbst Überlegungen machen." Das ist nichts
anderes als die Umkehr der per Tagebucheintrag nachgeschobenen Frage, wie
jemand immer so über sich nachdenken und zugleich
so unkontrolliert bleiben kann.