Neuntes Kapitel
Sie löste darauf die goldne Kette vom Halse, an der das Bild ihres Vaters gehangen hatte, und legte sie mit leiser Hand über die anderen Kleinode hin, worauf
Eduard mit einiger Hast veranstaltete, dass der wohlgefugte Deckel sogleich aufgestürzt und eingekittet wurde.
Dass am Ende von einem "zarten Schlüssel an dem goldnen Kettchen" die Rede ist, mit dem Ottilie ihren Saffiankoffer verschließen kann
(siehe
ZWEITER TEIL, ACHTZEHNTES KAPITEL), hat zu der unbegreiflichen Annahme
geführt, es müsse sich um eben die Kette handeln, an der sie das Medaillon getragen hat und die sie in den Grundstein legt. Das ist bereits sprachlich
unbegründet, da es der Formulierung nach ein Schlüssel mit Kettchen ist und nicht eine gesonderte Kette, wie sie für das größere und schwerere Medaillon
benutzt worden ist. Selbst wenn man aber zu dieser Vermutung kommen sollte, wäre doch immer nur ein Versehen anzunehmen und nichts weiter daraus zu folgern.
Nicht so Bernhard Buschendorf und nach ihm weitere Ausleger. Ihnen zufolge handelt es sich bei dem Kettchen tatsächlich um die in den Grundstein eingemauerte Kette. Das
Lustgebäude soll nämlich eingestürzt und die Kette wieder ans Licht gekommen sein. Allerdings war es kein Einsturz "im Sinne einer
realen Zerstörung", sondern nur dem einer "virtuellen Aufhebung: das, wofür das Lusthaus steht, also die irdische Liebe", werde mit der Wiederbenutzung der Kette
symbolisch in Frage gestellt. Wie Ottilie an die Kette gekommen ist, wird nicht erklärt.

Als ob das nicht schon absurd genug wäre, wird auch noch die reale Ursache des virtuellen Gebäudeverlustes dingfest gemacht: bei dem Bau ist gepfuscht worden! Drei
Bedingungen werden
für ein Gelingen des Werkes bei der Grundsteinlegung aufgeführt: die Wahl des richtigen Bauplatzes durch den Bauherren, eine solide Gründung und eine sorgfältige
Ausführung. Gegen alle drei Grundsätze werde bei diesem Bau verstoßen. Erstens habe den Bauplatz nicht Eduard, sondern Ottilie ausgesucht. Zweitens sei der Grundstein
kein richtiger Kubus, da er "
an einer Seite unterstützt" werden müsse, und auch das ganze Fundament sei
nicht richtig angelegt worden, denn man habe an einer Ecke den Grund "
herausgeschlagen". Zuletzt sei auch noch der
von Charlotte unter den Stein geworfene "Kalk" als Bindemittel ungeeignet. Der dritte Verstoß: das Haus werde nicht fertiggestellt. Als Eduard und der Major nach längerer
Abwesenheit zurückkehren, sei es noch immer nicht verputzt, denn sie sähen dessen "
rote Ziegeln" in der
Höhe blinken.

Es könnte unnötig erscheinen, diese Bewertung zu widerlegen, aber sie wird übernommen und zum Beweis dafür herangezogen, "dass dieser Neubau, der im Unterschied zu dem
ererbten alten Schloss mit hohen Erwartungen befrachtet ... wird, zum Einsturz verurteilt ist".

Tatsächlich stimmt daran nichts. Selbstverständlich hat auch hier der Bauherr - Eduard - über den Bauplatz entschieden. Ottilie hat lediglich einen Vorschlag
gemacht. Für die Forderungsreihe des Gesellen - und allein um sie geht es - ist das aber unerheblich. Der Bauherr mag so oder so zu seiner Entscheidung gekommen sein, das
einzig Wichtige ist, dass das Gebäude "
am rechten Fleck" steht. Aus der Sicht der Maurer sollte das vor allem den
zuverlässigen Untergrund meinen. Hier wird die gewünschte Wohnlage betont, weshalb Eduard und Ottilie es nicht wagen, "
bei
diesen Worten einander anzusehen". Doch Zweifel an Eduards Einstehen für diesen Bauplatz gibt es nicht. Die Eile, mit der der Bau dann vorangetrieben wird, ist nicht
zu übersehen - aber werden dabei Fehler gemacht? Als im nachfolgenden Frühjahr das Haus in Augenschein genommen wird, erweist es sich in kurzer Zeit als bewohnbar.

Keller und Küche wurden
schnell eingerichtet ... So wohnten die Frauenzimmer mit dem Kinde nun oben, und von diesem Aufenthalt, als von einem neuen Mittelpunkt, eröffneten sich ihnen
unerwartete Spaziergänge. Sie genossen vergnüglich in einer höheren Region der freien, frischen Luft bei dem schönsten Wetter.
Auch die 'roten Ziegel', die Eduard und der Major in der Höhe blinken sehen, sind kein Zeichen für Unfertigkeit - es sind die Dachziegel, die das Sonnenlicht
reflektieren. Selbst noch der beanstandete Sachverhalt, dass ein Geselle durch die ganze Zeremonie der Grundsteinlegung führt, ist nicht fragwürdig. Schon damals
überließen die Meister solche öffentlichen Auftritte samt des Risikos, sich dabei zu blamieren, gern einem redegewandten Jüngeren. Die abgeleitete
Folgerung, das "Lustgebäude" sei wegen seiner zweckfreien Planung und Bestimmung einsturzgefährdet, wird durch kein einziges Textmoment bestätigt. Vielmehr:
es bewährt sich. Andernfalls müsste man als Erstes ja wohl fragen, wer die Bauleitung gehabt hat. Das ist der Hauptmann. Doch wer weiß, was noch ans
Licht kommt, wenn er erst einmal als der Hauptverantwortliche für die behaupteten Versäumnisse ausgemacht ist.