Brief der Vorsteherin
»Euer Gnaden werden verzeihen, wenn ich mich heute ganz kurz fasse! Denn ich habe nach vollendeter
öffentlicher Prüfung dessen, was wir im vergangenen Jahr an unsern Zöglingen geleistet haben,
an die sämtlichen Eltern und Vorgesetzten den Verlauf zu melden; auch darf ich wohl kurz sein, weil ich
mit Wenigem viel sagen kann. Ihre Fräulein Tochter hat sich in jedem Sinne als die Erste bewiesen.
Die beiliegenden Zeugnisse, ihr eigner Brief, der die Beschreibung der Preise enthält, die ihr geworden sind,
und zugleich das Vergnügen ausdrückt, das sie über ein so glückliches Gelingen empfindet,
wird Ihnen zur Beruhigung, ja zur Freude gereichen. Die meinige wird dadurch einigermaßen gemindert,
dass ich voraussehe, wir werden nicht lange mehr Ursache haben, ein so weit vorgeschrittenes Frauenzimmer
bei uns zurückzuhalten. Ich empfehle mich zu Gnaden und nehme mir die Freiheit, nächstens meine
Gedanken über das, was ich am vorteilhaftesten für sie halte, zu eröffnen. Von Ottilien
schreibt mein freundlicher Gehilfe.«
Brief des Gehilfen
»Von Ottilien lässt mich unsre ehrwürdige Vorsteherin schreiben, teils weil es ihr,
nach ihrer Art zu denken, peinlich wäre, dasjenige, was zu melden ist, zu melden, teils auch,
weil sie selbst einer Entschuldigung bedarf, die sie lieber mir in den Mund legen mag. Da ich nur
allzuwohl weiß, wie wenig die gute Ottilie das zu äußern imstande ist, was in ihr
liegt und was sie vermag, so war mir vor der öffentlichen Prüfung einigermaßen bange,
um so mehr, als überhaupt dabei keine Vorbereitung möglich ist, und auch, wenn es nach der
gewöhnlichen Weise sein könnte, Ottilie auf den Schein nicht vorzubereiten wäre. Der
Ausgang hat meine Sorge nur zu sehr gerechtfertigt; sie hat keinen Preis erhalten und ist auch unter
denen, die kein Zeugnis empfangen haben. Was soll ich viel sagen? Im Schreiben hatten andere kaum so
wohlgeformte Buchstaben, doch viel freiere Züge; im Rechnen waren alle schneller, und an
schwierige Aufgaben, welche sie besser löst, kam es bei der Untersuchung nicht. Im Französischen
überparlierten und überexponierten sie manche; in der Geschichte waren ihr Namen und
Jahrzahlen nicht gleich bei der Hand; bei der Geographie vermisste man Aufmerksamkeit auf die
politische Einleitung. Zum musikalischen Vortrag ihrer wenigen bescheidenen Melodien fand sich
weder Zeit noch Ruhe. Im Zeichnen hätte sie gewiss den Preis davongetragen; ihre Umrisse
waren rein und die Ausführung bei vieler Sorgfalt geistreich. Leider hatte sie etwas zu
Großes unternommen und war nicht fertig geworden.
Als die Schülerinnen abgetreten waren, die Prüfenden zusammen Rat hielten und uns Lehrern
wenigstens einiges Wort dabei gönnten, merkte ich wohl bald, dass von Ottilien gar nicht und,
wenn es geschah, wo nicht mit Missbilligung, doch mit Gleichgültigkeit gesprochen wurde.
Ich hoffte, durch eine offne Darstellung ihrer Art zu sein einige Gunst zu erregen, und wagte mich
daran mit doppeltem Eifer, einmal, weil ich nach meiner Überzeugung sprechen konnte, und sodann,
weil ich mich in jüngeren Jahren in eben demselben traurigen Fall befunden hatte. Man hörte
mich mit Aufmerksamkeit an; doch als ich geendigt hatte, sagte mir der vorsitzende Prüfende
zwar freundlich, aber lakonisch: ›Fähigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertigkeiten
werden. Dies ist der Zweck aller Erziehung, dies ist die laute, deutliche Absicht der Eltern
und Vorgesetzten, die stille, nur halb bewusste der Kinder selbst. Dies ist auch der Gegenstand
der Prüfung, wobei zugleich Lehrer und Schüler beurteilt werden. Aus dem, was wir von
Ihnen vernehmen, schöpfen wir gute Hoffnung von dem Kinde, und Sie sind allerdings
lobenswürdig, indem Sie auf die Fähigkeiten der Schülerinnen genau Acht geben.
Verwandeln Sie solche übers Jahr in Fertigkeiten, so wird es Ihnen und Ihrer begünstigten
Schülerin nicht an Beifall mangeln.‹
In das, was hierauf folgte, hatte ich mich schon ergeben, aber ein noch Übleres nicht befürchtet,
das sich bald darauf zutrug. Unsere gute Vorsteherin, die wie ein guter Hirte auch nicht eins von ihren
Schäfchen verloren oder, wie es hier der Fall war, ungeschmückt sehen möchte, konnte,
nachdem die Herren sich entfernt hatten, ihren Unwillen nicht bergen und sagte zu Ottilien, die ganz
ruhig, indem die andern sich über ihre Preise freuten, am Fenster stand: ›Aber sagen Sie mir, um's
Himmels willen! Wie kann man so dumm aussehen, wenn man es nicht ist?‹ Ottilie versetzte ganz gelassen:
›Verzeihen Sie, liebe Mutter, ich habe gerade heute wieder mein Kopfweh, und ziemlich stark.‹
›Das kann niemand wissen!‹, versetzte die sonst so teilnehmende Frau und kehrte sich
verdrießlich um.
Nun es ist wahr: niemand kann es wissen; denn Ottilie verändert das Gesicht nicht, und ich
habe auch nicht gesehen, dass sie einmal die Hand nach dem Schlafe zu bewegt hätte.
Das war noch nicht alles. Ihre Fräulein Tochter, gnädige Frau, sonst lebhaft und freimütig,
war im Gefühl ihres heutigen Triumphs ausgelassen und übermütig. Sie sprang mit ihren
Preisen und Zeugnissen in den Zimmern herum und schüttelte sie auch Ottilien vor dem Gesicht.
›Du bist heute schlecht gefahren!‹, rief sie aus. Ganz gelassen antwortete Ottilie: ›Es ist noch
nicht der letzte Prüfungstag.‹ ›Und doch wirst du immer die Letzte bleiben!‹, rief das
Fräulein und sprang hinweg.
Ottilie schien gelassen für jeden andern, nur nicht für mich. Eine innere, unangenehme, lebhafte
Bewegung, der sie widersteht, zeigt sich durch eine ungleiche Farbe des Gesichts. Die linke Wange wird
auf einen Augenblick rot, indem die rechte bleich wird. Ich sah dies Zeichen, und meine Teilnehmung
konnte sich nicht zurückhalten. Ich führte unsre Vorsteherin beiseite, sprach ernsthaft mit
ihr über die Sache. Die treffliche Frau erkannte ihren Fehler. Wir berieten, wir besprachen uns
lange, und ohne deshalb weitläufiger zu sein, will ich Euer Gnaden unsern Beschluss und unsre
Bitte vortragen: Ottilien auf einige Zeit zu sich zu nehmen. Die Gründe werden Sie sich selbst
am besten entfalten. Bestimmen Sie sich hiezu, so sage ich mehr über die Behandlung des guten
Kindes. Verlässt uns dann Ihre Fräulein Tochter, wie zu vermuten steht, so sehen wir
Ottilien mit Freuden zurückkehren.
Noch eins, das ich vielleicht in der Folge vergessen könnte: ich habe nie gesehen, dass Ottilie
etwas verlangt oder gar um etwas dringend gebeten hätte. Dagegen kommen Fälle, wiewohl
selten, dass sie etwas abzulehnen sucht, was man von ihr fordert. Sie tut das mit einer Gebärde,
die für den, der den Sinn davon gefasst hat, unwiderstehlich ist. Sie drückt die flachen
Hände, die sie in die Höhe hebt, zusammen und führt sie gegen die Brust, indem sie sich
nur wenig vorwärts neigt und den dringend Fordernden mit einem solchen Blick ansieht, dass er
gern von allem absteht, was er verlangen oder wünschen möchte. Sehen Sie jemals diese
Gebärde, gnädige Frau, wie es bei Ihrer Behandlung nicht wahrscheinlich ist, so gedenken
Sie meiner und schonen Ottilien.«