Sechzehntes Kapitel
An meine Brust, Ottilie! Hieher, wo du manchmal geruht hast und wo du immer hingehörst!
Für die erste Lesergeneration war das ein eindeutiger Hinweis darauf, dass es zwischen Eduard und Ottilie auch zu einer sexuellen Beziehung gekommen ist, so wenig der Geschehensablauf des ersten Handlungsteiles dafür einen Anhaltspunkt bietet. Denn wenn der Abend des Feuerwerks als die Ankündigung einer solchen Beziehung aufgefasst werden kann (siehe unter
GESTALTUNG zum
FÜNFZEHNTEN KAPITEL), so reist Eduard doch schon am nächsten Tag aus dem Schloss ab. 'Manchmal' könnte also höchstens einmal sein. Dennoch ist diese Andeutung zumal für die frühen Leserinnen Anlass zu einer massiven Verurteilung Ottilies gewesen. Dass sie sich im Haus des verheirateten Eduard mit diesem auf eine solche Beziehung eingelassen hat, macht vielen von ihnen die ganze Aura von Edelsinn, mit der sie umgeben ist, unglaubhaft. Ob Goethe das "manchmal geruht" wirklich so weitgehend verstanden wissen wollte, muss offen bleiben.
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... dann drückte sie die flachen, in die Höhe gehobenen Hände zusammen, führte sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwärts neigte, und sah den
dringend Fordernden mit einem solchen Blick an, dass er von allem abzustehen genötigt war ...
Hier wird nahezu wörtlich aufgenommen, was im
FÜNFTEN KAPITEL der Gehilfe aus der Pension an Charlotte schreibt,
verbunden mit der Bitte, bei einer solchen Geste Ottilie auf keinen Fall weiter zu bedrängen.
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Eduard im tiefsten Kummer warf sich auf Ottiliens Schwelle, die er mit seinen Tränen benetzte. Jammervoller brachten kaum jemals in solcher
Nähe Liebende eine Nacht zu.
Das Pathetische dieser Formulierung hört sich heute so sehr nach Trivialliteratur an, dass es schwer fällt, in ihr noch etwas aufrichtig Gemeintes wahrzunehmen. Es ist dies
aber nicht das einzige Mal, dass Goethe für einen Moment höchster Anteilnahme zu einer solchen floskelhaften Großspurigkeit greift.
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Aber als er fragt, ob er sie zu Charlotten zurückführen dürfe, bejaht sie's ...
Was Ottilie veranlasst, die Reise in die Pension aufzugeben, wo sie doch gerade erfahren hat, in welche Not sie eine Begegnung mit Eduard bringt, ist nicht zu verstehen.
Alles soll eben auf das vorgesehene Ende zulaufen, auf die Wahrscheinlichkeit der Vorgänge wird nicht mehr so geachtet. Ohnehin entzieht sich Ottilies Verhalten
immer mehr der rationalen Erschließbarkeit, da kommt es auch auf ihre Gründe für diese Rückkehr nicht mehr an.