Sechstes Kapitel
Und wer beschreibt auch die Miene der neugeschaffenen Himmelskönigin? Die reinste Demut, das liebenswürdigste Gefühl von Bescheidenheit bei einer großen,
unverdient erhaltenden Ehre, einem unbegreiflich unermesslichen Glück bildete sich in ihren Zügen ...
Für eine ganze Anzahl von Deutungen kommt in der Mariendarstellung Ottilies Wesen am reinsten zur Geltung. Entsprechend ihrer andauernden Kennzeichnung als das gute, das liebe,
das schöne Kind wird ein anbetungswürdig unschuldiges Mädchen in ihr gesehen, sodass man sie nach ihrem Tod zu Recht
wie eine Heilige verehrt. Gewisse Züge irdischer Weiblichkeit, so wenn sie Eduard das Wort von der "
Flötendudelei"
hinterbringt oder dass sie überhaupt auf dessen Werbung sich einlässt, fallen nicht ins Gewicht, zumal sie ja ihre Abirrung vom rechten Weg bereut und mit dem
Lebensverzicht büßt.
Eine sozial ausgerichtete Variante dieser Hochschätzung findet sich bei Peter Suhrkamp. Für ihn zeichnet sich Ottilie dadurch aus, dass sie sich allen
Konventionen entzieht und ein ganz sich selbst bestimmender Mensch bleibt. Bei allen anderen sind "Denken, Wirklichkeit, Leidenschaft, sind alle ursprünglichen Mächte
von der Natur abgelöst, aus ihrem Boden genommen, naturfremd". Ottilie hingegen ist "lebendige Natur", ein ganz und gar aufrichtiges Wesen, das nur dem eigenen Inneren folgt.
Dass Suhrkamp seinen Aufsatz 1944 während seiner Gestapohaft verfasst hat, mag zu dieser Bewertung beigetragen haben.

Ähnlich urteilt in einer materialistisch-marxistischen Ausrichtung Hans Jürgen Geerdts. Er sieht in Ottilie einen Menschen, der "in der Form naturhafter, elementarer
Verbundenheit mit den Ursprüngen eines lebensnahen Seins alle für Goethe erstrangigen Quellen der humanistischen Erneuerung" hütet. Sie "löst auf ihre durchaus
originelle Art ein gutes Teil der sie umgebenden Widersprüche" und zögert auch nicht, zuletzt ihr Leben zu opfern zur Bewahrung "wahrhafter Freiheit ihrer
menschlichen und weiblichen Existenz". Worauf das hinausläuft, sieht man an Geerdts Bewertung der Zofe Nanny. Diese vertritt ihm "in ihrer unverbildeten und unkonventionellen
Lebensart" jene Volkskräfte, die "immer wieder neue Quellen zur Verjüngung und Entwicklung der Nation wie einzelner sie vertretender Persönlichkeiten öffnen".
Kein Werk der Klassik, dem man in der DDR nicht eine sozialistische Perspektive nachzurühmen wusste - und sei es auch nur, damit es im Literaturkanon verblieb.

Für Susanne Konrad ist Ottilie demgegenüber ein Doppelwesen. "Eine 'Einheit' ist Ottilie höchstens in der Projektion, denn als literarische Gestalt zerfällt sie
in unvereinbare Komponenten. In manchen Textstellen ist sie als weibliche Imago- und als Geniusgestalt konzipiert, in anderen als junge Frau, als Subjekt." An dem Subjekt Ottilie wird eine
"unterbrochene Persönlichkeitsentwicklung" wahrgenommen. Schon weil sie arm und elternlos ist, traut sie sich wenig zu, und ihre Rolle im Pensionat macht sie nicht selbstsicherer.
So fühlt sie sich durch die Werbung Eduards aufgewertet, kann aber nicht angemessen mit ihr umgehen. Charlotte, die sie wie ein Kind behandelt, tut nichts, sie aus der Abhängigkeit
von Eduard und ihr selbst herauszuführen. Zuletzt kann sie sich dem Loyalitätskonflikt nur durch den Tod entziehen.
Diese personale Seite wird mit idealischen Momenten verbunden. Ottilie erinnert an die heilige Odilia und an die Jungfrau Maria, Legendengestalten, die sie für Eduard von
vornherein unerreichbar erscheinen lassen, sodass sie auch eigentlich keine Gefahr für dessen Ehe sein kann. Ein idealischer Zug ist ferner Ottilies naturmagische Veranlagung, und nicht
zuletzt ist es ihre geistige Reife. Wenn man bedenkt, dass sie bei ihren Spaziergängen mit dem Kind nur triviale Romane liest, ist es schlicht unerklärlich, wie sie zu den
tiefsinnigen Weltbetrachtungen ihres Tagebuches kommt. Das Resultat dieser Verbindung ist jedenfalls ein ins Überirdische entrückter, anbetungswürdiger Mensch, eine
himmlische Geliebte.
Susanne Konrad verallgemeinert diesen Befund zu Goethes Weiblichkeitsvorstellung überhaupt. Das Weibliche, das Faust "hinanzieht", ist "das Andere, das Ewige, das Unerreichbare",
weshalb auch "Gestalten wie Ottilie eine lebendige Persönlichkeitsentwicklung versagt bleibt". Gepaart mit Anspruchslosigkeit und Demut besitzt die ideale Frau alles,
was sie perfekt macht, von Anfang an. Das bedeutet aber auch: "Dort, wo sich in ihnen [den Frauen] das eigene Ich zu melden beginnt, und diese Rollenzuschreibung in Frage
zu stellen droht, darf es nicht entfaltet werden. Darüber wird der Schleier des schönen Todes gebreitet, um die Ordnung zu bewahren, die Herrschaft des Mannes zu sichern
und vor allem die Idee von der 'Unvergänglichkeit' zu schützen." Der Leichnam Ottilies verwest auch nicht, sondern er bleibt anbetungswürdig erhalten.

Wenn man sieht, zu welchen Elogen der Bewunderung sich ein Großteil der Sekundärliteratur zu Ottilie hat hinreißen lassen - noch 2010 wird sie "ein Geschenk des
Dichters an die Menschheit" genannt -, kann man nicht zweifeln, dass dieses Weiblichkeitsideal weit verbreitet war oder ist.
Auch wenn sich nicht notwendig ein "Machtanspruch des Patriarchats" darin beweisen muss, ist es doch gut, sich an einer solchen abweichenden Bewertung das durch
und durch Illusionäre der Ottilien-Gestalt bewusst zu machen.